edito
Freie Radikale
Die Studentenproteste in Quebec zeigen abermals: Staatliche Sparpolitik ist nur noch mit autoritären Methoden durchzusetzen. Nach dem Beschluss der liberalen Regierung Charest, die Studiengebühren binnen fünf Jahren um 75 Prozent anzuheben, traten mehr als ein Drittel der Studenten in den Streik. Daraufhin verabschiedete das Parlament von Quebec am 18. Mai ein Notstandsgesetz, das die Versammlungsfreiheit und das Demonstrationsrecht stark einschränkt. Ein fataler Mechanismus: Erst wird eine demokratische Errungenschaft – das Recht auf Bildung – abgeschafft, dann ein zentrales Grundrecht aufgehoben.
Solche Art Radikalisierung gibt es nicht nur in Kanada. In Frankreich orientiert sich das konservative Bündnis, nach einem verlorenen Wahlkampf, in dem alle Reflexe der extremen Rechten bedient wurden, nicht etwa verstärkt auf die Wähler der Mitte. Nein, die Erben Sarkozys wollen weiterhin mit reaktionäre Reizthemen – Ausländerfeindlichkeit, Sozialbetrug, Verschärfung des Strafrechts – dem Front National jene Wähler abjagen, die dem expliziten Wunschbild Sarkozys entsprechen: „Arbeiter, die nicht wollen, dass es denen, die nicht arbeiten, besser geht als ihnen.“
Ganz ähnlich lief es nach dem letzten Machtwechsel in den USA. Als Barack Obama im Januar 2009 ins Weiße Haus einzog, übten sich die Republikaner nicht etwa in Zerknirschung, sondern lieferten sich der Tea Party aus. Trotz ihrer holzhammerartigen, paranoiden Art verstand es diese Bewegung sehr geschickt, ihre Gegner als eine Bande linker Snobs und selbstherrlicher Technokraten hinzustellen, die nur darauf aus sind, die Produzenten des Reichtums auszuplündern, um die Sozialversager und Fürsorgeempfänger mit weiteren Wohltaten zu verhätscheln. „Fast jeder kennt einen Nachbarn oder hat von jemandem gehört, der über seine Verhältnisse lebt“, heißt es in einem Manifest der Tea Party: „Und wir fragen uns zu Recht, warum wir für diese Leute bezahlen sollen.“
Die republikanische Rechte problematisierte also nicht etwa, wie sie die politische Mitte wieder gewinnen könnte, wo die Wahlen in den USA offensichtlich entschieden werden. Vielmehr wollte sie wieder Tritt fassen, indem sie sich vom grauen Pragmatismus der verunsicherten Funktionäre verabschiedete und nach der Niederlage auf die Wünsche und Hoffnungen ihrer radikalsten Parteigänger setzte.
Für die Rechte sind solche Fantasien eine mächtige Versuchung. So muss sie sich nicht mit Moralpredigten aufhalten oder kleine Kurskorrekturen an einer Wirtschafts- und Finanzpolitik vornehmen, die ohnehin scheitern muss und noch mehr Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit erzeugt. Oder schlimmer noch: Ressentiments gegenüber den falschen Gegnern.
Und doch gibt es Hoffnung: Der Niedergang der beiden großen griechischen Parteien, die für den Staatsbankrott und die Leiden des Volkes verantwortlich sind, und der unverhoffte Aufstieg der Linkspartei Syriza, die sich der Rückzahlung großenteils illegitimer Schulden widersetzt, lassen einen Ausweg aus der Sackgasse erkennen. Aber dazu braucht es Mut und Fantasie – wie bei den kampfentschlossenen Studenten von Quebec. Serge Halimi