09.06.2022

Brief aus Soweto

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Brief aus Soweto

von Niq Mhlongo

Blick über Soweto vom Oppenheimer-Turm ROB CRANDALL/Alamy Stock Foto
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Für jemanden wie mich, der in Soweto geboren und aufgewachsen ist und immer noch dort lebt, fühlt sich die weltberühmte Vilakazi Street anders an als das übrige Soweto. Sie hat etwas Gezwungenes und Falsches, das typisch für die von Nelson Mandela so gern beschworene Rainbow Nation sein soll. Wenn ich durch diese Straße gehe, in der immer ein lebhaftes Treiben von Touristen und Einheimischen herrscht, werde ich nostalgisch.

Ich sehne mich nach der Vilakazi Street, in der ich vor 25 Jahren gewohnt habe und die ich jeden Morgen entlanggegangen bin, wenn ich mir zum Frühstück billige Fat Cakes, Leberwurst, Kochwurstscheiben, gesalzenen Snoekfisch und Brot in einem Laden an der Ecke zur Khumalo Street geholt habe. Heute ist dort ein Restaurant namens Kwa Lichaba, wo man für 50 Rand (circa 3 Euro) sein in der Kühltasche mitgebrachtes Bier trinken kann. Damals war die Vilakazi Street eine ruhige Straße, ohne Restaurants und Verkaufsstände. Es gab nur das beliebte Spanish Inn in der Kudu Street, einer Parallelstraße. Und das Nelson Mandela House, jetzt Nationalmuseum, war ein ganz normales Haus mit einem für Soweto typischen Asbestdach.

Unter der Woche waren hier die Jugendlichen von der Phefeni und der Orlando West High School und die Kinder von der Thloreng Junior Primary School unterwegs, sonntags weckte mich der Chor der Methodistenkirche mit seinem Gesang. Diese Vilakazi Street vermisse ich, auch wegen ihrer politisch aufgeladenen Atmosphäre. Leute, die ich gar nicht kannte, grüßten mich je nach politischer Zugehörigkeit: die von der Black-Consciousness-Bewegung und der Azapo mit „Tower“, die vom ANC mit „Genosse“ und die von der PAC (Pan Africanist Congress) mit „MoAfrica“. Für mich atmete die Gegend den Geist des demokratischen Aufbruchs. Die meisten der prominenten Figuren im Kampf gegen die Apartheid wohnten in der Vilakazi Street oder ganz in der Nähe: Nelson Mandela, Erzbischof Desmond Tutu, Mama Winnie Mandela, Uncle Zeph Mothopeng und Tata Walter Sisulu.

Heute kommt mir die Straße wie eine gentrifizierte, überlaufene Betonstrecke vor. Unzählige Verkaufsständen und Restaurants sind in den letzten 15 Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen; ab und zu bestelle ich mir in einem von ihnen ein überteuertes Bier. In den 1990er Jahren waren die meisten der Restaurants Wohnhäuser, aber seit dem demokratischen Aufbruch hat sich das geändert. Ein normales Haus geht hier für eine Million Rand und mehr weg, weil es als Bed & Breakfast oder Restaurant lukrativ genutzt werden kann.

Bis zu den ersten allgemeinen und freien Wahlen 1994 interessierte es niemanden, dass es die einzige Straße auf der Welt war, in der zwei Nobelpreisträger gewohnt hatten, Nelson Mandela (1993) und Desmond Tutu (1984). Benannt ist sie nach Benedict Wallet Vilakazi, einem auf Zulu schreibenden südafrikanischen Dichter, Romancier und Linguisten. 1936 unterrichtete er an der Universität von Witwatersrand als erster schwarzer Südafrikaner weiße Studierende und 1946 erwarb er als erster schwarzer Südafrikaner einen Doktortitel. Heute steht die Vilakazi Street für Sowetos ökonomischen, kulturellen und politischen Reichtum.

Doch erst wenn man den Rest der Township erkundet, wird einem klar, dass es zwei Sowetos gibt. Zum einen das der Vilakazi Street, das sich nach Kräften bemüht, die tiefen Wunden der Apartheid vergessen zu machen: Hier präsentiert sich ein Soweto ohne Grenzen, Afrophobie oder Fremdenfeindlichkeit, wo man alle Sprachen dieser Erde hören kann, von Mandarin über Shona und Swahili bis Französisch. Hier sieht man höchstwahrscheinlich keine Kinder mit Hungerbäuchen und keine Drogenabhängigen, hier wird gehandelt, flaniert und sich vergnügt.

Alle sollen sehen, was für eine einige, fortschrittliche Nation wir sind, seit wir die Demokratie haben. Hier hat anscheinend auch jeder Arbeit. Die Leute bewachen Autos, führen Touristen herum, singen und tanzen, alles beseelt vom Geist der Ubuntu-Philosophie. Das Ausgehvolk fährt teure Autos, trägt Designerklamotten und schlürft Moët & Chandon oder Dom Pérignon, während es auf seine neuesten Smartphones einredet. Ja, Touristen mögen dieses Soweto, und sie kommen gern hierher, weil es sicher ist – für den boomenden Township-Tourismus patrouilliert immer Polizei.

Wenn man die 49 Stufen des Oppenheimer-Turms im Zentrum von Jabavu hinaufsteigt, wird man mit einem 180-Grad-Panorama-Blick das andere Soweto entdecken. Armut, Drogenprobleme und Kriminalität sind unübersehbar. Armut hängt über den rostigen Dächern der schmutzigen Wellblechhüttensiedlung von Kliptown im Südosten und von Jabulani Hostel gleich unterhalb des Turms. Die Kriminalität wohnt in den Straßen, wo die Polizei hinter gestohlenen Autos her rast oder Menschen um Gewaltopfer herumstehen. Junkies, meist auf Nyaope, das aus minderwertigem Heroin besteht, sieht man überall, in den Parkanlagen, an den Ampeln, unter den Ladenmarkisen.

Fünf alte Goldminen trennen das in den 1950er Jahren angelegte Soweto vom 15 Kilometer entfernten Zen­trum Johannesburgs. Junge Leute halten die fünf Abraumhalden oft für normale Berge. Für Leute wie mich, der ich auf dem Höhepunkt der Apartheid 1973 geboren wurde, ist Soweto ein Ort, an dem man nicht unbedingt geboren werden und aufwachsen wollte. Denn neben dem mühevollen Kampf für Demokratie symbolisiert es die Armut, die moralische Verkommenheit und geistige Leere Südafrikas unter der Apartheid.

Früher umzäunten hier nur wenige Leute ihre Häuser. Zäune und Mauern waren etwas für die reichen Weißen in den Suburbs, die die Kriminalstatistik in Paranoia versetzte. Soweto als ausschließlich schwarze Township war ein Gemeinwesen ohne Mauern, das gegen den gemeinsamen Feind namens Apartheid kämpfte. Der Feind war weiß und kam mit Gefangenentransportern und Panzerfahrzeugen, den berüchtigten Casspirs, um die schwarze Bevölkerung zu spalten.

Nach dem Prinzip „teile und herrsche“ wurden die nach Soweto zwangsumgesiedelten Menschen je nach Ethnie verschiedenen Stadtvierteln zugewiesen: Shanganis etwa durften nur in Chiawelo, Pimville Zone 5, Meadowlands Zone 5 und 10 leben; Angehörige der Sotho oder Tswana in Mapetla und Phiri; Zulus in Dube, Zola, Emdeni oder Dobsonville. Die 49 Stufen des Oppenheimer-Turms stehen für die 49 Bezirke, in die Soweto unterteilt war.

Vor 1994 gab es in Soweto No-go-Areas für unterschiedliche Ethnien. Manchmal waren sie nur durch eine Straße voneinander getrennt: Naledi, das Sotho-Viertel zum Beispiel, und Zola, wo Zulus wohnten. Die Be­woh­ne­r:in­nen waren Todfeinde, die mit Messern aufeinander losgingen – im Gegensatz zu heute waren Schusswaffen selten. Ehen zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen waren nicht gern gesehen; die Apartheidpolitik sorgte für Hass zwischen den Ethnien.

Für mehr als eine Million Menschen gab es in Soweto nur drei Schwimmbäder, in Senaone, Pim­ville und Orlando-West. Das nächste für uns war in Senaone, einem Zulu-Viertel. Wenn Leute aus anderen Gegenden, Venda und Shanganis aus Chiawelo zum Beispiel, zum Schwimmen dort hingingen, wurden sie schikaniert. Ich erinnere mich, wie ich Ende der 1980er Jahre mit Freunden fröhlich im Wasser planschte, während ein paar Typen unsere Kleidung stahlen und damit verschwanden. Wir mussten im Badezeug nach Hause laufen.

Im Übrigen war Soweto unter dem bis 1986 gültigen Zuzugskontrollgesetz (Influx Control Act) als „weißes Gebiet“ deklariert: Schwarze durften dort kein Haus besitzen, die Regierung verpachtete uns die Häuser für 99 Jahre. Als 1994 der ANC an die Regierung kam, versprach er den Be­woh­ne­r:in­nen Besitztitel für die Häuser, in denen sie seit den 1950ern lebten. Über die Hälfte der Haushalte bekamen sie, wir auch. Andere warten bis heute darauf. Das ist einer der Gründe, warum der ANC in seiner einstigen Hochburg so viele Wählerstimmen an die neuen Parteien, die Democratic Alliance (DA) und die Economic Freedom Fighters (EFF), verloren hat.

Meine Mutter hat mir erzählt, dass unser Hause in Chiawelo bei ihrem Einzug 1963 keine Fenster, keine Türen, und nicht einmal einen Fußboden hatte. Drinnen wuchs hohes Gras – und es gab Schlangen! Da mein Vater als Putzmann bei der Post sehr wenig verdiente, ging meine Mutter mit ihren Freundinnen zur nächsten Farm in Pimville und stahl Kuhdung, um den Boden damit auszulegen. Dabei wurde sie vom Hofhund gebissen, seither trägt sie ihre Narbe der Armut auf der Hand wie ein hässliches Tattoo.

Das war damals. Soweto hat sich verändert. Mancherorts, wie eben in der Vilakazi Street, lassen die Namen nicht mehr an Elend, Elendssiedlungen, staubige Straßen, schwarze Rauchsäulen, Verbrechen, Verkommenheit, Armut, Apartheid und Hässlichkeit denken. Anscheinend haben es die Leute wirklich geschafft, das Vergangene hinter sich zu lassen; die Gesichter und neuen Gebäude legen Zeugnis davon ab. Die 49 Stufen des Oppenheimer-Turms repräsentieren das Soweto der Nach-Apartheid-Ära nicht mehr.

Viertel wie Protea Glen, Snake Park, Bram Fisherville und andere haben sich der wachsenden Townships angeschlossen. Die gleichförmigen Vierraumhäuser von früher wurden umgebaut und vergrößert. Alle Straßen sind befestigt und alle Häuser haben Elek­tri­zität, sogar die Wellblechhütten. Die ethnische Zugehörigkeit spielt beim Wohnort keine Rolle mehr. Man muss kein Zulu mehr sein, um in Zola, und kein Xhosa, um in Emdeni zu wohnen. Und das Heiraten untereinander hat zur unverwechselbaren Identität und Vielfalt Sowetos beigetragen.

Soweto ist eine richtige Stadt geworden. Vor 1994 musste man zum Einkaufen nach Kliptown, Lenasia, Johannesburg City oder High Gate fahren, Shoppingmalls gab es hier nicht. Heute gibt es mehr als 30 davon, die größte ist die Maponya Mall. Bank oder Kino sind fußläufig zu erreichen. Die Leute wollen hier leben und investieren in ihr Zuhause. Verkehrstechnisch sind wir durch ein zuverlässiges Schnellbussystem, täglich fahrende Züge, Uber und Minibustaxis gut angebunden. Die größten Probleme in Soweto sind heute Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Drogenabhängigkeit, auch unter Kindern. Jugendliche finanzieren ihre Sucht mit allen möglichen Straftaten, das ist in Soweto und ganz Südafrika heute traurige Realität.

Die Geschichte von Soweto, die hoffnungsvolle und die dunkle, zieht auch heute noch Menschen an wie ein Magnet. Für mich ist sie wie ein wunderbarer Roman mit einer tollen Handlung, der in Ihrem Regal steht und darauf wartet, gelesen zu werden. Als alter Sowetoer habe ich das Gefühl, dass die Leute, die ausschließlich die Vilakazi Street besuchen, nur den Klappentext des Romans lesen und dann denken, sie wüssten Bescheid.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Niq Mhlongo ist Journalist und Schriftsteller aus Südafrika. Zuletzt erschien: „For You, I’d Steal A Goat“, Kapstadt (Kwela Books) 2022.

Vom 26. bis 28. August wird Mhlongo beim African Book Festival in Berlin zu Gast sein. Die längere Originalfassung dieses Textes erschien zuerst im Guardian.

© Niq Mhlongo; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.06.2022, von Niq Mhlongo