Die Anmaßung des höchsten Gerichts
Der ehrwürdige Supreme Court macht den US-Demokraten das Regieren zunehmend unmöglich von Daniel Lazare
Die Gesundheitsreform, die Barack Obama im Frühjahr 2010 durch den Kongress manövrierte, ist ein unausgegorener politischer Kompromiss, der wenig zur Senkung der Gesundheitsausgaben beitragen und die wachsenden Probleme im Gesundheitssystem kaum beheben wird. Doch trotz ihres fehlenden Bisses hat die Reform umgehend heftige Reaktionen ausgelöst. Tausende von Tea-Party-Anhängern haben dem Präsidenten vorgeworfen, er wolle sogenannte Todeskomitees einführen, die über die Rechte von Kranken und Alten urteilten, während die potenziellen republikanischen Präsidentschaftskandidaten für den Fall ihres Wahlsiegs die sofortige Abschaffung des Gesetzes angekündigt haben.
Inzwischen droht die zweite Reaktion in Gestalt einer verfassungsrechtlichen Überprüfung von „Obamacare“ durch den konservativ dominierten Supreme Court. Ein Urteil wird nicht vor Ende Juni erwartet, aber gemessen an der Feindseligkeit bei den dreitägigen Anhörungen im März muss die Linke mit dem Schlimmsten rechnen, nämlich dass der Vorsitzende des obersten Gerichtshofs, John Roberts, es auf den umstrittensten Teil des Gesetzes abgesehen hat – die Sanktionen bei Verstößen gegen die Versicherungspflicht. Denn wenn Obamacare durchkommt, müssen Familien mit einer empfindlichen Geldbuße rechnen, wenn sie sich nicht für mehrere tausende Dollar pro Jahr selbst versichern.
Falls die Regelung tatsächlich gekippt wird, hätte das drei Konsequenzen: Erstens wäre dem Gesetz auch der letzte Zahn gezogen, sollte das Gericht tatsächlich den wichtigsten Sanktionsmechanismus außer Kraft setzen, selbst wenn alle anderen Bestimmungen unverändert erhalten blieben. Zweitens würde die wohlfahrtsstaatliche Versorgung in den Vereinigten Staaten um Jahrzehnte zurückgeworfen. Nachdem Obama seine Präsidentschaft so eng an diese Gesundheitsreform geknüpft hat, welche die Linke fast ebenso stark irritiert wie die Rechte, bliebe dem Präsidenten kaum noch politisches Kapital für andere Vorhaben übrig.
Drittens würde ein solches Gerichtsurteil die Handlungsfähigkeit der Demokraten im Kongress lähmen. Nachdem sie Monate damit zugebracht haben, einen Kompromiss zu schmieden, den sie mit Fug und Recht für verfassungskonform gehalten haben, müssten sie nun feststellen, dass das oberste Gericht die Torpfosten versetzt hat und sich über alle Präzedenzfälle der letzten 70 Jahre hinwegsetzt. Zudem würden die Demokraten sich in ihren politischen Anstrengungen künftig von der Angst leiten lassen, dass die aufgehetzten rechtslastigen Richter sowieso alles für verfassungswidrig erklären.
Verfassung von Gottes Gnaden
Selbst wenn es Obama gelingt, nach den Wahlen im November erneut ins Weiße Haus einzuziehen – was nach einer solchen Niederlage alles andere als sicher wäre –, dürfte seine zweite Amtszeit eine eher traurige Angelegenheit werden. Und die Demokraten müssten sich eingestehen, dass sie sich selbst ein Bein gestellt haben, weil sie jahrelang einerseits für die verfassungsrechtliche Überprüfung mit bindender Wirkung und andererseits für eine allgemeine Gesundheitsversorgung gekämpft haben. Denn das eine könnte am Ende zur Aushebelung des anderen geführt haben.
„Wenn der Supreme Court wichtige Wirtschaftsgesetze einfach über den Haufen werfen kann, dann kann sich die Linke für die nächste Generation einsargen lassen“, meint der Anwalt, Journalist und ehemalige Gewerkschaftsfunktionär Nathan Newman. „Angesichts der republikanischen Verweigerungspolitik und eines Supreme Courts, der jede Vorlage abschießt, die den Kongress passiert, wäre die Verhinderung von Obamacare ein Signal an die amerikanischen Unternehmen, dass sie in Zukunft nur noch nach eigenem Gutdünken entscheiden können, ohne dabei nennenswerte gesetzliche Beschränkungen befürchten zu müssen.“
Inmitten der schwersten Wirtschaftsflaute seit den 1930er Jahren würden die USA damit deutlich nach rechts rücken. Keine angenehme Perspektive, aber eine durchaus realistische, falls Richter Roberts tatsächlich stur bleibt.
Um zu begreifen, wie es dazu kommen konnte, muss man das seltsame politische System der Vereinigten Staaten verstehen. In den Wahlkampagnen ist heutzutage viel von der „amerikanischen Ausnahme“ die Rede. Der Begriff stammt von Mitgliedern der Kommunistischen Partei aus den 1920er Jahren, die die USA ökonomisch für so mächtig hielten, dass die Gesetze des Kapitalismus dort außer Kraft gesetzt seien. (Die Wirtschaftskrise von 1929 hat diesem frommen Glauben ein Ende gesetzt.) Heute benutzen die Republikaner den Begriff zur Bezeichnung einer Gesellschaft, die nichts falsch machen kann, weil sie von Gott gesegnet ist.
So absurd diese Vorstellung auch sein mag, in einer Hinsicht sind die USA tatsächlich eine Ausnahme: Während andere Länder angesichts von Kriegen und Revolutionen wiederholt ihre Regierungssysteme erneuert haben, hat sich das US-Regierungssystem seit 1787 nicht wesentlich verändert.
Diese Tatsache ist für US-Amerikaner eine Quelle unendlichen Stolzes. Ihr Verhältnis zur Verfassung gleicht dem eines Muslims zum Koran: Die Verfassung ist nicht nur gottgegeben, sie ist selbst irgendwie göttlich. Die realen Folgen sind jedoch eher grotesk. Die Regierungen, die auf der Grundlage dieser Verfassung eingesetzt werden, sind korrupt, erstarrt und rassistisch. Während das Repräsentantenhaus – die eine der beiden Kammern des US-Kongresses – nicht völlig undemokratisch ist, gilt der Senat – die andere Kammer – als die sozial schieflastigste gesetzgebende Körperschaft der Welt. Auch das britische Oberhaus ist zwar eine recht unausgewogene Instanz, was jedoch nicht wirklich zählt, da es eine überwiegend zeremonielle Funktion hat.
Da der Senat auf dem Prinzip der gleichen Vertretung aller Bundesstaaten beruht, hat Wyoming dort dasselbe Gewicht wie Kalifornien, obwohl in Kalifornien 68-mal so viele Menschen leben. Jedes Gesetz braucht zur Verabschiedung eine Senatsmehrheit von sechzig von hundert Stimmen. Dadurch können 41 Senatoren, die unter Umständen gerade einmal ein Achtel der gesamten Bevölkerung repräsentieren, jeden Gesetzentwurf scheitern lassen, der von einem der beiden Häuser eingebracht wird.
Mit der Folge, dass auf der rechten Seite des politischen Spektrums üppig finanzierte Minderheiten gegen eine angeblich übergriffige Zentralregierung zu Felde ziehen und den Kongress lahmlegen, derweil sie selbst sich mit Gefälligkeiten bei ihren reichen Wahlkampfsponsoren revanchieren. Wenn sich die Wähler über die Untätigkeit des Kongresses beschweren, wird ihnen von Senatoren und Mitgliedern des Repräsentantenhauses erklärt, dass sie daran nichts ändern könnten, weil die Gründerväter – jene kleine Gruppe von Rechtsanwälten, Kaufleuten und Sklavenbesitzern, die die US-Verfassung einst aus der Taufe hoben – es gewollt hätten.
„Die ‚founding fathers‘ haben uns ein Gremium aus 535 Personen beschert“, erklärte etwa John Boehner, ein Kneipenbesitzer aus dem südlichen Ohio und Sprecher der republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus im letzten November. „Ehrlich gesagt wurde es so eingerichtet, dass es nicht funktionieren kann. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass es trotzdem funktioniert. Und es funktioniert ja. Ob es langsam arbeitet? Sicher. Ob die Arbeit frustrierend ist? Gewiss.“
Aber wie lässt sich ein System verbessern, dass von seiner Anlage her ineffizient ist? Soll man dafür sorgen, dass es noch ineffizienter wird? Wen wundert es, dass die Zustimmung zur Arbeit des Kongresses in der Bevölkerung auf erschütternde 9 Prozent gesunken ist, womit der Kongress, wie ein demokratischer Abgeordneter bemerkte, 6 Prozentpunkte schlechter dasteht als Paris Hilton.
Die Gesundheitsreform, über die der Supreme Court berät, spiegelt diese parlamentarische Dysfunktionalität wider. Sie wurde nicht von der Regierung, sondern von sechs Senatoren entworfen, drei Demokraten und drei Republikanern aus Staaten wie Montana, North Dakota und Wyoming, riesigen Flächenstaaten, in denen es mehr Kühe als Menschen gibt. Anstelle eines eindeutigen und transparenten Systems, bei dem jeder Einzelne seinen Beitrag zahlt, entschieden sich die Senatoren für ein ebenso behutsames wie kompliziertes Verfahren, bei dem jeder der fünfzig Bundesstaaten eine eigene „Krankenversicherungsbörse“ einrichten muss, an der private Versicherungen mit ihren Angeboten konkurrieren.
Dieses System bringt den Versicherungsgesellschaften 32 Millionen neue Kunden, deren Beiträge zum Teil von der Bundesregierung bezuschusst werden. Eine vierköpfige Familie, die nicht durch öffentliche Programme wie Medicare und Medicaid oder durch eine betriebliche Krankenversicherung abgesichert ist, muss für eine Krankenversicherung bis zu 8 400 Dollar jährlich berappen oder aber eine Strafe von 2 000 Dollar in Kauf nehmen.
Natürlich hat Obamacare auch seine guten Seiten. Millionen von Menschen, die sie sich sonst nicht leisten könnten, bekommen Zugang zu einer Gesundheitsversorgung. Dennoch weist das Gesetz etliche Mängel auf, die die Dinge noch verschlimmern könnten, wie die 18 000 Mitglieder starke Organisation Physicians for a National Health Program (Ärzte für eine staatliche Gesundheitsversorgung) betont. 23 Millionen Menschen, zumeist Einwanderer ohne Aufenthaltserlaubnis, bleiben weiterhin ohne Versicherungsschutz, womit man schätzungsweise 23 000 vermeidbare Todesfälle im Jahr im Kauf nimmt.
Darüber hinaus lässt das neue Gesetz konservativ regierten Bundesstaaten viel zu viel Spielraum bei der Ausgestaltung des Versicherungsschutzes und erlaubt ihnen, Selbstbeteiligungen von bis zu 40 Prozent festzulegen. Die Versicherungsgesellschaften profitieren von zusätzlich 447 Milliarden Dollar an steuerfinanzierten Zuschüssen, unterstehen jedoch bei der Preisgestaltung keiner staatlichen Kontrolle.
Angeblich verbietet das Gesetz die bisherige Praxis, „bestehende Vorerkrankungen“, deren Behandlung nicht rentabel ist, vom Versicherungsschutz auszuschließen. Aber laut Physicians for a National Health Program ist dieses Verbot voller Lücken, die es den Versicherern erlauben, von älteren Versicherten einen bis zu dreimal höheren Beitrag und von Firmen mit überwiegend weiblichen Angestellten höhere Krankenversicherungsbeiträge zu verlangen. Und die vorgesehene Bestimmung, dass Frauen für Abtreibungen einen Zusatzschutz vereinbaren müssen, wird vermutlich zu einem weiteren Abbau der reproduktiven Selbstbestimmung von Frauen führen.
Obamacare und die Ideen des 18. Jahrhunderts
„Unbezahlbare Unterversicherung“ ist das Stichwort, mit dem der Sprecher der Physicians, Don McCanne, die Probleme von Obamacare auf den Punkt bringt. Aber so ungenügend das Gesetz auch sein mag, zur Sprengung des im 18. Jahrhundert festgesetzten Verfassungsrahmens könnte es immer noch reichen. Falls die republikanische Mehrheit von 5 zu 4 Stimmen im Supreme Court beschließt, die Reform frontal anzugreifen, wird sie sich höchstwahrscheinlich darauf berufen, dass das Gesetz gegen Artikel 1, Abschnitt 8 der Verfassung verstößt. Dieser billigt dem Kongress das Recht zu, „den Handel mit fremden Ländern, zwischen den Einzelstaaten und mit den Indianerstämmen zu regeln“.
Es war klar, welchem Zweck diese Bestimmung im Jahre 1787 diente: Wenn der neue nordamerikanische Staatenbund von Dauer sein sollte, musste der Kongress mit der Macht ausgestattet werden, die Entstehung von rivalisierenden Handelsblöcken innerhalb der Föderation zu verhindern. Im Gefolge der Wirtschaftspolitik des New Deal in den 1930er Jahren diente die Klausel allerdings als Allerweltsrechtfertigung für die zentralstaatliche Reglementierung jeder Geschäftstätigkeit, die auch nur die geringsten Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft hatte.
1942 entschied der Supreme Court, dass Washington die Milchverkäufe in einem Bundesstaat regulieren durfte, weil diese Verkäufe sich auch auf den Handel in den anderen Bundesstaaten auswirken könnten. Das Gericht erlaubte der Bundesregierung, festzulegen, wie viel Getreide ein Farmer in Ohio zum eigenen Gebrauch anpflanzen durfte, da der Eigenverbrauch Effekte auf die Märkte haben könne. 1964 urteilte das Gericht, dass Washington die Rassentrennung in einem Motel in Atlanta verbieten durfte, weil dort Reisende aus anderen Staaten abstiegen. Und im selben Jahr wurde entschieden, dass die Bundesregierung die Rassendiskriminierung in einem Grillrestaurant in Birmingham, Alabama, untersagen durfte, weil dort auch Nahrungsmittel aus anderen Bundesstaaten serviert wurden.
Die Linke begrüßte diese Urteile mit großer Begeisterung. Dabei übersah man, dass für diese Regelungen – die in anderen Ländern zum selbstverständlichen Tagesgeschäft der Zentralregierungen gehörten – in Washington immer abenteuerlichere Interpretationen eines Texts aus dem 18. Jahrhundert aufgeboten werden mussten. Schließlich erklärte der von Ronald Reagan berufene Vorsitzende Richter William Rehnquist 1995, die Sache sei schon viel zu weit getrieben worden. Rehnquist urteilte, dass ein bundesweites Verbot von Waffen an öffentlichen Schulen gegen die Verfassung verstoße, weil die bloße Tatsache, dass jemand eine Waffe in der Tasche trage, keine erkennbaren Auswirkungen auf den Handel zwischen den Bundesstaaten habe.
Rehnquist fällte kein Urteil darüber, ob ein Waffenverbot an öffentlichen Schulen gut oder schlecht sei. Diese Frage war für seine Entscheidung völlig unbedeutend. Er machte vielmehr deutlich, dass die Bundesregierung – sei es zum Wohl oder Wehe der Bürger – die von den weisen Gründervätern festgelegten Grenzen zu respektieren hatte.
Nach über zweihundert Jahren ist ihr Wort noch immer Gesetz, und die Vereinigten Staaten sind weniger eine Demo- als eine Thanatokratie – eine Herrschaft von Toten für Tote. Was Obamacare anbelangt, besteht allerdings kein Zweifel, dass der amerikanische Gesundheitssektor mit seinem Jahresumsatz von 2,5 Billionen Dollar auch den zwischenstaatlichen Handel betrifft. Allein, das Gericht muss sich mit der viel bescheideneren Frage auseinandersetzen, ob Washington einzelne Bürger zum Abschluss einer Versicherung zwingen darf, eine Frage, die leicht esoterische Züge annehmen kann.
Unstrittig ist, dass die Zentralregierung wirtschaftliche Aktivitäten gesetzlich regulieren darf. Aber darf sie auch die Unterlassung von wirtschaftlichen Aktivitäten, das heißt die Entscheidung, keine Krankenversicherung abzuschließen, regulieren? Was hätten die weisen Gründerväter dazu gesagt? Und während die obersten Richter mit diesem schwerwiegenden Problem ringen, wird die Politik immer aufwendiger, weil sie beständig demonstrieren muss, dass sie mit Grundsätzen aus dem Jahre 1787 vereinbar ist – als müsste die französische Regierung fortwährend nachweisen, dass ihre Entscheidungen auch die Zustimmung Ludwigs XVI. gefunden hätten.
Obama versucht den Supreme Court wieder auf eine liberalere Linie zu bringen, aber bisher ohne Erfolg. Mit der 2009 ernannten Sonia Sotomayor und der 2010 berufenen Elena Kagan hat er zwei Liberale zu obersten Richterinnen ernannt. Aber da beide an Stelle von liberalen Richtern berufen wurden, hat ihre Ernennung die politischen Mehrheitsverhältnisse nicht verändert. Obama musste ohnmächtig zusehen, wie das Gericht ein rechtslastiges Urteil nach dem anderen fällte.
Im Juni 2009 entschied das Gericht, dass Gefangene keinen Anspruch auf einen DNA-Test haben, der ihre Unschuld beweisen könnte. Im Januar 2010 urteilte es, dass die Bundesregierung keine Obergrenze für Wahlkampfspenden von Unternehmen festlegen dürfe, was Lokalbonzen wie Sheldon Adelson aus Las Vegas die Möglichkeit verschaffte, seinem rechten Lieblingskandidaten Newt Gingrich Millionen Dollar zu überweisen. Und kürzlich beschloss der Supreme Court, dass die Polizei Personen, die sie wegen harmloser Vergehen wie Fahren mit knatterndem Auspuff, Benutzung eines Fahrrads ohne Klingel oder Ausführen eines nicht angeleinten Hundes in Gewahrsam nimmt, einer Leibesvisitation unterziehen und nackt ausziehen darf.
Der letzte demokratische Präsident, der sich mit dem Supreme Court anlegte, war Franklin D. Roosevelt. Im Januar 1937 erklärte er in einem kaum verhohlenen Rundumschlag gegen die obersten Richter, die wiederholt Maßnahmen des New Deal verworfen hatten, nicht die Verfassung sei das Problem, sondern ihre konservative Auslegung. Richtig betrachtet, könne die Verfassung „als Instrument des Fortschritts dienen statt als Mittel zur Verhinderung von Regierungshandeln“.
Roosevelt hatte damals seine machiavellistischste Phase erreicht, denn natürlich wusste er, dass die Verfassung sehr wohl ein Problem darstellte. Schließlich hatte er noch kurz zuvor mit seinen Beratern die Möglichkeit eines Zusatzartikels diskutiert, der dem Kongress die Macht geben sollte, Entscheidungen des Supreme Courts wieder aufzuheben. Aber da eine Verfassungsänderung praktisch unmöglich ist, beschloss er, die konservative Verfassungsgerichtsbarkeit dadurch zu unterlaufen, indem er das Gremium mit liberalen Richtern besetzte.
Roosevelt verlor die Schlacht um die Mehrheit im Supreme Court, ging aber dennoch als Sieger daraus hervor, weil die obersten Richter wenige Monate später einen Kurswechsel vollzogen und Gesetzesvorlagen zu billigen begannen, die sich von den zuvor zurückgewiesenen nicht unterschieden. Die Demokraten änderten im Laufe der Zeit ebenfalls ihren Kurs und schworen dem Supreme Court nun ewige Treue. Denn der hatte seit den 1950er Jahren die Rassentrennung an Schulen und die Schulandachten verboten, Geburtenkontrolle und Abtreibung legalisiert und eine ganze Reihe von Gesetzen gegen Pornografie und Homosexualität zu Fall gebracht. Gruppen wie die American Civil Liberties Union bauten ihre gesamte Existenz auf dem Instrument der verfassungsrechtlichen Überprüfung auf, das nun als Eckpfeiler der amerikanischen Demokratie gefeiert wurde.
Aber die verfassungsrechtliche Überprüfung ist eine zweischneidige Sache, und seit das oberste Gericht wieder nach rechts gerückt ist, sind die Linksliberalen am Ende ihrer Weisheit angelangt. Sollte das Gericht Obamacare für verfassungswidrig erklären, sind sie in derselben Lage wie Roosevelt 1936/1937, nur dass dieser damals über einen gewissen Spielraum verfügte, während die heutigen Demokraten ihre Unabhängigkeit längst aufgegeben haben.
Als ehemaliger Professor für Verfassungsrecht hat Präsident Obama nie ein böses Wort gegen eine der in Washington herrschenden Institutionen verloren. Er stimmt nicht mit der Auslegung des Supreme Court überein, aber das Verfahren der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit selbst ist für ihn über jeden Zweifel erhaben. Die einzige Option, die ihm derzeit bleibt, ist, die Hände zu falten und zu beten, dass das Gericht wenigstens Teile seiner Gesundheitsreform gelten lässt.
Aus dem Englischen von Robin Cackett Daniel Lazare ist Journalist und Autor von „The Velvet Coup: The Constitution, the Supreme Court, and the Decline of American Democracy“, London (Verso) 2001.