12.05.2022

Sprache in Zeiten des Krieges

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Sprache in Zeiten des Krieges

von Katharina Döbler

Vorgeschlagen für den Denkmalsturz: sowjetisches Ehrenmal in Berlin, 1988 WERNER OTTO/picture alliance/united archives
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Nach einem kurzen, beschämten Schweigen im vergangenen Jahr sind sie wieder da, in Großbuchstaben geschrieben, besungen und gepriesen. Sie sind das, was uns von der Barbarei trennt, unser Distink­tions­merkmal gegenüber dem Rest der Welt: die westlichen Werte. Blau und gelb unterlegt, denn sie werden jetzt in der Ukraine verteidigt, nicht mehr am Hindukusch.

Im Gegensatz zu Afghanistan geht es allerdings nicht um nation building von außen, sondern um den Wunsch einer Mehrheit in der Ukraine selbst. Sie will einer europäischen Gemeinschaft angehören, die diese westlichen Werte für sich reklamiert und dabei für selbstverständlich hält, dass Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit auch Wohlstand mit sich bringen.

Dieser „Mythos von Europa“, schrieb der bulgarische Ökonom Stefan Kolev kürzlich in der Süddeutschen Zeitung, sei aus der Sicht der Osteuropäer in den 1990er Jahren und der Ukrainer von heute „der Mythos von einer besseren Welt, die man selbst kaum kennt“. Mythen haben den Vorteil, dass sie sehr dehnbar sind: Sie nehmen beliebig große Worte in sich auf und übernehmen sich nie. Sie werden nicht an Realitäten gemessen, weil sie über der Realität schweben. Und sie überleben mühelos jeden Untergang.

So wie der Mythos von Europa nach zwei Weltkriegen und einem jahrzehntelangen Kalten Krieg eher gewachsen als geschwunden ist. Die Zurückhaltung der allermeisten Deutschen im Hinblick auf Nationalismus schmilzt dahin, wenn es um Europa und das Recht und die Freiheit geht. Der patriotische Stolz der meisten Deutschen liegt im Konstrukt dieser mythischen Verbindung. Hier existiert ein großes WIR der Zugehörigkeit und ein großes demokratisches Selbstbewusstsein.

Und nun tobt ein russischer Angriffskrieg gegen ein Land, das den Anspruch erhoben hat, sich UNS anzuschließen – ein Anspruch, der abgewehrt wurde, das Land liegt ja von hier aus betrachtet ziemlich weit im Osten und die Bedenken waren groß. Aber nun, wo dort Menschen unter Bomben sterben, können wir nicht zusehen. Auch wenn wir in Syrien, in Tsche­tsche­nien, im Irak und andernorts dem Töten zugesehen haben, geschieht dies in unserer Nähe, die Getöteten sehen aus wie wir. Und dann, so geht das derzeit gebräuchliche Narrativ: Die Ukrai­ne wurde angegriffen, weil sie westliche Werte für sich reklamierte. Der Krieg, so der zwangsläufige Schluss, richtet sich eigentlich gegen UNS.

Die Ukraine, war kürzlich in der FAZ zu lesen, „hält die Front, die Europa von der Barbarei trennt“.

So wird jetzt oft geschrieben und gesprochen: eisern und wehrhaft.

„Wehrertüchtigung“, „Feigheit“, „hel­denhaft“. Ganz zu schweigen vom allgegenwärtigen „Slawa Ukrajini“ (Ruhm der Ukraine), das zahllose deutsche Twitter-User ihrem Profil und ihren Tweets hinzugefügt haben. Auch dieser geborgte Nationalismus ist Teil der Rüstung, die sich Europa nun anlegt. Das der Ukraine durch die russische Invasion aufgezwungene Heldentum gehört ebenfalls dazu, und es wird umstandslos in den Mythos Europa integriert. Die Verzweiflung, die Wut und die nationale Selbstbehauptung eines Landes im Krieg geht in Europas neue pathetische Sprache ein. „Wehrhaft“ sind Wir jetzt, „gemeinsam“, und zwar „koste es, was es wolle“. Es ist offensichtlich, dass diese Vokabeln nicht stimmen.

Sehr bald nach Beginn des Krieges kam die Forderung auf, den Himmel über der Ukraine zu schließen. Wiederholt wurde sie mit Nachdruck bei einer Kundgebung auf dem Berliner Bebelplatz Anfang März zwischen den Prachtbauten der Staatsoper und des Prinzenpalais, wo die Nazis 1933 Bücher verbrannten.

Die Stimmung in diesen Tagen war so, dass Wir angesichts des Schreckens mehr tun mussten, als Helme und Verbandszeug zu liefern. Es musste etwas Starkes, etwas Durchschlagendes sein. Und den Himmel zu schließen, vonseiten der Ukraine als militärische Maßnahme gefordert, hatte poetische Wucht und mythologische Größe. Aber man kann den Himmel nicht schließen, man kann nur Luftschlachten führen, was keineswegs poetisch ist, sondern mörderisch und unabsehbare Folgen hätte.

Hilflosigkeit gebiert symbolische Übersprungshandlungen. Ein Berliner CDU-Bezirksabgeordneter kam auf die Idee, das Thälmann-Denkmal einzuschmelzen und den Erlös in die Ukraine zu schicken. Eine andere wollte auch gleich das Denkmal mit dem kleinen sowjetischen Panzer an der Straße des 17. Juni in Berlin abreißen. Sogar an der University of Florida griff man auf diese Weise ins Kriegsgeschehen ein und benannte Ende März den Karl Marx study room um, so dass er jetzt den schlichten, des Bolschewismus und alles Russischen unverdächtigen Namen room 229 trägt. Commies lose again!, feierten rechte Plattformen diese erneute Niederlage des sowjetischen Kommunismus.

Erinnert sich noch jemand, wie während des Zweiten Irakkriegs, als mehrere europäische Staaten sich der Teilnahme verweigerten, in den USA French Fries in Freedom Fries umgetauft wurden? Nicht alle sprachlichen Veränderungen in Zeiten des Krieges sind so albern und vergleichsweise harmlos, falls Sprache je harmlos sein kann.

Wenn Sprache zu Waffen geschmiedet wird, ist es jedenfalls schwer, die richtigen Worte zu finden für die eigene Haltung. Was bedeutet dieses neue europäische Wir wirklich? Was daran ist mythologisch und was real, und wie kann ich mich, als denkendes, fühlendes und einer Identität bedürftiges Individuum in dieses Wir einfügen?

Die kürzlich verstorbene Schriftstellerin Joan Didion hinterließ ihren Leserinnnen den Satz: „Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke, was ich anschaue, was ich sehe und was das bedeutet.“ Das ist keine schlechte Methode.

An diesem sehr kalten Tag auf dem Bebelplatz versuchte ich unter ukrainischen, belarussischen und georgischen Fahnen zu verstehen, was es bedeutet, wenn eine Literaturnobelpreisträgerin sagt, dass in der Ukraine gerade ein Kampf des Lichts gegen die Finsternis im Gange sei. Swetlana Alexijewitsch ist die Verfasserin großartiger vielstimmiger Chroniken, eine davon heißt: „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“. Sie kommt aus einer ukrainisch-belarussischen Familie. Ich habe sie immer bewundert.

Vom Bildschirm herab forderte sie nun ein gemeinsames Handeln in diesem Kampf des Lichts gegen die Finsternis. Und wie am ersten Tag der Schöpfung schied sich das Licht von der Finsternis, eine mythologische Ordnung war da, und das Publikum applaudierte. Es war auf der Seite des Lichts.

So gern man sich auf dieser Seite sieht, was bei einem Angriffskrieg, den man nicht selbst unternimmt, ja nicht schwer ist: Diese mentale Grenzziehung, die in ihrer unerbittlichen Gradheit an koloniale Landaufteilungen erinnert, ist wie ein Strich durch eine ethisch vielfältig gegliederte Landschaft mit Bergschatten, Sümpfen und Ebenen. Westlich davon liegt Unsere Seite mit Werten, die wir tagtäglich verraten, zuletzt massenhaft und offensichtlich an den Flughafenzäunen von Kabul.

Als Boris Johnson, den die britische Schriftstellerin A. L. Kennedy wegen seiner zynischen Politik den „Todesclown“ nennt, an der Seite des ukrainischen Präsidenten durch ­Kiew schlenderte und mit routiniertem Lächeln ausgestreckte Hände ergriff, präsentierte auch er sich auf der Seite des Lichts. In einem ukrainischen Ort wurde deshalb eine Straße umbenannt: Die Wladimir-Majakowski-Straße heißt jetzt Boris-Johnson-Straße.

Wir sind nicht das Licht, nur weil wir keinen Angriffskrieg führen. Auch wenn es aus der Sicht eines Menschen, der in Belarus für die Meinungsfreiheit kämpfte und Familie in der Ukraine hat, zu dieser Zeit so aussehen mag.

Aus anderer Perspektive gibt es diese mythisch-moralische Grenzziehung nicht. Die Politologin Martha Bakwesegha-Osula aus Nairobi schrieb im Journal für Internationale Politik mit einiger Bitterkeit, der russische Krieg gegen die Ukraine erinnere daran, „dass die internationalen Reaktionen auf politische und wirtschaftliche Herausforderungen – auch in einer Welt, die in ihrer Ausrichtung vermeintlich multilateral ist – eher durch geostrategische Kalküle als durch menschenfreundliche Wertvorstellungen bestimmt werden“. Sie kommt zu dem Schluss, dass „dies tatsächlich eine Welt ist, in der jeder Kontinent und jede Unterregion für sich alleine dasteht“.

Bleiben wir also bei unserem Kontinent, bei diesem Wurmfortsatz von einem Kontinent, bei Europa. Wenn es nun um Geostrategie geht und nicht um das Selbstbestimmungsrecht der Völker, um Freiheitsrechte, um Demokratie, um einen Angriff auf eine mythologische Wertegemeinschaft, was bleibt dann von der leidenschaftlichen Parteinahme für die Ukraine außer der reinen Angst, selbst zum Ziel eines Angriffs zu werden?

Für uns Deutsche ist die Vorstellung attraktiv, mit Waffenlieferungen für die Ukraine (und die westlichen Werte) könnte die Barbarei, die unsere Vorväter dort angerichtet haben, irgendwie gesühnt werden. Die Vorstellung, wir könnten diesmal einen Krieg führen, zumindest aber unterstützen, der dem Guten diente, einen, bei dem wir auf der richtigen Seite stünden. Westlich des großen Strichs, der West und Ost, Gut und Böse trennt. Uns von Denen.

Oder wie mein Großonkel gesagt hätte: vom Russen. „Der Russe“, manchmal auch „der Iwan“, existierte unter kalten Kriegern und Weltkriegsveteranen sprachlich nur im Singular, pars pro toto, sie sind alle gleich. „Wenn der Russe kommt, wird es Nacht in Europa“, sagte mein Großonkel. Er sagte noch ganz andere Sachen, die ich nie in mein Vokabular übernommen habe. Die Existenz der Berliner Mauer kommentierte er mit den Worten: „Wenn die Bundeswehr nicht so eine Gurkentruppe wäre, hätten wir dem Russen das nicht durchgehen lassen.“ Und er sagte: „Wir hätten 45 gleich mit den Amis gegen den Iwan marschieren sollen.“

„In der Sprache berühren sich Erwartung und Erfüllung“, schreibt Ludwig Wittgenstein in Absatz 445 seiner „Philosophischen Untersuchungen“.

Die alte Feindschaft, auch die alte Angst vor Russland beziehungsweise der Sowjetunion beziehungsweise einem totalitären System macht es uns leicht, den verzweifelten Patriotismus und Nationalismus eines angegriffenen Landes zu übernehmen. Slawa Ukraijni. Der Bildungsrundfunk bringt uns ukrai­ni­sche Kultur nahe, in Konzerthäusern werden anstelle von russischen ukrainische Komponisten gespielt. Aber abgesehen davon, dass aus Nationalismus noch nie etwas Gutes gekommen ist: Es ist nicht unsere Nation. Es ist auch nicht unser Patriotismus.

Es ist vielleicht verlockend, einmal keine kritischen Abstriche machen zu müssen: Keine Vorsicht mehr im Umgang mit Nationalstolz. Dem Gefühl der Empörung, auch der Rachsucht, einfach nachgeben. Einfach mal simpel sein. Unkompliziert denken: Wir stehen auf der Seite des heldenhaften Volkes der Ukraine.

Mitte April schrieb Marlene Knob­loch in der Süddeutschen Zeitung von „durchschnittsdeutschen Halbpazifisten“, von Leuten, die verlernt haben, in Kategorien von Feinden und Helden zu sprechen.

Ich erinnere mich an eine Filmsequenz aus den ersten Kriegswochen, in der ein junger, ein sehr junger Mann in der Westukraine zu Wort kam. Er machte Handstand auf einer Hand, turnte in komplizierten Schrauben auf dem Klettergerüst eines Kinderspielplatzes. Er war Akrobat. Ich will kein Soldat sein, sagte er. Ich will nicht schießen.

Er hätte einen guten Bürger des mythologischen Europa abgegeben, frei und selbstbestimmt, wie er war.

Was mag er jetzt sein? Ein Soldat? Ein Verräter? Ein Feigling? Und wo mag er sein? Im Osten der Ukraine? Über oder unter der Erde? Und was von alledem würde ihn zum Helden machen?

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.05.2022, von Katharina Döbler