09.06.2022

Washingtons Ziele

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Washingtons Ziele

von Serge Halimi

Wenige Tage vor dem russischen Einmarsch forderte US-Präsident Joe Biden die Staatsangehörigen der USA in der Ukraine auf, innerhalb von 48 Stunden das Land zu verlassen. ­Inzwischen sind die USA wieder zurück in der Ukraine, aber anders. Ohne das Leben eines einzigen Soldaten aufs Spiel zu setzen, beschert ihnen die von Putin ausgelöste Katastrophe lauter strategische Durchbrüche.

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Russland wird dauerhaft geschwächt, China zeigt sich von den Rückschlägen seines Nachbarn peinlich berührt, die Nato wird durch den baldigen Beitritt Schwedens und Finnlands gestärkt, die US-amerikanischen Getreide-, Waffen- und Gasexporteure freuen sich über Bestellungen, und die westlichen Medien übernehmen unisono die Propaganda des Pentagon. Warum sollten die US-Strategen das Ende eines Kriegs herbeiwünschen, der ihnen dermaßen in die Karten spielt?

Sie wollen auch gar nicht, dass der Krieg endet. In den vergangenen Wochen entstand der Eindruck, es gebe nur ein Szenario nach dem Geschmack der USA: Wenn die westlichen Armeen im Triumph durch Moskau marschieren wie im alten Rom, Joe Biden auf der Tribüne zuschaut und Wladimir Putin im Eisenkäfig vorgeführt wird. Wenn es um das erklärte Ziel geht, „Russland zu schwächen“ oder eigentlich bluten zu lassen, sind die USA in der Wahl der Mittel nicht mehr zimperlich: Sie liefern der Ukraine immer leistungs­fähigere und offensivere Waffen und helfen ihr vermutlich, russische Generäle zu orten und zu liquidieren oder das ­Flaggschiff der russischen Kriegsmarine zu versenken. Der US-Kongress bewilligte zudem in den vergangenen drei Monaten insgesamt 54 Milliarden an Hilfen für die Ukraine; das sind mehr als 80 Prozent des russischen Militärbudgets.

Anfangs hatte Biden die Befürchtung, die militärische Unterstützung seines Landes für die Ukraine könnte „einen dritten Weltkrieg“ heraufbeschwören. Offenbar ist er zu dem Schluss gekommen, dass Moskaus nukleare Erpressungsversuche nur ein Bluff waren, dass man Russlands militärische Stärke überschätzt hat und dass man es gefahrlos in die Enge treiben kann. Darin ist er sich mit den neokonservativen Republikanern einig, denen, mit den Worten Mitt Romneys, jedes Zugeständnis an ­Putins Expansionismus so vorkommt, „als würden wir einen Kannibalen dafür bezahlen, dass er uns als Letzte verspeist“.

Biden hat diese verbalen Exzesse auf die Spitze getrieben, als er vor Beschäftigten bei Lockheed Martin sprach, die in Alabama die ­Panzerabwehrrakete Javelin pro­duzieren. Dort zeigte er sich entzückt darüber, dass Ukrainer ihre Neu­geborenen ­Javelin oder Javelina nennen.

Am 21. Mai erklärte Präsident Selenski, ein Kriegsende werde es nur „am Verhandlungstisch“ geben. Doch die russische Armee setzt ihren zerstörerischen Eroberungsfeldzug in den Städten des Donbass’ fort, und die US-Führung profitiert von der ­Verschärfung des Konflikts. Europa wirkt gespalten zwischen einem ziemlich isolierten französischen Präsidenten, der zu Recht mahnt: „Frieden gelingt nicht dadurch, dass Russland gedemütigt wird“, und einer estnischen Ministerpräsidentin, die demgegenüber schroff erklärte: „Man darf Wladimir Putin keinen Notausgang anbieten. (…) Die Lösung muss eine militärische sein. Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen.“ Die Diplomatie lässt die Flügel hängen. Und vorerst geben die Bauchredner aus Washington auf dem Alten Kontinent den Ton an.Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 09.06.2022, von Serge Halimi