12.01.2023

Die Abschaffung des Fiebers

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Die Abschaffung des Fiebers

von Martine Bulard

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Xi Jinping hat eine Kehrtwende vollzogen, wie sie nur in der Volksrepublik China möglich ist. Am 7. Dezember 2022 zog der Präsident einen Schlussstrich unter seine Null-Covid-Politik. In weniger als 48 Stunden verschwanden die Blockaden, mit denen Stadtviertel oder ganze Städte abgeriegelt worden waren, die PCR-Testkabinen und Checkpoints wurden abgebaut, die Fiebermessgeräte an den Eingängen öffentlicher Gebäude ausgeschaltet und die obligatorischen QR-Code-Apps auf den Smartphones gelöscht.

Doch das alte Leben kehrte nicht zurück. Die Menschen isolieren sich jetzt selbst. Nur in den Apotheken und Notaufnahmen brummt es. Besonders begehrt ist Paracetamol, das in kürzester Zeit ausverkauft war. Während des Lockdowns durfte das fiebersenkende Medikament offiziell nicht verkauft werden, um die Temperaturkontrollen nicht zu verfälschen. Mangelware sind auch Arzneien der traditionellen chinesischen Medizin, deren Preise durch die Decke gehen. Die Produktion läuft auf Hochtouren, doch der Vertrieb stockt.

In der Hauptstadt sind infolge der Kälte viele an Grippe erkrankt, zusätzlich breitet sich die Omikron-Variante in rasendem Tempo aus. Nach drei langen Jahren unter strengster Kon­trol­le heißt nun die Losung „Jeder ist für seine Gesundheit selbst verantwortlich.“ Das macht vielen Angst.

Wird es eine Million Tote geben? Oder gar zwei? Das befürchten Experten, die für ihre Hochrechnung von der hohen Sterberate in Hongkong vom März 2022 ausgehen. Nachdem die Gesundheitsämter diese Zahlen zunächst verbreitet hatten, um die verschärften Lockdowns nachträglich zu rechtfertigen, erklären sie nun, dass die Situation nicht vergleichbar sei: In Hongkong seien damals erst 20 Prozent der Menschen über 60 geimpft gewesen, gegenüber 68,9 Prozent auf dem Festland. Ein Massensterben unter den in China verehrten Alten könnte für Xi und die KPCh politisch gefährlich werden.

Das Chaos nach dem Null-Covid-Ausstieg ist nicht so verwunderlich, wenn man sich die Fakten anschaut: Erstens gab es in China keinerlei Impfpflicht. Die Jungen hatten aber Vorrang, weil sie arbeiten und deutlich mehr soziale Kontakte haben als die Älteren. Dass in China nur 40 Prozent der über 80-Jährigen geimpft sind, hat allerdings noch einen weiteren Grund. Die Alten misstrauen der konventionellen Medizin und vor allem der einheimischen Pharmaindustrie, die in den letzten Jahrzehnten durch Skandale in Verruf geraten ist.

Zweitens wurde das Gesundheitssystem zwar modernisiert, aber es ist fraglich, ob es dieser extremen Notlage gewachsen ist. Die Anzahl der Intensivbetten soll auf 10 pro 100 000 Einwohner verdoppelt werden, und man will beim Pflegepersonal aufstocken. Und Pavloxid, das Anti-Covid-Medikament des US-Pharmariesen Pfizer, wurde zwar schon vor Monaten zugelassen, ist aber schwer zu bekommen.

Drittens kam die Null-Covid-Politik mit ihren großflächigen Lockdowns an ihre Grenzen, als sich die sehr viel ansteckendere, aber weniger tödliche Omikron-Variante ausbreitete. Die Zahl der „falsch Positiven“ bei der täglichen Testpflicht explodierte. Mehr als 250 neue Firmen, zum Teil sogar an der Börse notiert, wurden daraufhin bestraft, weil sie um des Profits willen billige, mangelhafte Tests verkauft hatten. Während viele Arbeitnehmer:innen, kleine Firmen und Händler durch die Lockdowns in den finanziellen Ruin getrieben wurden, haben sich diese Hersteller eine goldene Nase verdient.

Die Hygienevorschriften, die man hingenommen hatte, als es darum ging, Menschenleben zu retten, wurden immer unerträglicher. In den sozialen Medien wuchs die Auflehnung gegen die berüchtigten „Männer in Weiß“, die die Maßnahmen durchsetzen mussten (siehe den nebenstehenden Kasten). Als nach dem Ende des 20. Parteitags der KPCh am 22. Oktober nicht wie erwartet die große Öffnung folgte, wuchsen die Enttäuschung und die Wut. Zumal der Präsident selbst schon wieder ins Ausland reiste und bei internationalen Treffen die Maske abnahm!

Am 11. November wurden die Maßnahmen gelockert, allerdings zu wenig und zu langsam. Die Anweisungen waren unklar und sorgten bei den Behörden für Verwirrung. Sie hatten Angst, gegen die Vorgaben zu verstoßen – oder auch ein finanzielles Interesse am Status quo.

Nach dem tödlichen Brand in einem abgesperrten Wohnhaus in Urumqi am 24. November kam es zu landesweiten Demonstrationen. Die Menschen hielten zum Protest unbeschriebene weiße Blätter in die Höhe, das Symbol der Zensur; wenige forderten auch den Rücktritt des Präsidenten.

Manche Kom­men­ta­to­r:in­nen sahen darin schon die Vorzeichen für ein neues Tiananmen, die 1989 zerschlagene Demokratiebewegung. Doch die Proteste sind nicht vergleichbar. Die Menschen der Mittelschicht, die diesmal auf die Straße gingen, wollen das System nicht stürzen, das für sie Komfort und Sicherheit bedeutet.

Wie so oft hat die Staatsmacht zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Sie hat diejenigen bestraft, die sie für die Anführer hielt, und die Universitätsferien vorgezogen; und sie hat die Erwartungen der Straße erfüllt, indem sie ihre Null-Covid-Politik beendet hat. Mindestens ebenso viel Gewicht wie die Demonstrationen hatte der Druck vonseiten der Unternehmen, die eine Rezession fürchten. Auf der Pekinger Jahreskonferenz für Wirtschaftspolitik wurden im November eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, um die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Doch wie gewinnt man das massiv beschädigte Ver­trauen der Bevölkerung zurück?⇥Martine Bulard

Le Monde diplomatique vom 12.01.2023, von Martine Bulard