07.04.2022

Brief aus Vilnius

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Brief aus Vilnius

von Laurynas Katkus

Die russische Botschaft in Vilnius liegt jetzt an der „Straße der ukrainischen Helden“ CHRISTINE OLSSEN/picture alliance/tt news agency
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Am Donnerstag, dem 24. Februar, sollte nach pandemiebedingter Pause die Buchmesse von Vilnius beginnen, die größte Literaturveranstaltung der baltischen Ländern. An diesem Tag sollte ich meinen Erzählband vorstellen, den ersten nach zehn Jahren Pause. Ich sah der Vorstellung in angenehmer Erregung entgegen. Am Morgen erfuhr ich, dass der Krieg begonnen hatte.

Es war die eigenartigste Buchpräsentation meines Lebens. Die eigenartigste, spannendste, gruseligste – das alles trifft zu, drückt aber nicht das Wesentliche aus. Die Messe, bei der man einige zehntausend Besucherinnen und Besucher erwartet hatte, war leer und still. Die Lesungen waren ein wenig wie Nachtwachen und ein wenig wie Psychotherapiesitzungen, bei denen man versucht, über alles Mögliche zu sprechen, nur nicht darüber.

Seit jenem Donnerstag führe ich eine chaotische, zerstreute Existenz, die sich größtenteils und am intensivsten auf den Nachrichtenportalen und in den sozialen Medien abspielt. Der Morgen beginnt mit dem Warten auf ein Wunder. Positive Nachrichten bewirken eine Euphorie, die Meldungen über das Vorrücken der russischen Armee rauben einem den Schlaf. Niemals hätte ich gedacht, dass ich so lange und mit einer solchen Befriedigung Bilder von im Straßengraben liegenden Lkws, ausgebrannten Panzern und Ähnlichem anschauen würde.

Die Kriegshandlungen sind noch im Gang, doch es ist offensichtlich, dass langfristig, nicht allzu langfristig, Putin verlieren wird. Im Grunde hat er bereits verloren. Alles, was aus der Ukraine bei uns ankommt, belegt eine Entschlossenheit der Bevölkerung, die geradezu metaphysische Höhen erreicht.

Ich sage das ohne den Funken eines Zweifels, denn ich habe etwas, womit ich es vergleichen kann. Der Geist, von dem die Ukrainer erfüllt sind, ähnelt sehr dem Geist, den wir vor 30 Jahren während des blutigen Januars in Litauen verspürten. Das Handeln und Reden von Präsident Selenski erinnert stark an unser damaliges Staatsoberhaupt Vytautas Landsbergis, insbesondere an seine unvergessliche Rede aus dem Fenster des Parlaments im schrecklichsten Moment, am frühen Morgen des 13. Januar 1991, als die Erstürmung des Parlaments zu erwarten war.

„Yesterday all the past, /…/ but to-day the struggle. /… / Very well, I accept, for I am your choice, your decision. Yes, I am Spain“, schrieb der englische Dichter W. H. Auden in den 1930er Jahren in Reaktion auf den Spanischen Bürgerkrieg. Das Spanien von heute ist die Ukraine. Was dort geschieht, betrifft jede und jeden von uns, und es wird unumgänglich sein, eine Wahl zu treffen. Und es ist jetzt so klar wie nie, was der Versuch, „abseits zu stehen“, bedeutet.

Politiker sprechen von „Zeitenwende“ und über Fehler und Versäumnisse, die die Aggression vielleicht nicht ermöglicht, aber gewiss auch nicht aufgehalten haben. Alle haben da ihre Hausaufgaben zu machen. Die Deutschen zum Beispiel werden ihre Politik von „Wandel durch Handel“ analysieren, die positiven und negativen Veränderungen, die sie herbeigeführt und welches der Handel treibenden Länder mehr erreicht hat. Mich beschäftigt unterdessen am meisten, was wir in einer Sphäre übersehen haben, die nicht weniger wichtig ist als Politik und Militär: im öffentlichen Raum.

Soziale Medien sind einerseits ein egalitärer Raum, der an die direkte Demokratie des alten Griechenlands erinnert. Weder durch redaktionelle Filter noch durch geografische Barrieren eingeschränkt, bietet er jedem Individuum potenziell unbegrenzte Kommunikationsmöglichkeiten. Andererseits ist auch nicht erst seit gestern klar, dass er zugleich nahezu unbegrenzte Möglichkeiten der Manipulation eröffnet – durch Trollfabriken und dergleichen, aber auch durch die Algorithmen der sozialen Netzwerke selbst. Wir wussten das alles, aber irgendwie nur widerstrebend und theoretisch.

In unserem Denken hat sich ein als Toleranz getarnter Relativismus eingenistet. Aus Angst vor dem Vorwurf, undemokratisch zu sein, haben wir begonnen, Meinungsvielfalt zu simulieren, wo es sie in Wahrheit gar nicht gibt. So fügten etwa einige litauische Medien (vor dem Krieg) an das Ende ihrer Berichte über die Ukraine folgendes „Copy & paste“ an: „Der Westen beschuldigt Russland, einen Krieg im Donbass zu provozieren, Russland bestreitet dies.“

Und daran ist kein Informationskrieg schuld: Wir selbst haben uns anstelle einer klaren Position für einen Mischmasch entschieden. In Litauen wurde dies zusätzlich durch den traurigen Zustand der Medien verkompliziert. In einem kleinen und nicht gerade reichen Land ist es für unabhängige Medien schwer, über die Runden zu kommen, umso mehr als die Generation Internet daran gewöhnt ist, Nachrichten gratis zu bekommen. Die Öffentlichkeit, geprägt durch von Oligarchen orchestrierte Influencer-Kampagnen, kommt so nicht aus dem Sumpf von „Clickbait“-Geschwätz und primitiven Skandalen heraus.

Die Pressefreiheit ist einer der Grundsteine einer demokratischen Gesellschaft – bis zum Krieg schien diese These den meisten von uns richtig, aber nicht besonders aktuell. Die russische Aggression hat gezeigt, welche schrecklichen Folgen es haben kann, wenn man sie ignoriert. Erinnern wir uns daran, dass Putins erster Schritt bei der Festigung seiner Herrschaft die Usurpation der unabhängigen Fernsehkanäle war. Das Resultat jahrzehntelanger zielgerichteter Arbeit: eine gigantische Propagandamaschine, die das Gehirn der Mehrheit in Hackfleisch verwandelt hat.

Aber was sollen wir mit dem anfangen, was wir als „russisch“ bezeichnen? Nicht nur mit dem Staat, seiner Geschichte und Gegenwart, sondern auch mit russischen Freunden und Bekannten? Ich werde nicht so tun, als ob ich die Antwort wüsste. Wir, die Balten, haben schon lange gesehen, wie sich der Himmel über Russland verfinstert hat. Dennoch hatte wenigstens ich ein Fünkchen Glauben daran, dass in einem kritischen Moment die sprichwörtliche „weite russische Seele“ zur Wirkung kommen würde.

Leider haben wir stattdessen einen moralischen Kollaps auf allen Ebenen der Gesellschaft gesehen – die viel gepriesene „Offiziersehre“ lässt es zu, auf Wohnblocks, Krankenhäuser und Entbindungsheime zu zielen; Künstler, Intellektuelle und Prominente sprechen sich öffentlich für den Krieg aus; die überwiegende Mehrheit der Staatsbeamten verbleibt auf ihren Posten; und die Masse des Volkes wiederholt, so sie nicht in Uniform in ihren Radschützenpanzern sitzt, das schreckliche „sie schießen auf sich selbst“.

Zweifellos gibt es auch ein anderes Russland, das in Gefängnissen sitzt oder in der Emigration und das protestiert, ungeachtet der stalinistischen Strafen (fünfzehn Jahre für ein verbotenes Wort!). Doch es zeigt sich heute auch, wie klein an Zahl es ist, verglichen mit der Pro-Putin-Mehrheit.

Vor zehn Jahren habe ich im Essay „Moskauer Pelmeni“ über den Hang der Russen geschrieben, Zuflucht zur Selbsttäuschung zu nehmen; aber ich habe damals nicht geahnt, welches Ausmaß er erreichen würde. Denn die Informationslage in Russland, so schlecht sie auch sein mochte, war ja durchaus nicht mit der Situation in der Sowjetunion vergleichbar: Es gab Möglichkeiten, sich eine andere Meinung zu bilden.

In Russland flüchten sich seit einiger Zeit viele, um Zweifel am völkerrechtskonformen Verhalten des eigenen Staat zu ersticken, in simplen What­aboutism: Bomben auf die Ukraine? Und was war in Serbien?

Reicht das nicht, greift man zu Verschwörungstheorien, auf höchster Ebene wie am Küchentisch. Aber auch hier kommt nichts Neues, man recycelt die Paranoia der späten Sowjetzeit von den allgegenwärtigen US-Geheimdiensten, die alle anderen an der Nase herumführen. (Zweifellos handelt es sich dabei um eine Projek­tion der Ohnmacht der Russen, auch der Elite, gegenüber Putin). Moralische Infantilität, die Unfähigkeit, Verantwortung für die eigenen Handlungen zu übernehmen, geht einher mit großem Selbstmitleid und ebenso mit der Vorstellung, dass auch andere Mitleid mit ihnen haben müssen. Eine besonders groteske Form nimmt das heute an, wenn man sich zu den Bildern aus brennenden ukrainischen Städten das Gejammer über die Schließung russischer Kurorte anhören muss.

Ein methodisch angestachelter Groll und das Gefühl der Demütigung (der Zusammenbruch der UdSSR, das „auf die Knie gezwungene Russland“ der Putin’schen Propaganda) hat sich mit den Träumen von neuer imperialer Größe zu einem üblen Putin-Cocktail vermischt. Der litauische Komiker russischer Herkunft Oleg Shuraev hat beobachtet, wie selbst liberalen und aufgeschlossenen Russen nach ein paar Bier der Satz entschlüpft: „Aber wir sind doch so groß …“

Ich will hier keinesfalls dazu auffordern, Russen als Unmenschen zu betrachten und für alle Zeiten drei Kreuze über sie zu schlagen. Ich habe das Gegenteil im Sinn: Nach der Befreiung der Ukraine wird es unsere Pflicht sein, dieser Nation zu helfen, den Realitätssinn wiederzugewinnen und sich von des­truktiven Phantasmagorien und Phantomschmerzen zu befreien. Wenn wir zusehen und die Hände in den Schoß legen, wird an Putins Stelle ein anderer Führer treten und der Zyklus der Revanche wird sich wiederholen.

Der Versuch, Russlands imperiale Komplexe zu „verstehen“, hat uns in die Irre geführt. Es kommt darauf an, klar zu sagen, dass Russland derzeit keine „souveräne Zivilisation“, kein „großes Land“ ist, sondern ein moralischer Zwerg, ein grünes Männchen.

Es zu sagen – aber sich nicht abzuwenden. Zu warten. Zu beobachten. Helfen, wenn Hilfe gesucht wird. Denn nur dann, wenn das Gewissen der Russen – ich betone, nicht das Gewissen der Intelligenzija, sondern das der Mehrheit der Gesellschaft – sich regt, wenn diese Gesellschaft sich selbst eingesteht, was sie getan hat, kann sich ihr Zustand zum Besseren wenden.

Es wird genug Arbeit geben – nicht nur für die baltischen Länder, sondern für alle Europäer, von den großen Ländern vielleicht am meisten für die Deutschen, die aus eigener Erfahrung wissen, was historische Verantwortung und Gewissenserforschung bedeuten. Allerdings versteht es sich von selbst, dass den triftigsten Grund, das größte Recht und die Priorität hier die Ukrainer haben.

Aus dem Litauischen von Cornelius Hell

Laurynas Katkus ist litauischer Schriftsteller. Auf Deutsch zuletzt erschienen: „Moskauer Pelmeni“, Leipzig (Leipziger Literaturverlag) 2017.

Le Monde diplomatique vom 07.04.2022, von Laurynas Katkus