08.09.2022

Planwirtschaft fürs Klima

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Planwirtschaft fürs Klima

Es lohnt ein Blick auf die britische Kriegsökonomie ab 1939

von Ulrike Herrmann

Wartime fashion: sieben Coupons für ein Kleid mit fünf Knöpfen picture alliance/united archives
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Es ist nicht ungewöhnlich, von „Krieg“ zu sprechen, sobald ein Problem zu lösen ist. So wurden schon Kriege gegen die Armut, gegen die Drogen oder gegen den Krebs ausgerufen. Allerdings wird das Wort „Krieg“ hierbei nur als Metapher verwendet und soll herausstreichen, dass höchste Anstrengung geboten ist.

Auch während der Coronapandemie war es üblich, militärische Vergleiche zu ziehen. US-Präsident Trump sagte gleich in seiner ersten Pressekonferenz: „Wir sind im Krieg und wir bekämpfen einen unsichtbaren Feind.“ Der französische Präsident Macron sah sich ebenfalls im Krieg, der eine „Generalmobilmachung“ erforderte, während die britische Königin Elisabeth II. von Pflegekräften „an der Front“ sprach.

In einigen Staaten wurden sogar Verordnungen aus Kriegszeiten reaktiviert. Trump holte beispielsweise den „Defence Production Act“ wieder hervor, den man 1950 im Koreakrieg erlassen hatte, um den Autokonzern General Motors zu zwingen, Beatmungsgeräte herzustellen. So wie früher Panzer für die Schlacht produziert worden waren, so galten jetzt Masken und Impfstoffe als „Waffen gegen den Virus“.

Der Staat kann handeln, wenn er will. Diese Tatsache ist auch den Klimaschützern nicht entgangen: Sie neigen ebenfalls dazu, den Kampf gegen die Klimakrise mit dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen. Schon 2018 wünschte sich der Weltklimarat IPCC eine globale „Mobilmachung“, auch der Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz propagiert diese Idee.

Klimaschützer begeistert vor allem, wie schnell es den Alliierten im Zweiten Weltkrieg gelang, die nötigen Waffenarsenale zu produzieren, um Deutschland und seine Verbündeten zu besiegen. Ähnlich schnell sollen nun Windräder, Solarpaneele und E-Autos hergestellt werden. Die meisten Autoren interessieren sich allerdings nicht so sehr für Großbritannien, sondern vor allem für die USA, weil dort aus dem Nichts riesige Waffenschmieden errichtet wurden, nachdem die Japaner im Dezember 1941 Pearl Harbor angegriffen haben.

Zwischen 1942 und 1945 gab die US-Regierung mehr Geld aus, als sie insgesamt von 1789 bis 1941 verbraucht hatte. In den Kriegsjahren stellten die USA 87 000 Marineschiffe, 300 000 Flugzeuge, 100 000 gepanzerte Fahrzeuge und Panzer sowie 44 Milliarden Schuss Munition her. Auch US-Präsident Roosevelt staunte über dieses „Wunder der Produktion“.

Diese gigantische Materialschlacht hat das Wachstum damals kräftig angekurbelt, und ähnlich optimistische Visionen entfalten viele Klimaschützer, wenn es um die Zukunft geht. So schwärmt der US-amerikanische Aktivist Bill Mc­Kib­ben: „Den Klimawandel zu stoppen, würde einen enormen sozialen und ökonomischen Nutzen erzeugen, genau wie es der Zweite Weltkrieg tat.“

Bei Klimaschützern ist die US-Kriegswirtschaft auch deswegen so beliebt, weil sie weitgehend schmerzfrei war. Das Militär verschlang zwar bis zu 42 Prozent der Wirtschaftsleistung, aber die Gesamtwirtschaft expandierte noch weit schneller. In den USA legte sie insgesamt um 90,5 Prozent zu, und in Kanada verdoppelte sie sich sogar um mehr als 100 Prozent. Die Nordamerikaner sind im Krieg reicher geworden.

Doch genau weil das damalige Wachstum in den USA so unglaublich war, kann es nicht die grüne Zukunft sein, die Kriegswirtschaft der Nordamerikaner zu kopieren. Die Ökoenergie würde niemals reichen, um diese Materialflut zu erzeugen. Natürlich müssen wir maximal in Windräder, Solarpaneele, Wärmepumpen, Elek­tro­lyseure, Stromnetze, Bahnschienen oder Batterien investieren – insofern passt der Vergleich mit der amerikanischen Mobilmachung im Zweiten Weltkrieg. Aber rasantes und exorbitantes Wachstum darf daraus nicht entstehen. Die britische Kriegswirtschaft ist daher besser geeignet, um ein Modell für die Zukunft abzugeben.

Denn im Vereinigten Königreich musste die zivile Produktion tatsächlich stark schrumpfen, um Kapazitäten für das Militär freizuräumen. Der Krieg beanspruchte etwa 50 Prozent der britischen Wirtschaftsleistung – die in dieser Zeit aber kaum expandierte. Von 1939 bis 1945 erreichte das Wachstum insgesamt nur 27 Prozent. Zwar konnten die Briten Waren und Waffen auch aus Nordamerika und dem Commonwealth beschaffen, aber diese Importe reichten bei Weitem nicht aus, um den Lebensstandard aus Friedenszeiten zu sichern. Der Krieg ging an die Substanz.

Als der Zweite Weltkrieg begann, wollte man die Fehler des Ersten möglichst vermeiden. Ab 1914 hatte man meist ad hoc entschieden und erst spät erkannt, dass ein totaler Krieg eine umfassende Planung benötigte. 1939 verloren die Briten daher keine kostbare Zeit mehr, sondern organisierten sofort eine Art „privater Planwirtschaft“. Der Staat gab vor, was produziert wurde – aber die Unternehmen blieben im Eigentum ihrer Besitzer. Firmen, Handwerksbetriebe, Restaurants oder Läden wurden nicht verstaatlicht, sondern konnten weiterhin selbst entscheiden, wie sie ihre Betriebe führten.

Die britische Planwirtschaft unterschied sich also fundamental vom Sozialismus, der zeitgleich unter Stalin in der Sowjetunion praktiziert wurde. In dieser „zentralen Planwirtschaft sowjetischen Typs“ waren alle Betriebe staatlich, und es wurde bis zur letzten Schraube reglementiert, wie die Fabriken ihre Waren herzustellen hatten.

Die britische Regierung hingegen lenkte die Betriebe indirekt – indem sie Rohstoffe, Kredite und Arbeitskräfte zuteilte. Vor allem Beschäftigte waren so knapp, dass Unternehmen nur produzieren konnten, wenn sie Angestellte zugewiesen bekamen: Das „Manpower Budget“ wurde zum zentralen Steuerungsinstrument der Regierung.

Eine Menge „Manpower“ benötigten auch die Planungsbehörden selbst. Allein das neue Ernährungsministerium beschäftigte im April 1940 bereits 3500 Menschen, 39 000 waren es dann 1943. Trotzdem führten diese riesigen Bürokratien kein Eigenleben fern des Alltags, denn die Behörden waren durchsetzt von Experten und Geschäftsleuten. Gezielt wurden Ökonomen, Wissenschaftler, Ingenieure und Unternehmer angeheuert.

Anfangs fehlten jedoch die nötigen Zahlen, um überhaupt planen zu können. Eine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung existierte noch nicht. Niemand konnte sagen, wie viele Waffen, Flugzeuge und Panzer sich produzieren ließen, ohne dass die Bevölkerung hungern musste. Um diese Wissenslücken zu schließen, wurde damals das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als Messgröße erfunden. Es war, wenn man so will, eine britische Kriegswaffe. Der Erfolg war so durchschlagend, dass es später weltweit von fast allen Ländern übernommen wurde: Das BIP hat sich zur wichtigsten statistischen Größe in der Ökonomie entwickelt, weil es die Wirtschaftsleistung und damit auch das Wachstum misst.

Der Knackpunkt ist die Rationierung

Dank des BIPs ließ sich nun genau einschätzen, dass 66 Prozent der britischen Industriekapazitäten benötigt wurden, um das Militär aufzurüsten. Für die Zivilbevölkerung blieben also kaum noch Güter übrig. Dabei war der Bedarf weit größer als zu Friedenszeiten, weil deutsche Bomben über eine Million Wohnungen zerstörten. Zudem musste bei der Lebensmittelversorgung gekürzt werden, weil Großbritannien zu 70 Prozent auf Importe angewiesen war. Diese Einfuhren mussten unbedingt sinken, da die Schiffe nun gebraucht wurden, um Waffen und Militärrohstoffe aus Übersee herbeizuschaffen. Lebensmittel kosteten wertvollen Platz.

Es wurde genau ausgerechnet, wie viele Kalorien sich mit welchem Nahrungsmittel importieren ließen. Dabei kam heraus: 1000 Kubikfuß Schiffsraum konnten 83 000 Zuckerkalorien, über 100 000 Fettkalorien und 56 000 Getreidekalorien transportieren – aber nur 12 000 Kalorien, wenn frische Eier verschifft werden sollten. Also wurden diese gestrichen und das getrocknete Eipulver erfunden.

Die Briten haben im Zweiten Weltkrieg nicht gehungert, denn pro Kopf und Tag gab es 2800 Kalorien. Das war ausreichend: Heute raten Krankenkassen, dass Männer maximal 2400 Kalorien zu sich nehmen sollten. Bei Frauen sind es sogar nur 1900 Kalorien.

Aber Quantität ist nicht gleich Qualität. Fleisch, Käse, Fett, Zucker, Tee und Seife waren so knapp, dass sie rationiert werden mussten. Echter Mangel herrschte aber auch bei diesen raren Gütern nicht. So reichte es weiterhin für mindestens 540 Gramm Fleisch pro Woche; Militärbeschäftigte erhielten sogar stattliche 1,2 Kilo. Nur Milch und Eier gab es für normale Erwachsene fast nie, sondern waren Kindern, Schwangeren und stillenden Müttern vorbehalten.

Nicht rationiert waren Kartoffeln, Mehl und Brot. Auch Fisch, Geflügel, Wild, Innereien, Gemüse und Früchte nicht, denn sie waren entweder schnell verderblich, nur zu bestimmten Zeiten vorhanden oder nicht ausreichend verfügbar, um Rationen für alle zu garantieren. Knapp waren natürlich auch Extras wie Konserven, Kekse, Schokolade, Süßigkeiten oder getrocknete Früchte. Für sie gab es ein Punktesystem. Jeder Kunde konnte individuell entscheiden, für welche Waren er seine Punkte aufwenden wollte. Je nach Gesamtangebot veränderte die Regierung die Punktzahl, die für ein bestimmtes Produkt nötig war.

Dieses Punktesystem galt auch für Möbel und Kleider. Um Material und Arbeitsaufwand zu sparen, wurden sie normiert, sodass Stühle oder Teller immer gleich aussahen. Für Kleider gab es ebenfalls strikte Vorschriften, damit keine unnötigen Verzierungen aufgenäht wurden. So durfte ein Frauenkleid nur maximal zwei Taschen und fünf Knöpfe aufweisen.

Die Mengen- und Preiskontrollen waren in Großbritannien ungemein populär. Wie die britische Regierung bereits 1941 feststellen konnte, war das Rationierungsprogramm „einer der größten Erfolge an der Heimatfront“. Die staatlich verordnete Gleichmacherei erwies sich als Segen: Ausgerechnet im Krieg waren die unteren Schichten besser versorgt als je zuvor. In Friedenszeiten hatte ein Drittel der Briten nicht genug Kalorien erhalten, weitere 20 Prozent waren zumindest teilweise unterernährt. Nun, mitten im Krieg, war die Bevölkerung so gesund wie nie, wobei „die Fitness der Babys und Schulkinder besonders hervorstach“.

Die Rationierungsprogramme waren so beliebt, weil alle Briten genau das Gleiche bekamen. Allerdings war es nur die halbe Wahrheit, dass Wohlstand gar nicht mehr zählte. Denn die Eliten hatten das nötige Geld, um nicht rationierte Waren wie Fisch oder Wild zu kaufen, und konnten auch teure Restaurants aufsuchen. Aber diese Ungerechtigkeiten waren später vergessen.

Der Konsum fiel damals um ein Drittel – und zwar in kürzester Zeit. Dieser enorme Rück- und Umbau macht die britische Kriegswirtschaft zu einem faszinierenden Modell für heute: Der deutsche Verbrauch muss ähnlich drastisch sinken, wenn das Klima gerettet werden soll. Allerdings muss niemand fürchten, dass es wieder nur Kartoffeln, Brot und zwei Kleider pro Jahr geben könnte. So trist würde es nicht werden. In den vergangenen 80 Jahren ist die deutsche Wirtschaft real um das Zehnfache gewachsen. Selbst wenn von diesem gewaltigen Wohlstand nur die Hälfte übrig bliebe, wären wir immer noch so reich wie im Jahr 1978.

Wer damals dabei war, erinnert sich: „Krieg der Sterne“ füllte die Kinosäle, und Argenti­nien wurde Fußballweltmeister. Kinder spielten mit Bonanzarädern und Slime. Das Leben fühlte sich kaum anders an als heute, war aber etwas gemächlicher. Statt mehrfach für ein verlängertes Wochenende nach Mallorca zu jetten, fuhr man einmal im Jahr mit dem eigenen Auto für drei Wochen nach Italien. In einer klimaneutralen Welt wäre man zwar mit dem Zug unterwegs, aber Urlaub wäre immer noch selbstverständlich.

Eine Kreislaufwirtschaft könnte schön sein. Die „Share Economy“ hat betörende Visionen entwickelt, wie ein angenehmes Leben aussehen könnte, das nur so viel verbraucht, wie sich recyceln lässt. Das Ziel ist klar, nur der Weg fehlt. Bisher gibt es keinen Plan, wie sich der dynamisch wachsende Kapitalismus beenden ließe, ohne dass eine schwere Wirtschaftskrise droht. Die britische Kriegswirtschaft könnte ein solches Modell liefern: Sie zeigt, wie eine private Planwirtschaft die zivile Produktion geordnet schrumpfen kann – und wie sich dann knappe Güter rationieren lassen, damit der soziale Frieden erhalten bleibt.

Heutzutage haben Planung und Rationierung einen schlechten Ruf. Wer nicht auf den „freien Markt“ setzt, dem wird unterstellt, dass er seine Mitmenschen triezen will. In einem Interview empörte sich der Grüne Anton Hofreiter: „Sollen Leute ein Kontingent kriegen, wie viel sie Auto fahren dürfen? Soll es Bezugsscheine für Fleisch geben? Das ist absurd. Wir sind in einer freien Gesellschaft, da gibt es zum Glück keine solchen Instrumente.“

Viele glauben, „freier Markt“ und staatliche Lenkung seien Gegensätze, die sich absolut ausschließen. Doch das ist ein Irrtum. Auch im Kapitalismus wurde schon immer geplant – von den Unternehmen und von den Regierungen. Die britische Kriegswirtschaft konnte nur deswegen so gut funktionieren, weil sie nichts radikal Neues einführte, sondern nur radikalisierte, was im Kapitalismus schon angelegt ist. Denn selbst in normalen Zeiten spielt der Staat eine tragende Rolle, weswegen es jederzeit möglich wäre, wieder in eine Art Kriegswirtschaft zu wechseln, um das Klima zu retten.

Der Markt gilt als Hort von Freiheit und Leistung, während der Staat angeblich nur stört. Doch diese Sicht ist grundfalsch, wie zuletzt die Coronakrise zeigte. Als die Pandemie im März 2020 Europa erreichte, gerieten die Börsianer in Panik: Der deutsche Aktienindex DAX brach um 40 Prozent ein – und wäre noch weiter in die Tiefe gerauscht, wenn die Bundesregierung nicht eingegriffen und Milliarden Euro in die Wirtschaft gepumpt hätte. Ohne den Staat hätte es gar keinen „Markt“ mehr gegeben.

Der Staat bekämpft jedoch nicht nur Krisen, sondern sorgt auch für technischen Fortschritt. Neoliberale glauben hartnäckig, dass allein der „freie Markt“ Innovationen hervorbringen könne. Doch tatsächlich stammen heutzutage fast alle wichtigen Erfindungen aus staatlichen Laboren oder wurden öffentlich subventioniert. Dies gilt fürs Internet genauso wie für Solarpaneele. Auch die leistungsstarken Corona-Impfstoffe würde es nicht geben, wenn die Staaten nicht schon seit Jahren die Biotechnologie der mRNA-Botenstoffe gefördert hätten. Selbst die Ikone der Digitalisierung, das Smartphone, wäre ohne den Staat niemals erfunden worden. Apple-Gründer Steve Jobs war zweifellos genial, aber geforscht hat er nicht. Seine Leistung bestand darin, vorhandenes Wissen zu einem neuen Produkt zusammenzuführen.

Wer den „freien Markt“ propagiert, vergisst zudem gern, dass private Unternehmen nur einen Teil der Wirtschaft ausmachen. Oft ist es nämlich effizienter, auf kommerzielle Betriebe zu verzichten. Ob Schulen, Straßen, Bahnen, Krankenkassen, Wasserwerke oder Stromnetze: Die Versorgung der Allgemeinheit funktioniert besser und ist billiger, wenn der Staat übernimmt. Wie ineffizient der „freie Markt“ sein kann, führt etwa das US-Gesundheitssystem vor, das keine gesetzlichen Krankenkassen kennt und daher extrem teuer ist. Pro Kopf geben die USA fast doppelt so viel für ihr Gesundheitssystem aus, wie es in allen anderen Industrieländern üblich ist. Aber diese Unsummen verpuffen. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt in den USA drei Jahre nie­dri­ger als in Schweden.

Auch die Klimakrise wird sich nur bewältigen lassen, wenn der Staat eingreift. Denn der Ökostrom wird nicht von selbst fließen. Fotovoltaik, Windräder, Wärmepumpen, neue Stromnetze, Ladesäulen, Batteriespeicher, grünen Wasserstoff, weitere Bahnstrecken und zusätzlichen Nahverkehr kann es nur geben, wenn der Staat lenkt, forscht, finanziert und subventioniert. Die meisten Klimaschützer würden jederzeit zugeben, dass umfassende Planung nötig ist, um die Wirtschaft ökologisch umzubauen. Der Knackpunkt ist die Rationierung. Wer an das „grüne Wachstum“ glaubt, findet es völlig überflüssig, Verzicht zu fordern. Stattdessen soll der Ökostrom üppig fließen, auf dass sich sämtliche Wünsche befriedigen lassen.

Da Rationierung so unbeliebt ist, fällt oft gar nicht auf, dass auch die Wachstumsoptimisten auf eine Form der Zuteilung setzen. Sie nennen sie nur anders – nämlich CO2-Budget. Damit sind die Treibhausgase gemeint, die jedes Land noch emittieren darf. Dieser Ansatz ist so richtig wie fair. Zunächst wird ausgerechnet, wie viele Treibhausgase die gesamte Menschheit noch ausstoßen kann, damit sich die Welt nur um 1,5 oder 1,75 Grad Celsius erwärmt. Diese CO2-Restmenge wird dann auf alle Erdbewohner umgelegt.

Für Deutschland kommt dabei heraus, dass wir spätestens 2035 klimaneutral sein müssen. Indien hingegen müsste erst 2090 nachhaltig sein, weil es nur 1,8 Tonnen CO2 pro Einwohner und Jahr emittiert und sein Budget daher nicht so schnell aufbraucht wie die Deutschen. Das Ziel steht auch schon fest: Klimaneutral sind alle Länder, die nicht mehr als eine Tonne CO2 pro Bewohner und Jahr ausstoßen. Diese Eine-Tonne-Grenze halten viele Länder schon heute ein, und oft liegen sie sogar weit darunter. Dazu gehören die meisten Staaten in Afrika.

Die reichen Länder haben die Klimakrise zu verantworten, nicht die armen. Trotzdem wird gern der Globale Süden beschuldigt, die Umweltprobleme zu verursachen – weil er angeblich „überbevölkert“ sei. Doch würde sich an der Klimakatastrophe selbst dann nichts ändern, wenn Afrika gar keine Einwohner hätte, denn von dort stammen kaum CO2-Emissionen. Nicht zu viele Menschen sind das Problem, sondern Menschen, die zu viel verbrauchen.

Die Zahlen sind erschütternd: Die reichsten 10 Prozent der Menschheit emittieren 48 Prozent des gesamten CO2, während die unteren 50 Prozent zusammen nur auf ganze 12 Prozent kommen. Obwohl die Ärmsten nichts zum Klimawandel beitragen, werden sie von ihm besonders hart getroffen. Zu den „reichsten 10 Prozent“ der Weltgemeinschaft gehört übrigens jeder Erwachsene, der über ein Jahreseinkommen von 87 200 Euro verfügt. Deutschland ist bekanntlich reich, aber selbst hierzulande kommt nur eine Minderheit auf ein Jahreseinkommen von mehr als 87 000 Euro, während die unteren 50 Prozent im Durchschnitt ganze 15 200 Euro verdienen.

Die Einkommen sind also sehr ungleich verteilt, was sich prompt bei den CO2-Emissionen widerspiegelt. Das reichste Hundertstel der Deutschen stößt pro Kopf und Jahr enorme 117,8 Tonnen an Klimagasen aus. Die obersten 10 Prozent kommen im Durchschnitt auf 34,1 Tonnen. Die „Mitte“ emittiert 12,2 Tonnen – und die unteren 50 Prozent nur 5,9 Tonnen. Die Reichen produzieren also 20-mal so viel CO2 wie die Armen.

Es klingt sehr demokratisch, wenn Anton Hofreiter die „freie Gesellschaft“ lobt, in der jeder so viel konsumieren darf, wie er gern möchte. Aber in Wahrheit heißt Hofreiter damit gut, dass die Wohlhabenden auf Kosten aller anderen die Welt ruinieren. Diese extreme Ungerechtigkeit fällt nur deswegen nicht auf, weil Hofreiter zugleich behauptet, dass „grünes Wachstum“ möglich sei. Für ihn ist schrankenloser Konsum erlaubt, weil er angeblich nachhaltig sein kann. Wenn sich „grünes Wachstum“ aber als Illusion erweist, bleibt nur die Rationierung.

Gerechtigkeit macht glücklich

Für die Gutsituierten sind das keine angenehmen Aussichten, weswegen manche Autoren eine Art Mittelweg vorschlagen: „Jeder Mensch bekommt ein privates CO2-Konto. Zwei Tonnen im Jahr darf er umsonst verbrauchen – danach wird es teurer.“ Doch dieser gut gemeinte Vorschlag würde den Klimaschutz torpedieren. Für Reiche wäre es gar kein Problem, sich einfach weitere Emissionsrechte zu kaufen, sodass erneut zu viele Treib­haus­gase ausgestoßen würden.

Vor allem aber würde das Projekt Klimaschutz diskreditiert, wenn jeder verzichten müsste – nur die Wohlhabenden nicht. In Großbritannien wurde die Rationierung im Krieg nur deswegen so willig hingenommen, weil sie für alle galt. Die Regierung wusste genau, wie schädlich sichtbare Standesunterschiede gewesen wären. Der Klimaschutz hat nur eine Chance, wenn alle gleich belastet werden. Aber was würde es bedeuten, wenn jede Deutsche nur noch eine Tonne CO2 emittieren dürfte?

Diese Frage lässt sich heute nicht eindeutig beantworten, sondern hängt davon ab, wie effizient die Ökotechnik künftig sein wird. Je mehr grüne Energie sie liefern kann, desto bequemer wird das Leben. „Grünes Wachstum“ ist zwar nicht möglich, aber ein großer Teil der heutigen Wirtschaftsleistung könnte erhalten bleiben. Die Deutschen könnten weiterhin in den Urlaub fahren, ihr Smartphone nutzen, Bücher lesen und in Restaurants gehen.

Flüge allerdings würde es nicht mehr geben, Autos wären kaum noch unterwegs, und Immobilien müssten rationiert werden: Wenn der Flächenfraß enden soll, dürfen nicht ständig neue Erstwohnungen, Zweitwohnungen, Ferienhäuser, Büros und Gewerbegebiete entstehen. Die Bauten, die jetzt in Deutschland existieren, müssten für alle reichen.

Auch Fleisch muss limitiert werden, denn das Vieh ist ein Klimakiller. Die intensive Landwirtschaft verursacht derzeit 21 bis 37 Prozent aller globalen Treibhausgase. Vor allem Rinder, Ziegen und Schafe sind extrem schädlich, weil Wiederkäuer Methan ausstoßen. Rund 1 Milliarde Rinder trampeln über die Erde, und aus jeder ausgewachsenen Kuh entweichen vorn und hinten mindestens 300 Liter Methan pro Tag. Zwar bleibt ein Methanmolekül im Durchschnitt nur rund zwölf Jahre in der Atmosphäre. Aber in dieser kurzen Zeit richtet es große Schäden an, weil es 25-mal wirksamer als ein CO2-Molekül ist.

Fleisch ist ein Luxusprodukt, weil – je nach Rechnung – etwa zehn Pflanzenkalorien nötig sind, um eine Fleischkalorie zu erzeugen. Diese aufwendige Aufzucht lässt sich auch nicht ändern. Ein großer Teil des Futters geht verloren, da das Tier erst einmal am Leben bleiben muss, bevor es Gewicht ansetzen kann. Es wäre also viel effizienter, wenn Menschen das Getreide selbst essen würden, statt es ans Vieh zu verfüttern. Doch findet das Gegenteil statt.

Ständig werden weitere Wälder abgeholzt, um neue Weiden und Äcker für die Futtermittel zu schaffen. Die gefällten Bäume können kein Kohlendioxid mehr binden, was die Klimakatastrophe beschleunigt. Vor allem der Amazonas wird entwaldet, sodass in Brasilien inzwischen genauso viele Rinder wie Menschen leben.

Die intensive Landwirtschaft verschärft nicht nur die Klimakrise, sondern zerstört und verschwendet auch Süßwasserreserven, vernichtet Humusböden und rottet zahllose Arten aus. Alarmierend ist etwa das globale Insektensterben – ein Drittel aller Insektenarten ist vom Aussterben bedroht. Eine Welt ohne Insekten ist gar nicht vorstellbar: Sie bestäuben fast 90 Prozent aller Blütenpflanzen und 75 Prozent der wichtigen Nutzpflanzen. Ohne diese natürliche Dienstleistung würde es ein Drittel aller Nahrungsmittel nicht geben. Die kleinen Sechsfüßer machen nicht nur Lebensmittel möglich; auch die Herstellung von Fasern, Medikamenten, Biokraftstoffen und Baumaterialien hängt davon ab, dass Insekten ausfliegen, um in die Blüten zu kriechen.

Rationierung klingt unschön. Aber vielleicht wäre das Leben sogar angenehmer als heute, denn Gerechtigkeit macht glücklich. Gesellschaften sind entspannter, gesünder und toleranter, wenn der Abstand zwischen Arm und Reich gering ist. Von dieser guten Stimmung profitieren nicht nur die unteren Schichten, wie globale Erhebungen zeigen: Auch die Eliten leben länger, wenn sie einer fairen Gesellschaft angehören.

Allerdings würde nicht nur der Konsum ra­tio­niert, sondern auch die Produktion gelenkt. Da grüne Energie knapp sein wird, müssten manche Branchen deutlich schrumpfen oder wären gänzlich obsolet. Vor allem Luftfahrt, Banken, Versicherungen, Autofirmen und Teile der Chemieindustrie hätten keine große Zukunft. Mil­lio­nen Menschen würden arbeitslos und müssten neue Stellen finden, etwa im Klimaschutz. Dieser ökologische Umbau wäre nur geordnet möglich, wenn der Staat steuert und alle Betroffenen absichert.

Die Briten haben im Zweiten Weltkrieg vorgeführt, wie eine Regierung effektiv lenken kann, um die Wirtschaft radikal umzustellen. Wie schon erwähnt, griff der Staat damals nicht in die einzelnen Betriebe ein, sondern überließ es weiterhin den Eigentümern und Managern, wie sie ihre Unternehmen intern führen wollten. Die Regierung legte nur fest, was überhaupt hergestellt wurde – und wie viel. Mit Knappheit ­steuern: Dieses Prinzip bietet sich jetzt wieder an. Heute wären allerdings nicht Arbeitskräfte und Rohstoffe rar, sondern die grüne Energie wird nicht reichen, um alle Branchen und Bedürfnisse zu befriedigen. Die Regierung müsste also festlegen, was mit dem begrenzten Ökostrom noch hergestellt wird.

Das Ziel wäre eine Kreislaufwirtschaft, in der nur noch so viel produziert wird, wie sich recyceln lässt. Trotzdem wäre diese klimaneutrale Welt nicht statisch. Technische Innovationen wären weiterhin dringend erwünscht: Wenn es etwa gelingen würde, die Energieeffizienz zu steigern, dann wären mit derselben Zahl an Windrädern und Solarpaneelen mehr Güter möglich.

Es käme wieder zu Wachstum, wenn auch auf niedrigerem Niveau. So paradox es ist: Zunächst muss die Wirtschaft schrumpfen, bevor sie wieder expandieren darf. Dieses eventuelle ­Wachstum hätte jedoch mit dem heutigen Kapitalismus nichts mehr gemein, denn die Hierarchien hätten sich umgekehrt. Künftig bestimmt die Natur, wie viel Wachstum möglich ist – und nicht das Wachstum, was von der Natur übrig bleibt.

Ulrike Herrmann ist Wirtschaftskorrespondentin der taz und Autorin. Der vorliegende Text ist ein Auszug aus ihrem gerade erschienenen Buch: „Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden“, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2022. Wir danken dem Verlag für die Abdruckgenehmigung.

Le Monde diplomatique vom 08.09.2022, von Ulrike Herrmann