Nirwana der Narzissten
von Pierre Rimbert
Zunächst war alles gut. Doch dann tat Elon Musk, der für 44 Milliarden Dollar Twitter gekauft hatte, etwas Unverzeihliches: Am 15. Dezember 2022, dem „Bloody Thursday“, sperrte er zeitweise die Konten von neun US-amerikanischen Journalisten mit der Begründung, sie hätten die Echtzeit-Standortdaten des Milliardärs verbreitet, was die Betroffenen abstreiten.
Der Sprecher des UN-Generalsekretärs protestierte, die Vizepräsidentin der EU-Kommission sprach von Zensur und drohte mit Sanktionen, der französische Industrieminister verkündete, „bis auf Weiteres alle Aktivitäten auf Twitter einzustellen“ (man stelle sich Musks Entsetzen vor), und das Auswärtige Amt in Berlin teilte mit, Pressefreiheit dürfe nicht „nach Belieben ein- und ausgeschaltet werden“.
Auf Twitter tobten Journalisten und Moralisten gleichermaßen. Die Enttäuschung war gewaltig: Tausende Stunden hatten sie vor ihrem kleinen Display die Klingen gekreuzt, auf Reaktionen gelauert, die ihre bahnbrechenden 280-Zeichen-Ergüsse auslösen würden, Lektionen erteilt und erhalten. Dieser Raum, in dem man redet und von sich reden macht, das war die echte Demokratie! In der Annahme, sie zu stärken, erzeugten sie Mehrwert für die Twitter-Aktionäre und seinen netten früheren Chef Jack Dorsey, einen libertären Milliardär mit Spitzbart und Hippie-Allüren. Dass die sozialen Netze in Privatbesitz sind, empfanden sie nie als Problem.
Auch nicht die Zensur. Kein Würdenträger der „freien Welt“ hat gezuckt, als Twitter im Oktober 2020 den Account der New York Postsperrte. Das Blatt hatte korrekte Informationen über die Dummheiten von Hunter Biden, den Sohn von Präsidentschaftskandidat Joe Biden, veröffentlicht – Desinformation der Russen, behauptete die New York Times damals. Die Enthüllungen des Journalisten Matt Taibbi über die Zensurpolitik von Twitter hat die progressive Twittosphäre ebenso wenig in Aufregung versetzt wie das Verbot der russischen Kanäle RT und Sputnik durch die EU Anfang März. Die Meinungsfreiheit ist ein zu kostbares Gut, um es mit unseren Gegnern zu teilen, nicht wahr?
Musk hat nicht nur Twitter, das Nirwana der Narzissten, ruiniert und diskreditiert, sondern auch die Heuchelei all derer offenbart, die Twitter angebetet hatten. Der „Bloody Thursday“ hat zwei eng verwandte und gleichermaßen einfältige Vorstellungen von „Meinungsfreiheit“ offenbart: die von Chefs wie Musk, die darin besteht, die Kritiker zu zensieren, indem man die Medien kauft; und die von progressiven wie reaktionären Tugendwächtern, die der Zensur applaudieren, solange sie ihre Gegner trifft.
Unterdessen wird Julian Assange, ein Dissident der westlichen Welt, seit mehr als zehn Jahren seiner Freiheit beraubt. Schuldig, US-Kriegsverbrechen im Irak öffentlich gemacht zu haben, sitzt er in einem Hochsicherheitsgefängnis in London und wartet auf seine Auslieferung in die USA. Seine Gesundheit hat sich dramatisch verschlechtert. Assanges Leidensweg lässt die meisten kalt, denn die Meinungsfreiheit stirbt anderswo: nämlich dort, wo Musk 18 Stunden lang die Twitter-Konten von neun Journalisten sperrt.⇥Pierre Rimbert