Sie gegen uns
von Pierre Rimbert
Als Russland am 24. Februar in die Ukraine einmarschierte, trafen die politisch Verantwortlichen im Westen eine wichtige Entscheidung. Statt auf eine militärische Invasion zu reagieren, die einen Verstoß gegen die UN-Charta darstellte und das Recht auf territoriale Integrität eines ihrer Mitglieder verletzte, bliesen sie den Vorgang zum unüberwindlichen Konflikt zweier Kulturen auf. Damit nahmen sie Wladimir Putins These vom „kollektiven Westen“ auf und wandten sie gegen Russland.
Von der liberalen Presse wurde dieser Ton schnell übernommen: Auf der einen Seite standen angeblich ein despotisches Regime und eine Volksmasse, die im Laufe der Geschichte gelernt hatte, nur auf die harte Hand zu reagieren, und auf der anderen Seite die offenen Demokratien, von deren Vitalität, Fortschrittlichkeit und Mut der ukrainische Widerstand Zeugnis ablegte. Sie gegen uns. Die Bösen gegen die Guten. „Es ist eindeutig ein Krieg der Autoritären gegen die Demokratien“, sagte Nathalie Loiseau, EU-Abgeordnete der Macron-Partei Renaissance, am 13. September.
1991 hatte der Journalist Charles Villeneuve vom TV-Sender TF1 die Intervention der Alliierten am Golf in der scharfsinnigen Formulierung zusammengefasst: „Es ist der Krieg der zivilisierten Welt gegen die Araber.“ Heute geht es für France Inter um einen Krieg der zivilisierten Welt gegen die Russen. Am 30. August empfing die Moderatorin des Morgenmagazins, Léa Salamé, den Schauspieler Gilles Lellouche zu einem Gespräch über dessen Spielfilm „Kompromat“.
„Mir hat am besten gefallen“, erklärte Salamé, „dass dieser Film die russische Seele zeigt, die russische Gesellschaft und vor allem die Unterschiede, den kulturellen Graben zwischen uns Menschen im Westen und ihnen. An einer Stelle sagt ein russischer Geheimdienstler:,Ihr könnt euch nicht vorstellen, wir sehr wir euch verachten, euch Westler, eure Dekadenz und Sittenlosigkeit. Ihr seid Feiglinge, ihr seid Schwächlinge, und wir werden euch zermalmen.' Sehen uns die Russen wirklich so?“
Vielleicht ging Lellouche durch den Kopf, was für einen Aufschrei diese feinsinnige Analyse ausgelöst hätte, wenn ihr Gegenstand nicht die Russen gewesen wären, sondern ein Volk in Afrika oder im Nahen Osten, jedenfalls dämpfte er den Eifer der Journalistin: „Nun, man darf auch nicht verallgemeinern. Nicht alle Russen sind so.“
Die Überzeugung, einen Krieg der Kulturen zu führen, ist auch an der Spitze der europäischen Diplomatie zu finden. Am 13. Oktober teilte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell bei einer Rede in Brügge seine Sichtweise mit: „Europa ist ein Garten. Wir haben einen Garten geschaffen. Alles funktioniert.“ Doch verglichen mit diesem Garten Eden sei „der Rest der Welt größtenteils ein Dschungel, und der Dschungel könnte in den Garten vordringen“. Folglich müssten „die Gärtner in den Dschungel gehen. Sonst wird der Rest der Welt bei uns einfallen, auf verschiedene Weise und mit verschiedenen Mitteln.“
Die Wilden müssen sich auf einiges gefasst machen.
Pierre Rimbert