07.07.2022

Eingehüllt in Smog und Staub

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Eingehüllt in Smog und Staub

Vier Frauen in Teheran

von Marmar Kabir

Teheran, September 2019 ROUZBEH FOULADI/picture alliance/zuma press
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Fahimeh: Der morgendliche Wind lässt das braune Kopftuch tanzen, das Fahimehs üppiges hellbraunes Haar umhüllt. Sie rennt, um den Bus nach Schahr-e Rey zu erwischen. Sie wohnt in einem alten Arbeiterviertel im Süden Teherans, gegenüber vom Sina-Krankenhaus. Sie muss sich beeilen, in Schahr-e Rey muss sie in das Shuttle zur Steinfabrik umsteigen, und die liegt in Schurabad, 30 Kilometer südlich von Teheran.

Früh um sieben beginnt ihre Schicht. Die Arbeiterinnen sitzen ganz hinten im Shuttle und schimpfen lauthals über die unverschämt hohen Preise und die geringen Subventionen für bestimmte Lebensmittel, wie Weizen.

In Fahimehs Abteilung werden Steine für den Innenbereich bearbeitet. Die Werkstatt hat keine Klimaanlage, die Fenster stehen zwar offen, doch die Hitze draußen und der Steinstaub drinnen machen das Atmen unter der Staubmaske schwer. Etwa 30 Frauen in Overalls mit einem leuchtend rotem Logo bearbeiten hier den harten Marmor, der unangreifbar scheint.

Fahimeh poliert in kreisenden Bewegungen Kaminverkleidungen aus weißem Marmor mit einer Mischung aus Putzstein und Wasser, schwitzend und mit einigem Kraftaufwand. Dabei denkt sie an Madschid, seinen Blick, seine Arme, seinen Körper. Die eingravierten Vögel und Blumen treten unter den Kreisbewegungen ihrer geschickten jungen, aber auch rauen und muskulösen Hände immer prächtiger hervor. Madschid hat sich seit zwei Tagen nicht mehr gemeldet, Fahimeh wartet ungeduldig auf eine Nachricht von ihm, und wenn es nur ein Emoji auf Whatsapp ist.

Fahimeh und Madschid wohnen im selben Viertel. Sie kennen sich seit ihrer Kindheit, ihre Väter waren zusammen im Krieg. Fahimehs Mutter Schirin fährt das Taxi ihres Mannes, der seit einem Autounfall schwerbehindert ist. Jetzt repariert er zu Hause hin und wieder Elektrogeräte, ab und zu raucht er Opium. Während der Pandemie hatte Schirin kaum Kundschaft. Fahimeh musste Überstunden in der Fabrik machen. Mit der Maske vor dem Gesicht arbeitete sie mehr als 10 Stunden am Tag, um zur Miete ihrer bescheidenen Zweizimmerwohnung beizutragen.

Seitdem hat sie sich angewöhnt, das Obst, den Joghurt und die Hälfte des Brots aus ihrem Frühstückspaket, das die Fabrik an die Arbeiterinnen ausgibt, mit nach Hause zu nehmen. Normalerweise kommt sie gegen 18 Uhr nach Hause und bereitet dann das Abendessen vor. Ihr Vater sitzt den ganzen Tag vor dem Fernseher. Wenn er sein Opium raucht, versteckt er sich in der Abstellkammer, damit seine Töchter es nicht sehen. Seit Schirin sich weigert, das Bett mit ihm zu teilen, schläft er auch in der Abstellkammer. Fahimehs jüngere Schwester Somayeh hilft den Frauen in der Moschee beim Kochen. Das Essen wird an die Händler in der Nachbarschaft verkauft. Zahra, die dritte Schwester, hat was von einem Tomboy. Sie macht dieses Jahr ihr Abitur, hängt aber ständig am Smartphone.

Zahra träumt davon wegzugehen. Bis vor Kurzem wollte sie in die Ukraine gehen, die gastfreundlicher war als andere europäische Länder und wo hunderte junge Ira­ne­rin­nen und Iraner studierten und nebenher arbeiteten. Jetzt, wo in der Ukraine Krieg herrscht, denkt sie darüber nach, in die Türkei zu gehen. Ihrer Familie hat sie nichts davon gesagt. Sie steht in Kontakt mit einem jungen Mann, der behauptet, ihr bei der Jobsuche helfen zu können.

Schirin kommt später als sonst nach Hause. Stundenlang hat sie sich im stickigen Käfig ihres Taxis durch Verkehr, Hitze und Smog geschlängelt. Sie reißt sich das Kopftuch vom Kopf, schlüpft aus ihrem Mantel, stellt sich unter den Ventilator und tippt auf ihrem Smartphone herum.

Dieses magische Gerät sichert ihr quasi den Lebensunterhalt. Hunderttausende Menschen wie sie, die keine andere Arbeit finden, nutzen die App Snap, das iranische Uber, und machen sich als Ta­xi­fah­re­r:in­nen selbstständig. Bei ihren Fahrten verlässt sie sich auf die Navigationsapp Rahyab. Aber vor allem bedeutet ihr das Smartphone ein Fenster zur Welt. Auf Instagram folgt sie iranischen Künst­le­rin­nen in Los Angeles, sie teilt Beileidsbekundungen nach dem Einsturz eines Gebäudes in Abadan oder nach einem Zugunglück in Yazd. Manchmal postet sie auch selbst Fotos, die sie bearbeitet, damit man die wenigen Falten um ihre Augen nicht sieht – Augen, die immer noch von ihrer Schönheit zeugen.

Immer noch keine Nachricht von Madschid. Fahimeh macht sich Sorgen. Sie versucht sich zu beruhigen, indem sie mit den Händen den Brotteig bearbeitet. Brot aus der Bäckerei wird immer teurer und ist von immer schlechterer Qualität, deshalb backt sie jetzt selbst. Im Shuttle hat ihr heute eine Kollegin aus der Fabrik ins Ohr geflüstert, dass ihre Abteilung in den nächsten Monaten geschlossen werden soll.

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Laleh: Heute Nachmittag haben sie in Sayehs Keller für die Abendvorstellung geprobt. Laleh spielt seit Anfang Juni in einem Saal im Zentrum von Teheran. Sie ist absolut textsicher, aber Sayeh, die Regisseurin, findet, dass sie nicht alles gibt. Laleh wohnt mit ihren 37 Jahren immer noch bei ihren Eltern. Die waren beide im Schuldienst, jetzt sind sie in Rente. Ihre spärlichen Einkünfte reichen nicht zum Überleben. Lalehs jüngere Schwester lebt in Frankreich, sie schickt ihnen jeden Monat 200 Euro.

2019 hatte Laleh sich intensiv auf die Rolle der Alten in „Die Stühle“ von Eugène Ionesco vorbereitet. Doch am Tag vor der Premiere wurde die Aufführung verboten, weil ihr Inhalt nicht mit den „Werten“ vereinbar sei. Während der Pandamie war sie zum Nichtstun verdammt.

Das neue Stück, „Der Traum“, wurde genehmigt und ist schon jetzt ein voller Erfolg. Neun Abende in Folge war der Saal ausverkauft. Laleh spielt darin zwar nur eine Nebenrolle, aber sie hat eine mitreißende Präsenz, eine eindrucksvolle Stimme und ihr Körper, obwohl verhüllt, drückt alle ihre Emotionen aus.

Zur Premiere kam ihr Vater zu spät, er hatte an einem Planungstreffen für eine Kundgebung vor dem Ministerium teilgenommen. Sie wollten für höhere Renten demonstrieren. Er war stolz, das erinnerte ihn an seine rebellische Jugend. Er war auch stolz, Laleh auf der Bühne zu sehen. Das Stück fand er etwas langatmig und nicht politisch genug, aber die strahlenden Augen und die Wut, die seine Tochter ausstrahlte, begeisterten ihn. Trotzdem schweiften seine Gedanken während der Vorstellung ab. Der jüngste Anstieg der Wechselkurse, die die Preise immer weiter steigen lassen, lässt ihm keine Ruhe. Andererseits werden die 200 Euro, die seine andere Tochter aus Europa schickt, immer mehr wert.

Neben der Schauspielerei gibt Laleh einer Gymnasiastin aus einem der besseren Viertel im Norden Teherans Nachhilfeunterricht. Ihr Einkommen reicht trotzdem nicht für ihre persönlichen Ausgaben und eine eigene Wohnung. Ihre Mutter leidet an Multipler Sklerose. Einmal im Monat begleitet Laleh sie ins Sina-Krankenhaus und klappert die Teheraner Apotheken ab, um Medikamente für sie zu finden. Ihre Mutter sorgt sich um Lalehs Zukunft und versucht immer noch vergeblich, einen Ehemann für sie zu finden.

In der Stadt gibt es jeden Abend Dutzende von Aufführungen – manche in den großen Thea­ter­sälen, manche in den Theatercafés, manche in den alten, restaurierten und umgebauten Stadtvillen im Zentrum. Die jungen Schauspieler studieren nicht nur Stücke ein, sie geben auch Amateurkonzerte oder verkaufen Getränke und Snacks, um sich über Wasser zu halten. Laleh ist Teil dieser Szene. Einen festen Partner hat sie nicht, aber einen Haufen Freundinnen und Freunde.

Auf Instagram und Facebook folgt sie Kunstschaffenden aus der ganzen Welt, schreibt sie manchmal an und versucht über Facebook und Instagram selbst bekannt zu werden. Kaum je kommt etwas zurück, sie spricht mit den anderen darüber, wenn sie im Café bei einem alkoholfreien Bier zusammensitzen – oder bei Wodka bei jemandem zu Hause. Einige von ihnen wollen das Land verlassen, schimpfen über ihre prekäre finanzielle Situation und die Repressionen. Andere denken, dass man bleiben sollte – denn welche Chancen hätte man schon als immigrierte Künstlerin in Europa?

Das Gezerre um das Atomabkommen zermürbt sie alle. Je nach Nachrichtenlage hoffen sie darauf, dass es bald unterzeichnet wird und sich ihnen neue Türen öffnen, oder sie fürchten einen militärischen Angriff, der endgültig verzweifeln lassen würde.

Manchmal rutscht Laleh das Kopftuch auf die Schultern, gibt den Blick frei auf ihr glattes Haar. Und das nicht nur im Café, sondern auch auf der Straße. Sie ist nicht allein, in ganz Teheran hält sich mittlerweile ein Viertel der Frauen nicht mehr an die strengen Sittenregeln. Nachdem sie jahrelang unter dem Schleier eingesperrt waren, kommen jetzt Haare verstohlen zum Vorschein, eingehüllt nur noch von weißgrauem Nebel, von Smog und Staub, die über der Stadt hängen.

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Sanaz: Samstags und montags ist Samira die diensthabende Ärztin in der Multiple-Sklerose-Ambulanz des Sina-Krankenhauses. Den Rest der Woche arbeitet die junge Neurologin in einer Privatpraxis in Nordteheran. Sanaz ist Krankenpflegerin auf der Station, und sie ist auch für die Durchführung der klinischen Tests zuständig. Seit den pandemiebedingten Lohnerhöhungen verdient sie 7 Millionen Toman im Monat (circa 200 Euro), ihr Mann verdient als IT-Techniker 8 Millionen. Das reicht kaum, um über die Runden zu kommen. Über Kinder denken die beiden erst mal nicht nach.

Da sie keine andere Therapien für MS haben, muss Sanaz vorsichtig mit der Dosierung des Interferons sein, das Medikament ist zurzeit nicht lieferbar. Auch das vor zweieinhalb Jahren bestellte MRT-Gerät ist wegen der Sanktionen immer noch nicht geliefert worden. Diagnosen können sie deshalb nur auf Grundlage klinischer Tests stellen.

Samira erwartet von Sanaz volle Konzentration bei der Befragung der Patienten. Im Untersuchungszimmer ist es heiß. Die Fenster stehen offen, aber die Hitze und der Smog, der Geruch von Desinfektionsmitteln und die am Kopftuch befestigte Maske machen das Atmen schwer.

Eine Patientin ist in Begleitung ihrer Tochter gekommen, sie hat ihr Kopftuch abgelegt. Die Tochter, Laleh, sollte in verschiedenen Apotheken oder auf dem Schwarzmarkt nach Interferon suchen. Sanaz hält die zitternde Hand der Frau und bittet sie, sich noch ein bisschen zu konzentrieren. Ensieh, die Pflegeleitung der Station, geht an der Tür vorbei und bedeutet ihr mit einem Nicken, schneller zu machen. Sanaz streichelt das lockige Haar der Frau, um sie zu beruhigen. Sie versucht gründlich zu sein und trotzdem schnell, trotz Müdigkeit und Hitze.

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Panthea: Ihr Mann Hassan ist mal wieder auf Geschäftsreise in der Türkei, er handelt mit Rohstoffen zur Herstellung von Medikamenten. Das ist ein äußerst lukratives Geschäft und er ist gut vernetzt. Panthea ist oft allein mit ihrer Tochter, die noch zur Schule geht. Sie wohnen im 20. Stock eines modernen Hochhauses im Norden Teherans, am Fuß der Berge. Der Blick vom großen Wohnzimmerfenster geht auf die Häuser von Damavand hinaus, auf dieser Seite ist die Luft ist etwas klarer.

Vom Küchenfenster aus sieht man hingegen die riesige Dunstwolke, die über dem Zentrum und dem Süden der Stadt hängt. Panthea hat jung geheiratet und sich nichts sehnlicher gewünscht, als bei Festen und Empfängen zu glänzen, vor den Gästen ihres Mannes die Rolle einer gebildeten Frau und Mäzenin zu spielen, ganz anders als die traditionelle, abergläubische Familie  ihres Mannes.

Sie wartet auf Laleh, die Literatur-Nachhilfelehrerin ihrer Tochter, eine Schauspielerin. Panthea kann es kaum erwarten, sich mit ihr zu unterhalten, ein paar Notizen zu machen und ihr neu erworbenes Wissen dann vor ihren ungebildeten Freunden hervorzuholen. Panthea weiß aus den sozialen Medien, dass man sich jetzt nicht mehr die Haare färbt, sondern sie weiß, aber gut frisiert trägt. Kleiden sollte man sich teuer, aber schlicht. Und auch in der Wohnung ist nicht mehr Bling-Bling angesagt, sondern eher minimalistische Eleganz.

Die wuchtige alte Kaminverkleidung aus Marmor mit eingravierten Blumen und Vögeln schien ihr nicht mehr zeitgemäß, sie hat sie durch ein importiertes Designerstück ersetzen lassen. Hassan war früher ziemlich streng, inzwischen ist er aber stolz, dass er eine so moderne Frau hat, die ihm vielleicht ein paar Türen öffnet. Über seine Tochter wacht er aber mit Argusaugen. Sie darf das Haus nicht allein verlassen und auch nicht wie ihre Freundinnen in der Nachbarschaft bummeln gehen.

Wenn sie ein Essen geben, engagieren sie eine Cateringfirma, die sich an ausgefallene kulinarische Kreationen wagen. Es gibt Wein, von dem Hassan allerdings nie trinkt. Der Verlauf der Tischgespräche hängt sehr von den Gästen ab. Russlands Einmarsch in der Ukraine beispielsweise wird eine „Chance für die iranische Öl- und Gasindustrie“ genannt, wenn hohe Beamte eingeladen sind, um irgendein Geschäft zu besiegeln. Aber wenn die Gäste zur iranischen Diaspora gehören und eingeladen wurden, um die Sank­tio­nen gegen iranische Banken zu umgehen und Geld nach Europa oder in die USA zu schaffen, wird von „der inakzeptablen Aggression Russlands“ gesprochen.

Was vom Essen übrig bleibt, wird an die Straßenkinder verteilt, die abends in den hippen Stadtvierteln den vor die Tür gestellten Müll durchsuchen.

Aus dem Französischen von Anna Lerch

Marmar Kabir ist Mitarbeiterin von LMd auf Farsi.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.07.2022, von Marmar Kabir