11.05.2023

Brief aus Moskau

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Brief aus Moskau

von Iwan Perechodnyj

Friedensdenkmal am Nowodewitschi-Kloster-Platz DARYA FEDOTOVA
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Ich schreibe diesen Text am Vorabend des orthodoxen Osterfestes. Am Gründonnerstag, so heißt es wohl. Die Natur in Moskau, einer durchaus nördlichen Stadt, weitaus nördlicher, als es beim Blick auf ihre geografische Lage den Anschein hat, blüht nach der Winterstarre allmählich auf. Die Menschen blicken ungläubig auf die Verheißung ­neuen Lebens.

Denn zugleich erscheinen auch neue Triebe, die den Tod in sich tragen – den alltäglichen Tod, den in Aussicht gestellten, den angekündigten oder nur vage angedeuteten. Dabei könnte es deutlicher gar nicht sein: Wir alle werden sterben (außer jenen, die durchhalten bis zur Unsterblichkeit, im biologischen oder elektronischen Körper, das wird dann nebensächlich).

Es ist aber so, dass den Menschen das Vertrauen abhandengekommen ist. Sie wurden so lange belogen, dass sie ihren eigenen Augen nicht mehr trauen. Die einen glauben erst an das Keimen neuen Lebens, wenn es ihnen das Fernsehen bestätigt: Ja, das Samenkorn geht auf und die Ähren werden reifen. Andere glauben erst daran, wenn im Fernsehen das Gegenteil behauptet wird: Dass es keinen Frühling geben, dass kein Grün sprießen wird und dass das Gesetz über den Eintritt der Apokalypse von beiden Parlamentskammern abgenickt wurde und nur noch auf die Unterschrift des Präsidenten wartet.

Im Altrussischen Reich, der Großen Rus, hieß der Gründonnerstag „sauberer Donnerstag“. Auf dem Dorf war es üblich, an diesem Tag ins Bad zu gehen. Sozusagen außer der Reihe, denn für gewöhnlich war am Samstag Badetag. Am Tag zuvor wurde im Netz das berüchtigte Video verbreitet, auf dem zu sehen ist, wie russische Soldaten – reguläre Streitkräfte oder Paramilitärs – einem ukrainischen Gefangenen, der gerade noch einen Schmerzensschrei ausstoßen kann, den Kopf abschneiden. Man möchte sich wirklich am ganzen Körper waschen.

Schon lange sehe ich kein russisches Fernsehen mehr, aber dort hätten sie so etwas ohnehin nicht gezeigt. Ukrai­nisches sehe ich auch nicht. Dieses Video aber wurde auf allen unabhängigen Telegram-Kanälen geteilt. Aus einigen wurde es schnell wieder gelöscht, aber es blieb präsent, weil es immer wieder repostet wurde.

Schaut euch dieses Video nicht an, es vernichtet euren Glauben an die Menschheit, falls euch noch ein Rest davon geblieben ist. Man kann ihm allerdings nicht ausweichen, wenn man der Realität ins Gesicht sehen will.

Es ist schwer, auf solche Nachrichten gelassen zu reagieren, aber es gab in den letzten vierzehn Monaten so viele davon, dass die Reaktion abflacht. Für mich fühlt es sich an wie ein dumpfer Schmerz.

Die meisten Russen gehen solchen Nachrichten aus dem Weg, lassen sie einfach nicht an sich heran. Allerdings könnte ich nicht für andere meine Hand ins Feuer legen. Seit der Krieg begonnen hat, ist es äußerst schwierig geworden, sich mit Leuten zu unterhalten: Du hast Angst, sie haben Angst. Sie können dich jederzeit denunzieren, und du kennst die Konsequenzen: zwei bis vier Wochen Kurzhaft, eine hohe Geldstrafe, schlimmstenfalls sogar einige Jahre Gefängnis.

Nach wie vor lässt mich überhaupt nicht kalt, was im Hier und Jetzt passiert. Auch die Proteste nach der Wahlfälschung 2011 ließen mich nicht kalt, nicht die jugendliche Protestwelle zwischen 2017 und 2019 und nicht die letzten großen landesweiten Straßendemonstrationen vom Januar 2021. Aber jetzt, im Moskauer Frühling 2023, bin ich mehr Beobachter als Handelnder.

Und genau wie ich verhalten sich viele meiner Bekannten und die Bekannten meiner Bekannten. Viele Blogs und Telegram-Kanäle wurden eingestellt, egal ob für Lyrik oder Fan-Gruppen, Sportkanäle schweigen ebenso wie solche für Numismatik und die Geschichte der Eisenbahn.

Politische Journalisten sind, sofern sie sich nicht dem Regime angedient haben, ebenfalls verstummt – mit Ausnahme derer, die das Land verlassen oder zu ganz anderen Inhalten, zu anderen Seiten der Realität übergegangen sind. Um es noch deutlicher zu sagen: Die Leute versuchen die Realität als solche zu verändern. Damit meine ich keine politischen Bewegungen. Ich meine die Emigration in andere Länder, die innere Emigration – im Land bleibend, aber hauptsächlich im eigenen Kopf –, den Eskapismus.

Viele Moskauer und andere Bewohner Russlands haben sich vor über einem Jahr mental in andere Welten begeben, meistens in die Vergangenheit; manche haben diesen Schritt auch schon vor vielen Jahren vollzogen. Ich bevorzuge die Zukunft und habe wieder angefangen, Science-Fiction zu lesen wie in meiner Kindheit. Aber es ist mühsam, sowohl das Lesen als auch das Schreiben.

Wie dem auch sei, ich brauche eine Erklärung. Was genau ist eigentlich geschehen?

Am 24. Februar 2022, als der Krieg gegen die Ukraine begann, gingen Menschen in vielen Regionen Russlands zu spontanen Protestkundgebungen auf die Straße. Viele wurden von der Polizei misshandelt und festgenommen. Schon Anfang März letzten Jahres wurden neue repressive Gesetze verabschiedet, die unter Androhung drakonischer Gefängnisstrafen der Presse und gewöhnlichen Bürgern den Mund verbieten.

Und ja, diese Maßnahmen haben ihre Wirkung nicht verfehlt: Die politische Presse hat das Land verlassen, politisch engagierte Bürger haben sich in ihren Wohnungen verbarrikadiert und halten mit ihrer Meinung nicht nur auf der Straße zurück, sondern auch im Internet. Zu denen, die auf diese Weise versteckt leben, gehöre auch ich.

Warum? Man kann getrost sagen, dass mir und den anderen, die schweigen, der Mumm fehlt. Man kann auch sagen: Masochismus liegt uns fern.

Es ist nun schon mehr als ein Jahr, dass ein Krieg nicht als Krieg, Aggression, Angriff und so weiter bezeichnet werden darf, erlaubt ist nur der Begriff „spezielle Militäroperation“. Verboten ist die Veröffentlichung oder schlichtweg das Teilen von Meldungen über den Krieg in den sozialen Medien, wenn deren Inhalte von den offiziellen Berichten des russischen Verteidigungsministeriums abweichen.

Nicht einmal eine einzelne Person darf mit einem Plakat „Nein zum Krieg!“ auf die Straße gehen. Verboten sind auch Schilder, auf denen die Worte durch Sternchen ersetzt sind: „*** *** *****!“ Selbst das Zeigen eines leeren weißen Papiers zieht eine Geldbuße nach sich – in Höhe eines Moskauer Monatslohns oder zwei bis drei in der Provinz.

Jederzeit kann es zu einem Strafverfahren kommen. Die Grenzen zwischen einer Ordnungswidrigkeit und einer Straftat sind extrem unscharf, Gesetzestexte sind extra schwammig formuliert – vermutlich mit der verborgenen Absicht, noch mehr abschreckende Wirkung zu erzielen. Du weißt nie, was auf dich zukommt, welches Maß sie anlegen werden, wenn du dich entschließt, den Kopf zu erheben, die Stimme zu erheben. Du kannst mit einer Geldbuße davonkommen oder für lange Zeit ins Gefängnis gehen.

Wer nicht sofort begreift und weiterhin aus der Reihe tanzt, wird immer wieder daran erinnert, was ihm blühen kann.

Willst du eine Lesung mit jungen Dichtern besuchen, erkundige dich zuvor, ob bei der Lesung oder im Nebenzimmer womöglich Geld für politische Gefangene gesammelt wird.

Geht es um eine Ausstellung, überprüfe, ob die ausgestellten Künstlerinnen und Künstler vom Staat verfolgt werden. Wenn du Karten für ein Punk-Konzert kaufen willst, überlege, was der Frontmann der Band über den Krieg in der Ukraine von sich gegeben hat.

Da vor dem Krieg all das – Kunst mit sozialen und politischen Aussagen – meine Leidenschaft war, gehörte ich automatisch zu einer Risikogruppe. Zu einer Ausstellung feministischer Künstlerinnen, bei der auch Arbeiten von Julia Zwetkowa gezeigt wurden, gegen die damals Ermittlungen liefen, habe ich es gerade noch geschafft, bevor am nächsten Tag die Polizei auftauchte und alle Objekte beschlagnahmte. Für Punk-Konzerte reicht mein Geld nicht mehr. Im Übrigen haben viele Punk-Musiker und Künstler, die dieser widerspenstigen jungen Szene Stimme und Gestalt gaben, in den letzten vierzehn Monaten Russland verlassen. Gleiches gilt für konventionelle künstlerische Kreise und die schreibende Zunft.

Die jüngsten Statistiken zeigen es unerbittlich: Die Zahl der Buchveröffentlichungen ist in diesem Zeitraum zurückgegangen. Die Liebe zur Literatur führt durchaus nicht immer zu Eskapismus, manchmal sorgt sie sogar für eine harte Konfrontation mit der Realität. Ich selbst habe mit meiner Neigung zur Lyrik ins Schwarze getroffen: Ich habe es geschafft, bei einer eigentlich als Lesung geplanten Veranstaltung vier Stunden mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden zu liegen und dann noch einmal vier Stunden im Polizeitransporter und auf der Wache zu verbringen.

Eine Versammlung junger Dichter und Dichterinnen samt Publikum wurde von Bewaffneten ohne Namen, ohne Gesicht und ohne Abzeichen als gefährliche Gruppe betrachtet. Soweit man weiß, gehörten die Bewaffneten dem zweiten operativen Regiment der Moskauer Polizei und dem Zentrum für Extremismusbekämpfung an. Der Grund war offensichtlich: Im Vorfeld war angekündigt, dass der Erlös aus dem Verkauf von Büchern und veganen Speisen an politische Gefangene gehen soll.

Nach dieser Erfahrung habe ich mir ein neues Telefon zugelegt, Moskau für kurze Zeit verlassen, und, ja, seither lese ich Hinweise auf kulturelle Veranstaltungen mit der gebührenden Aufmerksamkeit.

Inzwischen bin ich wieder hier, in dieser großen Stadt, wo das Grün anfängt zu sprießen. Ich plane nicht mehr als fünf oder sechs Tage im Voraus, mehr ist unter den gegebenen Umständen nicht drin. Und ganz bestimmt kann ich nicht vorhersagen, wann der Geduldsfaden des russischen Volkes reißt und der Aufstand gegen dieses Regime beginnen wird.

Es liegt in der Natur der Russen, sich zu drücken (aber sich darüber im Klaren zu sein, was, warum und wie man sich drückt), zu schweigen, wegzulaufen, sich zu verstecken, im Verborgenen zu bleiben. So geht das schon seit über tausend Jahren, seit die Fürstin Olga in einem brutalen Racheakt unzählige Dörfer aufständischer slawischer Siedler dem Erdboden gleichmachen ließ und auch tausende friedlicher Menschen mit umbringen ließ. (Zehn Jahre später bekannte sie sich als Erste in der Rus zum Christentum und hat auf diese Weise vermutlich Buße getan für ihre Sünden – die Reichen und Herrschenden wussten sich immer aus der Affäre zu ziehen.) Revoltieren? Nein, dazu kam es nur im äußersten Fall – ein- oder zweimal pro Jahrhundert, oder auch nur einmal in zwei bis drei Jahrhunderten.

Überleben um jeden Preis – dieses Programm wird in schwierigen Zeiten ganz automatisch aktiviert. Nun sehen wir, dass es wieder einmal funk­tio­niert: Vor der Mobilmachung bringen sich die Leute im Ausland in Sicherheit, verstecken sich in schwer zugänglichen Wäldern und unbewohnten Dörfern, kaufen sich mit gefälschten Gesundheitszeugnissen ihre Wehruntauglichkeit. Deshalb weichen auch sie den Nachrichten aus – um nicht dem Wahnsinn zu verfallen (auch wenn das gegen ihr Gewissen geht, aber leichter zu ertragen ist als tödliche Depression), letztendlich also um zu überleben.

Diese um jeden Preis Überlebenden werden Putin zu Grabe tragen, wenn er eines natürlichen oder eines wie auch immer gearteten unnatürlichen Todes stirbt. Auf diesen historischen Tag wartet das ganze Land.

Aus dem Russischen von Vera Peregudova

Iwan Perechodnyj ist Schriftsteller in Moskau. Seit 2022 sieht er sich gezwungen, unter Pseudonym zu veröffentlichen.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.05.2023, von Iwan Perechodnyj