Lauter Bekenntnisse
von Bruno Preisendörfer
Networking funktionierte schon mit der Kutschenpost. Im Europa des 18. Jahrhunderts waren die Gebildeten vernetzt genug miteinander, um sich über Theorien und den dazugehörigen Klatsch auszutauschen. Nur verteilte sich die mit Tinte aufs Papier gebannte Erregungsenergie viel langsamer unter den Freunden, als das heute bei Facebook der Fall ist. Damals waren die Fäden des Netzes die Landstraßen entlang gespannt, über die Reiter und Kutschen die Post transportierten. Die Herzensergießungen der Briefe, Romane und Briefromane erfolgten gewissermaßen in Zeitlupe, jedenfalls gemessen an der heutigen Echtzeitkommunikation unter virtuellen Freunden. Echtzeit ist aber nicht Echtheit. Der Onlineaustausch generiert Botschaften, keine Authentizität. Andererseits: Wer konnte im 18. Jahrhundert sicher sein, dass die zerflossene Tinte auf einem Briefbogen wirklich von einer Träne herrührte und nicht von einem Wassertropfen?
Und doch wurde damals so getan, als könne man mit der Schrift eines Briefs zugleich im Herzen des Schreibenden lesen, so wie man heute tut, als wäre einer Facebook-Seite anzusehen, was ihre Betreiber im Innersten bewegt. Einer der ganz großen literarischen Erfolge des 18. Jahrhunderts war der Briefroman „Julie oder Die neue Héloïse“ von Jean-Jacques Rousseau, dessen dreihundertster Geburtstag am 28. Juni begangen wird. In diesem Buch fließen Ströme von Tränen. Es vibriert vor Aufrichtigkeit, allerdings einer fingierten, denn schließlich handelt es sich um einen Roman. Beim zeitgenössischen Publikum war das Buch deshalb über die Maßen beliebt, weil es den permanenten Prozess gegenseitiger Selbsterklärung simulierte.
Heute frappiert es, weil es wirkt wie eine unfreiwillige Zoologie der Gefühle. Je mehr die Figuren von sich erzählen, je tiefer sie in ihre Empfindungen eindringen, desto allgemeiner wird das, was sie für ihre Besonderheit halten, desto unpersönlicher wird das scheinbar Subjektive.
Wäre Rousseau nicht vor dreihundert, sondern vor dreißig Jahren auf die Welt gekommen, hätte er vermutlich eine ständig aktualisierte Facebook-Seite, würde mailen wie verrückt und ununterbrochen Kurzbotschaften verschicken. Dieser Schriftsteller, der sich von allen verfolgt und verraten fühlte, würde allen seinen Freunden (und Feinden) twittern, dass alles, was seine Feinde (und Freunde) über ihn twittern, verkehrt, verdreht, verfälscht ist. Wie bringt man den anderen die Wahrheit über sich selbst bei? Was kann man dagegen tun, wenn die anderen es darauf abgesehen haben, die eine, unteilbare Wahrheit des Selbst aufzusplittern in viele öffentlich kursierende Halb- und Teilwahrheiten?
Die Kommunikationsmedien ha- ben sich geändert, die Kommunikationspanik ist geblieben. Das Netz, das auffängt, verstrickt zugleich. Das Ich hat sich nicht in der Hand, selbst wenn der Daumen sich noch so viel Mühe gibt, allen zu signalisieren, dass man mehr ist als das, wofür man gehalten wird. Das letzte Wort haben doch die anderen. Diese Vorstellung war für Rousseau unerträglich. Wahrscheinlich würde er noch mehr twittern als Lady Gaga, die Queen des Genres mit 20 Millionen Followers und 1 200 Bekenntnissen im 140-Zeichen-Format. Und im Unterschied zu Lady Gaga würde er das nicht von einem Marketingteam erledigen lassen, sondern seine Tweets höchstpersönlich und krass authentisch mit eigenem Daumen absetzen.
Rousseau gehört zu den großen Erfindern der westlichen Subjektivität. Er schrieb seine Bekenntnisse, um mit diesem Buch in der Hand vor den göttlichen Richterstuhl zu treten, wie er uns gleich auf der ersten Seite wissen lässt. Dabei reichte es ihm nicht einmal zur Selbstrechtfertigung, und in den letzten Jahren seines Lebens arbeitete er wie besessen an einer weiteren Schrift, die er „Rousseau juge de Jean-Jacques“ (Rousseau richtet über Jean-Jacques) nannte. Dieser Text, monomanisch und redundant wie nur irgendein Selbstfeature auf Facebook, ist weniger ein Gewebe, das Rousseaus Ich ver- und enthüllt, als ein Netz, in dem es sich verfängt.
Die von Rousseau halb entdeckte, halb erfundene Aufrichtigkeit und der höchst artifizielle Kult, der mit dieser Art Selbstdarstellung seit der Romantik getrieben wurde, schien sich in der Moderne aufzulösen. Nachdem Gott im 19. Jahrhundert gestorben war, siechte im 20. auch der Mensch dahin.
Das bürgerliche Subjekt wurde entkernt wie ein Hinterhof. Und falls der neu aufsteigende Massenmensch überhaupt ein Bewusstsein hatte, dann ein flüssiges, strömendes. Das Selbst schien sich in einer zufälligen Ansammlung privater Reminiszenzen zu verflüchtigen, das Ich zum Hallraum des öffentlichen Meinens zu werden. Als hätte Rousseau dies vorausgeahnt, spottete er über den städtischen Zivilisationsmenschen, der abends in die Salons und Theater gehen müsse, um zu erfahren, was er am nächsten Tag zu denken habe.
Heute braucht man dafür das Haus nicht mehr zu verlassen. Jeder hat die Welt auf dem Schirm, alle haben alle in der Hand mit dem Handy. 200 Millionen Tweets zwitschern täglich um die Erde, Facebook verwaltet 900 Millionen User weltweit. Je mehr die Subjekte sich selbst darstellen, desto weniger Subjektivität kommt zum Vorschein. Aber vielleicht liefe eben dies für Rousseau auf das große Fest der Transparenz hinaus, in dem jeder jedem und die Gesellschaft sich selbst durchsichtig wird?
„Lasst uns nicht diese sich abschließenden Schauspiele übernehmen, bei denen eine kleine Zahl von Leuten in einer dunklen Höhle trübselig eingesperrt ist, furchtsam und unbewegt in Schweigen und Untätigkeit verharrend.“ Dies war die Festlichkeit der Höfe, wie Rousseau sie erlebte. „Nein, glückliche Völker, nicht dies sind eure Feste! In frischer Luft und unter freiem Himmel sollt ihr euch versammeln und dem Gefühl eures Glücks euch überlassen.“ Dies wäre das ländliche Fest, wie Rousseau es erträumte. „Oder noch besser: Stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafür, dass ein jeder sich im andern erkennt und liebt, dass alle besser miteinander verbunden sind.“
Dies ist das Idealbild einer Vollvernetzung der Gefühle, wie Rousseau sie ersehnte. Wo Ich war, soll Wir werden. Alles schwingt im gleichen Takt. „Alles wird allen gemeinsam.“ Der große Einsame schwärmt vom Schwarm.
Die zitierten Passagen sind Rousseaus „Brief an d’Alembert über das Schauspiel“ entnommen. D’Alembert hatte in einem Enzyklopädieartikel das Theater gerühmt. Rousseau kritisiert es als unmoralische Anstalt, die mit ihren Lügen die Leute verderbe, mit Halbwahrheiten verwirre und mit Illusionen vergifte. Rousseau schrieb über das Theater wie spätere Kulturkritiker über das Fernsehen. Die Kluft zwischen Schauspielern und Zuschauern wird beklagt, seit es sie gibt. Wird sie nun von der Interaktivität der sozialen Medien überwunden? Oder realisiert sich Rousseaus festliches Idealbild allgemeiner emotionaler Vernetzung als Schreckbild totaler medialer Verstrickung?
Rousseau schrieb und schrie an gegen die Stimmen der anderen in seinem Kopf. Er floh in die Einsamkeit und fand sie bevölkert von Feinden. Und eine Einsamkeit, bevölkert von Freunden? Aber auch unsere Freunde wollen, dass wir sind wie sie. Bleibt unser Ich so lange eine Provokation, bis es seine Besonderheit ablegt und als eine Art Varianten-Ich auf den Schirmen und Displays der anderen erscheint? Rousseau dagegen beanspruchte absolute Einzigartigkeit: „Ich allein. Ich lese in meinem Herzen und kenne die Menschen. Ich bin nicht wie einer von denen geschaffen, die ich gesehen habe; ich wage sogar zu glauben, dass ich nicht wie einer der Lebenden gebildet bin. Wenn ich nicht besser bin, so bin ich wenigstens anders.“
Selbstbehauptung durch Entblößung des Ichs: Rousseau zeigt allen den einzigartigen Jean-Jacques, damit jeder erkennen kann, was der Mensch im Allgemeinen ist. Aber Selbstpreisgabe ist noch keine Selbsterkenntnis. Rousseau fand nie heraus, wer Jean-Jacques eigentlich war, den rhetorischen Adlerflügen seiner Schriften zum Trotz. Es ging ihm wie uns twitternden Spatzen, die Ich-Ich-Ich von den Dächern pfeifen.
Bruno Preisendörfer ist Autor. Zuletzt erschien von ihm „Candy oder Die unsichtbare Hand“, Berlin (Das Arsenal) 2012, und „Fifty Blues“, Gießen (Psychosozial-Verlag) 2012. © Le Monde diplomatique, Berlin