07.04.2022

Tango ist nicht nur ein Tanz

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Tango ist nicht nur ein Tanz

von Jean-Louis Mingalon

Tangoshow in Buenos Aires LOTHAR M. PETER/akg-images
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Der Tango ist ein Tanz, klar. Er ist auch Gesang, Musik, Poesie. Und es heißt, er stamme irgendwie aus Argentinien. Wenn man die Paare beobachtet, die ihre Choreografie des sublimierten Begehrens in den Raum zeichnen, fragt man sich nicht unbedingt, wie er entstanden ist – und noch weniger, ob er irgendetwas mit Politik zu tun hat.

Es begann um 1870. Die beiden Länder am Ufer des Rio de la Plata, Argentinien und Uruguay, waren agrarisch geprägt und sollten modernisiert werden. Dafür warben die Regierungen in großem Stil Arbeitskräfte aus dem Ausland an, vor allem Männer aus Italien und Spanien. 1870 hatte Buenos Aires noch 250 000 Einwohner, 30 Jahre später waren in den Häfen von Buenos Aires und Montevideo 1,5 Millionen weitere Menschen angekommen.

Sie drängten sich am Stadtrand in elenden Gemeinschaftsunterkünften, den conventillos. Um einen Innenhof mit einer Wasserstelle lagen Räume, klein wie Klosterzellen. Diese beengten und ungesunden Wohnverhältnisse, in denen Promiskuität und Prostitution herrschten, existierten bis Anfang der 1920er Jahre.

Die Neuankömmlinge bildeten zwar Communitys, aber in den Conventillos und bei der Arbeit kamen sie auch mit anderen Sprachen, anderer Musik und anderen Instrumenten in Kontakt. Sie begegneten einer schwarzen Bevölkerung, die nach ihrer eigenen Musik tanzte. Die aber nahm stetig ab – wegen der hohen Kindersterblichkeit, Epidemien wie Cholera und Gelbfieber und Kriegen, in denen Schwarze und Indigene als Kanonenfutter verheizt wurden.

Die Nachfahren afrikanischer „Sklaven“, von denen einst hunderttausend im Jahr am Rio de la Plata angekommen waren, machten noch Mitte des 19. Jahrhunderts ein Drittel der argentinischen Bevölkerung aus. Heute sind es 0,4 Prozent. Ähnlich in Uruguay, wo heute noch 8 Prozent der Bevölkerung Schwarze sind.

Die Einwanderer trafen außerdem auf die armen Nachfahren spanischer Kolonialisten, die man criollos nannte, und auf die gauchos und payadores, die vom Land in die Großstadt gezogen waren. Letztere verdingten ihren Lebensunterhalt als fahrende Sänger, die bei Gesangswettbewerben mit improvisierten Liedern, den sogenannten payadas, auftraten. Es gibt sie noch heute in Lateinamerika.

Die kubanische Habanera, der afrikanische Candombe, die Tanzmusik der Roma, die italienische Canzone und der Gesang der Payadores flossen in neue musikalisch-choreografische Formen. Nach und nach entstanden daraus die drei Formen des Tango Milonga, Tango argentino und Vals. In den Höfen der Conventillos oder auf der Straße hörte man die Drehorgeln oder Trios aus Gitarre, Geige und Flöte spielen, wobei an die Stelle der Flöte bald das Bandoneon trat, das aus Deutschland kam und zum typischen Tango-Instrument wurde.

Das männliche Proletariat am Rio de la Plata traf sich in den Spelunken oder Bordellen, um mit den einzigen Frauen, die dort verkehrten, zu tanzen. Prostituierte waren die ersten Tangotänzerinnen.

Nur die Musikerinnen mussten sich anfangs als Männer verkleiden, um öffentlich auftreten zu können. Nach und nach spielten die Sängerinnen und Akkordeonspielerinnen aber eine immer wichtigere Rolle. Und irgendwann gaben sogar Frauen den Anstoß für das spezielle Verhältnis zwischen Führen und Folgen im Tango. Damals konnte man allerdings noch oft Männerpaaren dabei zugucken, wie sie neue Schritte für die Abende in den Tanzdielen einübten. Diese Sitte hielt sich lange, auch in den politischen Phasen, als der Tango offiziell verboten war.

Anfang des 20. Jahrhunderts betrachtete die herrschende Schicht den Tango, diese Schöpfung der Armen aus den Vorstädten, mit einer Mischung aus Neugier, Misstrauen und Sorge. Doch mit der Zeit war man damit einverstanden; denn wenn die Allerärmsten tanzten, kamen sie jedenfalls nicht auf andere Gedanken. So wurde der Tango zu einer Mode, die sich rasch verbreitete und auch einen Teil der mittleren und gehobenen Schichten erfasste.

In Frankreich verlief die Entwicklung genau umgekehrt. Die Schwärmerei begann an einem Abend im Jahr 1911 in einem Salon der vornehmen Pariser Gesellschaft. Der junge argentinische Schriftsteller Ricardo Güiraldes sollte vorführen, was es mit diesem neuen Tanz auf sich hatte. Er nahm eine Dame in die Arme und führte ein paar Schritte vor, was eine Art kollektiver Hysterie ausgelöst haben soll. Alle wollten unbedingt sofort diesen Tanz erlernen. Die Geschichten über diesen Abend machten schnell die Runde, die „Tangomanie“ erfasste die bessere Gesellschaft – und danach alle Schichten.

Die Tänzer vom Rio de la Plata wurden zu Königen des Pariser Lebens, wenngleich ein paar neidische fremdenfeindliche Untertöne nicht ausblieben. Die schärfsten Angriffe gegen den „verfluchten Tanz“ kamen von den Kanzeln. Der Figaro zitierte am 10. Januar 1914 den Bischof von Dijon, der diese „von den Kuhhirten in Buenos Ayres übernommene Mode im Namen der menschlichen Würde, der Moral und der Religion“ verurteilte. Dagegen hielt ein Mitglied der Académie française, der Dichter Jean Richepin (1849–1926), eine flammende Verteidigungsrede auf den Tango, in der er die in Frankreich geläufigen Vorwürfe brillant kontert.

Letzten Endes verlor die Kirche diesen Kampf, aber der „verfluchte Tanz“ wurde nur in sehr entschärfter und vereinfachter Form als Salon-Tango akzeptabel. Nach dem Ersten Weltkrieg ging seine Assimilierung weiter, ab den 1920er Jahren eroberte er einen großen Teil der Welt. Auch Kemal Atatürk tanzte bei der Feier zu seiner Amtseinführung als Präsident der türkischen Republik 1923 Tango.

In Argentinien geriet der Tango unter der Militärdiktatur (1930–1943) in die Fänge der Zensur – vor allem wegen des Lunfardo, des Slangs der Gauner und der Armen, der sich immer stärker in den Texten des Tango durchsetzte. Er verspottete das offizielle Spanisch, mischte Wörter in allen möglichen Sprachen und widersetzte sich so dem politisch gewünschten Ideal der nationalen Identität.

Der Tango wurde auch wegen seiner bisweilen „verführerischen“ Texte zensiert. Der große Tango-Komponist Enrique Santos Discépolo setzte mit seinem Stück „Cambalache“, was man als „Sammelsurium“ oder unverblümter als „Saustall“ übersetzen könnte, dem politischen Klima der damaligen Zeit ein unvergessliches Denkmal. Von ihm stammt auch der Satz „Tango ist der traurige Gedanke, den man tanzen kann.“

Zur selben Zeit triumphierte der romantische tango canción, den vor allem der französisch-argentinische Songwriter und Schauspieler Carlos Gardel (1890–1935) populär machte. Parallel dazu tauchte ein neuer Stil auf, den der Orchesterleiter Juan D’Arienzo, der „König des Takts“, aufgebracht hatte, und füllte die verlassenen Tanzsäle. Es war die Geburt des goldenen Tango-Zeitalters.

Wenig später erklärte ein Mann des Militärs, Präsident Juan Perón, den Tango zur Nationalmusik. Perón wurde 1946 von den unteren Klassen gewählt und machte Sozialpolitik für sie. Hin und wieder zitierte er Tangotexte in seinen Reden, und er förderte die Eröffnung von Tanzsälen in allen Vierteln. Er verstand, welche Bedeutung diese Musik und dieser Tanz für die Bevölkerung hatten. Tango war nicht nur Unterhaltung, sondern auch ein Ausdrucksmittel, sogar eine Lebensform.

Der Staatsstreich von 1955, mit dem der zunehmend autoritär regierende Perón gestürzt wurde, besiegelte zunächst den Untergang des Tangos: Die Militärmachthaber verboten alle Kundgebungen des Volkes, auch den Tango. Manche Orchester spielten weiter, auch das des Pianisten und Komponisten Osvaldo Pugliese (1905–1995), der Kommunist war und als Erster seinen Berufsstand gewerkschaftlich organisierte. Er saß vor, während und nach Perón immer wieder aus politischen Gründen im Gefängnis. Die Musiker seines Orchesters legten bei Auftritten während seiner zwangsweisen Abwesenheit stets eine rote Nelke aufs Klavier.

Von 1955 bis 1983 erlebte Argentinien eine furchtbare Phase politischer Instabilität und Gewalt. Während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 „verschwanden“ 30 000 Menschen, 15 000 wurden erschossen. Viele Musikerinnen und Musiker gingen ins Exil. Der Gitarrist und Sänger Juan Cedrón, der wie viele andere in Frankreich Zuflucht gefunden hatte, erfand mit seinem cuarteto eine intensive Musik voller Melancholie und Widerstandsgeist, zu der engagierte Texte von Autoren wie Julio Huasi, Raúl González Tuñón, Juan Gelman und Luis Alposta gesungen wurden. Diese Formation war lange eine künstlerische Verbündete der französischen Linken, und generell fand der Tango der Exilierten ein großes Echo. Der gezähmte europäische Salon-Tango entdeckte den argentinischen Tango neu.

Seit Beginn der 2000er Jahre gehört der argentinische Touristenmagnet Tango zum Logo der Stadtmarke Buenos Aires. 2009 hat die Unesco den Tango ins immaterielle Kulturerbe der Menschheit aufgenommen. Einst galt er als sündhaft und vulgär, zu sehr von ausländischen Einflüssen durchdrungen, nun wurde er zum Symbol der argentinischen Identität erhoben.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Jean-Louis Mingalon ist Journalist, Dokumentarfilmer und Co-Autor des „Dictionnaire passionné du tango“, Paris (Éditions du Seuil) 2015.

Le Monde diplomatique vom 07.04.2022, von Jean-Louis Mingalon