Türkische Justizfarce
von Yavuz Baydar
Am 25. April erging das Urteil im sogenannten Gezi-Prozess. Es hat die Hoffnung erstickt, dass es in der Türkei noch einen letzten Rest Gerechtigkeit geben könnte: Ein Istanbuler Gericht verurteilte den Kulturmäzen und Menschenrechtsverteidiger Osman Kavala zu lebenslanger Haft. Begründung: Er habe die Protestbewegung gegen die Überbauung des Geziparks finanziert, um „die Regierung zu stürzen“. Sieben Mitangeklagte, darunter die 72-jährige Architektin und Umweltaktivistin Mücella Yapıcı, wurden zu je 18 Jahren Gefängnis verurteilt.
Der Urteilstext ist ein Wust von unbelegten Behauptungen, die eine Verschwörung belegen sollen. Damit konstruiert das Gericht eine Verbindung zwischen allen Angeklagten, die nur eines gemeinsam haben: Sie sind engagierte Experten, die sich für die Stärkung der Zivilgesellschaft einsetzen. Osman Kavala sitzt schon viereinhalb Jahre im Gefängnis. Sein Verbrechen besteht darin, Projekte gefördert zu haben, die eine öffentliche Debatte über die dunklen Seite der türkischen Geschichte anstoßen sollen: über den Völkermord an den Armeniern, die Verfolgung der Kurden, die Konflikte mit den Nachbarstaaten.
Als nach 2005 die Debatte über den türkischen EU-Beitritt begann, eröffnete Kavala am Taksimplatz das „Cezayir Mansion“ für Meetings, auf denen sich Journalistinnen, Anwälte und politische Reformer über Konzepte der Demokratisierung austauschten. In all diesen Jahren war das ganze Gebäude verwanzt, wie ich später aus verlässlicher Quelle erfuhr. Der tiefe Staat wollte alles wissen, was in der Zivilgesellschaft diskutiert wurde.
Das Urteil im Gezi-Prozess belegt endgültig, wie vollständig die türkische Justiz der politischen Kontrolle unterliegt. Ein hoher Richter erzählte mir am Telefon, dass nach dem Putschversuch von 2016 „ultranationalistische Graue Wölfe, Eurasien-Ideologen und Islamisten in die höchste Ebene des Justizsystems eingerückt sind“. Kavala und die Gezi-Angeklagten büßen für ihren Versuch, das traditionelle Unterdrückungssystem herauszufordern. Die politischen Machthaber wollen an ihnen ein Exempel statuieren.
Das Urteil vom 25. April muss auch vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen betrachtet werden. In der Türkei mehren sich die Anzeichen einer nationalen Hysterie. Da ist erstens die hitzige, auch von den Oppositionsparteien angefachte Debatte über die syrischen Flüchtlinge. Da ist zweitens der Einfall der türkischen Streitkräfte im irakischen Kurdistan, während die Welt wie gebannt auf die russische Invasion in der Ukraine starrt. Und da ist drittens die beschleunigte Ermittlung gegen die prokurdische HDP – die drittgrößte Fraktion im Parlament –, die auf ein Verbot der Partei hinausläuft. Der HDP-Abgeordnete Garo Paylan wird massiv bedroht, seit er einen Gesetzentwurf zur Anerkennung des Genozids an den Armeniern vorgelegt hat.
Das Gezi-Urteil, das selbst ein Verbrechen darstellt, sollte ein letztes Alarmsignal sein – insbesondere für „den Westen“, der sich geschlossen gegen den russischen Autokraten stellt, zugleich aber den türkischen Machthaber immer noch hofiert.
Yavuz Baydar