Brief aus der Drôme
von Fernanda Eberstadt
Es mag seltsam erscheinen, sich damit zu brüsten, wie alt das Wasser ist, das man täglich nutzt. Als wir vor 18 Jahren in die nördliche Drôme zogen, erzählte uns der Mann vom Wasseramt, dass das Trinkwasser, das hier aus dem Hahn kommt, vor 12 000 Jahren entstanden ist, als die Gletscher am Ende der letzten Eiszeit schmolzen. Es war klar, erfrischend und im Überfluss vorhanden.
Regelmäßige Niederschläge und die Schneeschmelze in den Alpen sind einer der Gründe, warum das Ackerland im Département Drôme im Südosten Frankreichs so fruchtbar ist. In unserem ersten Herbst legten wir einen Permakultur-Garten an. Apfelbäume, Johannisbeersträucher, Melonen und 20 verschiedene Tomatensorten sollten hier – bewässert mit Brunnenwasser – in friedlicher Koexistenz mit Schnecken, Wühlmäusen und Regenwürmern wachsen. Doch jetzt versiegen in der nördlichen Drôme die Brunnen. Die Quellen und Flüsse trocknen aus. Das letzte Mal geschneit hat es während eines Schneesturms im November 2019, der in der gesamten Region Platanen und Strommasten umwarf.
An unserem Grundstück fließt die Herbasse vorbei, ein Nebenarm der Isère. Adrien Guionnet arbeitet als Techniker für die lokale Flussmanagementbehörde. „Die Herbasse hat ein Einzugsgebiet von 200 Quadratkilometern“, erzählte er mir. „Normalerweise füllt sie sich dank der winterlichen Regen- und Schneefälle, aber mehrere Dürrejahre in Folge haben ihr zugesetzt. Dieses Jahr war sie auf 20 Kilometer Länge komplett ausgetrocknet – das gab es noch nie! Alle geben der Landwirtschaft und der Industrie die Schuld, aber selbst an der Quelle im Wald von Chambaran – wo es nur Rotwild, Wildschweine und Pilzsammler gibt – ist das Flussbett trockengefallen.“
2022 war in Frankreich das heißeste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Die Tomaten waren schon im Juni reif; zwei Monate zu früh. Wir aßen unsere Wunderernte mit einem Beigeschmack des Grauens. Im Juli regnete es so wenig wie noch nie. Weil schon der vorangegangene Herbst, Winter und Frühling trocken gewesen war, musste im Sommer wieder der nationale Notstand ausgerufen werden. Die Präfektur des Département Drôme ordnete an, den Wasserverbrauch um 40 Prozent zu reduzieren. Doch viele beschweren sich, dass die Landwirte und die Fabriken einfach weitermachen wie bisher.
Es gab Fälle von Wasserdiebstahl, betroffen war sogar ein Löschwasserreservoir der Waldfeuerwehr – und das in einem Jahr, in dem in Frankreich mehr als 60 Hektar Wald in Flammen aufgingen. Im Atomkraftwerk Tricastin musste wegen zu hoher Flusswassertemperaturen die Stromproduktion gedrosselt werden.
Die Drôme besteht aus zwei Klimazonen. Bis zum 45. Breitengrad sieht noch alles aus wie in der Provence – schroffe Kalksteinfelsen, Lavendelfelder und das besondere Licht, nach dem sich Nordeuropäer:innen so sehnen. Nördlich des 45. Breitengrades taucht man in ein diesiges Halbkontinentalklima ein; ein eher gewöhnliches Arkadien mit breiten Flüssen, fruchtbaren Tälern und ausladenden, schattenspendenden Bäumen – Eichen, Linden, Buchen. Die Dörfer sind hässlich, aber die Höfe sind schön: große quadratische Häuser aus goldenem Lehm, die sich harmonisch in die Landschaft fügen, die Schuppen gut gefüllt mit Feuerholz für den Winter.
Mitte August besuchte ich unseren Nachbarn Guillaume Robin. Er hatte gerade die Birnenernte beendet und half seiner Frau, den Honig aus ihren Bienenstöcken in Dieulefit zu entladen. Seine Familie bewirtschaftet hier schon seit Generationen das Land. Sein Großvater hatte einen kleinen Mischbetrieb: Obstbäume, Tabak, Vieh, Getreide. „Mein Mais steht immer noch so weit auseinander, dass der Hintern eines Zugpferds durchpasst“, erzählte Guillaume. Traditionell werden hier viele Walnussbäume gepflanzt: Ein paar Kilometer nordöstlich haben sie sogar ihre eigene geschützte Herkunftsbezeichnung.
In den letzten Jahrzehnten haben immer mehr Bauern auf Monokultur umgestellt. Sie rissen ihre Aprikosenbäume aus, gruben die Tabakfelder um und säten stattdessen Getreidesamen: Futterpflanzen, für die man große spritschluckende Maschinen braucht und die viel Wasser ziehen. So gehen Leute vor, die nicht wahrhaben wollen, dass das mediterrane Klima immer weiter nach Norden vordringt. Auch die nördliche Drôme wird in Zukunft immer häufiger Dürreperioden erleben – unterbrochen von immer heftigeren Überschwemmungen und Hagelstürmen im Juli.
Guillaume Robin geht einen wohlüberlegten anderen Weg. Auf zwei Dritteln seiner Felder wächst Getreide, aber er baut Sorten an, die weniger Wasser brauchen. Vom staatlich zertifizierten Bioanbau ist er auf „regenerative Landwirtschaft“ umgestiegen. Seitdem setzt er auf Gründüngung, finanziert vom lokalen Jagdverband, und füttert seine Pflanzen mit „Komposttee“. Dadurch können sie auf der Suche nach feuchteren Erdschichten und Nährstoffen tiefere Wurzeln schlagen. Als er den Hof vor sechs Jahren von seinem Vater übernommen hat, waren die Böden „übernutzt und ausgelaugt“. Jetzt erholen sie sich wieder. Aber wenn die Klimakrise sich weiter verschärft, könnte das ein jähes Ende haben.
„Als ich ein Kind war“, erzählte er mir, „gab es jeden Winter Schnee und graue, feuchte Herbsttage, an denen wir den Tabak geerntet haben. In den letzten Jahren gibt es kaum noch Frost, der die Böden feucht hält; Regen fällt nur noch, wenn es stürmt, und der Boden ist zu trocken, um ihn aufzunehmen.“ Der Wasserbauingenieur Guionnet sagt, dass die Herbasse früher alle 50 Jahre über ihre Ufer getreten ist. Heute passiert das alle 5 Jahre.
Yves und Anne Gélus habe ich auf einer Demo kennengelernt. Die beiden protestierten gegen einen neuen Autobahnzubringer, der mitten durch einen beschaulichen Landstrich in der nördlichen Drôme führen soll, quer über das Grundstück von Anne und Yves. Wenn sie den Kampf gegen die Autobahn gewonnen haben, sagt Anne, „ist das Wasser dran. Unter uns erstreckt sich ein Grundwasserleiter von 8500 Quadratkilometer. Dem ging es mal besser und mal schlechter, aber jetzt erholt er sich nicht mehr und der Pegel sinkt. Mein Schwiegervater sagt: ‚Wie kann das sein? Der Aquifer ist unerschöpflich.‘ “
„Aber hier pflanzen sie Kartoffeln an und bewässern rund um die Uhr“, sagt Yves, „und wenn der Wasserverbrauch eingeschränkt wird, pumpen die Landwirte davor und danach einfach doppelt so viel ab.“
Sein Vater, der früher auch mal Dorfbürgermeister war, hat seine 30 Hektar in dem Fortschrittsglauben der Nachkriegszeit bewirtschaftet: „An dem Tag, an dem er seinen ersten Traktor bekam, ging er raus und fällte einen Baum, der ihm im Weg stand.“ Als Yves und Anne den Hof übernahmen, wurde ihnen klar, dass sie „die Natur nicht länger massakrieren konnten“.
Auch die Gélus’ sind über den Bioanbau hinausgewachsen und haben sich der, wie sie es bezeichnen, „Agrarökologie“ zugewandt: Sie bauen Trauben, Kirschen und Aprikosen an, die sie reif vom Baum ernten und im Direktvertrieb an ihre Kunden liefern; sie haben die alten Bewässerungskanäle wieder in Betrieb genommen, in denen sich jetzt die Fische tummeln; unter den Obstbäumen picken Hühner und grast das Schaf eines Nachbarn; sie haben Hecken zum Schutz vor dem Mistral gepflanzt und um Vögel anzulocken, denn die fressen die Fliegen, die früher ihre Kirschen befallen haben.
Die Klimakrise macht das Ganze noch komplexer. „Als würde man Jojo spielen und die Schnur wird immer länger“, findet Anne. „Wir müssen ständig experimentieren und umdenken“, sagt Yves, „darin können wir von unseren Vorfahren lernen. Wir verlegen uns immer mehr auf mediterrane Gewächse: Mandeln, Granatäpfel, Pistazien. Als Nächstes Clementinen. Laut einem Klimatologen hätten wir hier heute ein Klima wie Avignon vor 20 Jahren. Weiter südlich droht die Versteppung, im Norden wird es regnerischer. Wir liegen genau auf der Grenze. Wie wird es weitergehen?“
Derzeit wird ein geomorphologisches Modell des Grundwasserleiters in der nördlichen Drôme erstellt. 2023 soll es endlich fertig sein. Diejenigen, die es dann lesen dürfen (es wird nicht veröffentlicht, wie mir gesagt wurde) werden dann abschätzen können, wie viel Wasser noch übrig ist und welche Maßnahmen es braucht, um zu verhindern, dass der Aquifer komplett erschöpft wird.
Baptiste Morizot lehrt Philosophie an der Universität Aix-Marseille. Er plädiert für eine nichthierarchische Beziehung zwischen allen Lebewesen; er gehört zu denjenigen, auf deren Initiative auf dem Hochplateau von Vercors ein 500 Hektar großes Naturschutzgebiet geschaffen wurde. Auf der anderen Seite stehen die Industriellen, die Obstplantagen und Wälder zubetonieren und Fabriken und Shoppingcenter draufsetzen. Unterstützt werden sie dabei von Lokalpolitikern, die sagen, es würden neue Arbeitsplätze geschaffen. Dabei handelt es sich um dieselben Jobs, die anderswo wegen Fabrikschließungen gestrichen werden. Die Bauern sitzen zwischen den Stühlen und wissen nicht so recht, wo ihre Interessen eigentlich liegen.
Die älteste Tochter von Yves und Anne Gélus kann sich vorstellen, den Familienbetrieb zu übernehmen. Vor Kurzem ist sie von einem Auslandsjahr in einem Kibbuz in der Negev-Wüste zurückgekehrt. Vielleicht sind zwölf Monate in der Wüste genau die richtige Vorbereitung, bald Landwirtschaft zu betreiben unter klimatischen Bedingungen, die vor nicht allzu langer Zeit noch denen in Sussex glichen.
Aus dem Englischen von Anna Lerch
Fernanda Eberstadt ist Journalistin und Romanautorin.
© 2022 London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin