Die EU nach Merkel
Die Meisterin des Aufschiebens hat die zentralen Fragen zur Zukunft Europas unbeantwortet gelassen
von Wolfgang Streeck
Als Angela Merkel nach 16 Jahren im Amt abtrat, hinterließ sie eine bemerkenswert lange Liste offener Fragen, ungelöster Konflikte und latenter Krisen, die fast alle einen gemeinsamen Ursprung hatten: die komplexe Verschränkung von Problemen und Strategien der deutschen Innenpolitik mit denen der internationalen Politik auf europäischer Ebene.
Beispiele sind – in unsystematischer Reihenfolge – die Migrations- und Asylpolitik; das Verhältnis von nationaler Souveränität und einer angestrebten supranationalen Souveränität der Union; die Konstruktion der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) und deren fiskalisches Regime, insbesondere das Schuldenregime; die Rolle der EZB gegenüber der nationalen Fiskalpolitik; die wachsenden ökonomischen Disparitäten zwischen dem Zentrum der EWWU und ihrer Peripherie; die Energiepolitik und die Frage, wie der deutsche Ausstieg aus Atomenergie und Kohle und eine gesamteuropäische Energiewende zusammengehen sollen; die europäische militärische Kooperation, insbesondere Deutschlands und Frankreichs, und was sie für die Nato und die USA bedeutet; die zunehmende Spannung zwischen deutschem Atlantizismus und französischem Europäismus; die Reaktion beider Länder auf die Politik der USA gegenüber China und Russland, insbesondere angesichts des Energiebedarfs und der Exportinteressen Deutschlands.
Womöglich wird man sich in einigen Jahren an die Merkel-Ära als ein Goldenes Zeitalter erinnern, in dem es noch möglich war, potenziell polarisierende Entscheidungen zu vertagen, Dilemmata mit optimistischen Dementis zu verhüllen und Konflikte mit irgendwelchen – realen oder imaginierten, geliehenen oder gedruckten – Geldern zu verkleistern. Zum Teil mag das funktioniert haben, weil Merkel anscheinend über eine seltene Fähigkeit verfügte, mit Widersprüchen zu leben, den Kurs zu wechseln, ideologische Festlegungen zu vermeiden, Krisen auszusitzen, Hoffnungen am Leben zu halten, Symbol- statt Realpolitik zu betreiben – und ganz allgemein Vertrauen in eine Zukunft zu wecken, die so sehr im Ungefähren blieb, dass sie allen etwas versprach.
Dass Merkel auf dem Höhepunkt ihrer Macht innerhalb der EU informell eine unangefochtene Führungsrolle innehaben konnte, lag freilich nicht nur an ihrer Persönlichkeit. In der Ära Merkel entwickelte sich Deutschland – als unerwartete Folge der Währungsunion – zu Europas wirtschaftlichem Wachstumspol. Es wurde zum Modell für andere EU-Mitgliedstaaten auch deshalb, weil deren politische Klasse glaubte, das deutsche Vorbild nachahmen zu können und zu sollen. Deshalb konnte die Regierung Merkel es sich leisten, Konflikte und Widersprüche auszusitzen, jedenfalls bis zu einem bestimmten Punkt. Ihr beträchtlicher politischer Spielraum gestattete es, Probleme liegen zu lassen, gegensätzliche Verpflichtungen einzugehen und selbst dann noch auf Zeit zu spielen, als die Institutionen und Strategien der EU unter veränderten Bedingungen zunehmend dysfunktional wurden.
Hinzu kam eine Besonderheit der deutschen Innenpolitik: eine deutlich unterentwickelte oder besser: gehemmte öffentliche Diskussion über nationale Interessen, wobei schon der Begriff im gepflegten öffentlichen Diskurs keinen Platz hat. So gibt es in Deutschland bis heute so gut wie keine Auseinandersetzung über die „finalité“, also das Ziel und den Zweck der „europäischen Integration“, wobei diese nahezu allenthalben, völlig unabhängig von ihrer Richtung, als wünschenswert gilt.
Dass niemand die Frage stellt, wie sich Deutschland in eine voll ausgebaute EU einfügen wird, lässt sich wohl am besten mit der Selbstgewissheit eines Landes erklären, das mit der Zeit in eine quasiimperiale Vormachtstellung innerhalb Europas hineingewachsen ist. Eine Position, in der man glaubt, getrost erwarten zu können, dass sich die Dinge gemäß den deutschen Vorstellungen und Wünschen entwickeln werden. Imperiales Bewusstsein äußert sich vor allem auch in der stillschweigenden Gleichsetzung der eigenen nationalen mit den gemeinsamen Interessen des gesamten Empires, wobei sich Letztere wie selbstverständlich in „Werte“ verwandeln, von denen man annimmt, dass vernünftige Menschen gar nicht anders können, als sich mit ihnen zu identifizieren. Freilich kann sich Deutschland schon aus historischen Gründen nicht vorstellen, einzige Hegemonialmacht eines von Moldau bis Nordschweden reichenden Europas zu sein. Deshalb herrscht innerhalb seiner politischen Klasse weithin die Überzeugung, dass man die Führung in der EU nur im Verein mit Frankreich ausüben könne, also in einem System doppelter Hegemonie, das deutsche Frankophile als „Kerneuropa“ bezeichnen, volkstümlicher auch als französisch-deutsches oder deutsch-französisches Tandem.
Das Problem dabei ist, dass Deutschland und Frankreich unterschiedliche und letztlich unvereinbar scheinende Vorstellungen über Machtverteilung und Arbeitsteilung in diesem Tandem haben, sowohl über die Art der Institutionen – insbesondere was die Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie betrifft – als auch über die Rolle eines europäischen Imperiums in der weiteren Welt.
Frankreich will einen starken europäischen Staat
Aus Sicht Frankreichs, das nach dem Brexit der einzige EU-Staat mit Nuklearwaffen und einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat ist, läuft die europäische Integration auf die Bildung eines Staates hinaus, mit einer zunächst französischen und später französisch-europäischen geopolitischen Agenda. Dabei geht es letztendlich darum, die Unabhängigkeit eines souveränen Frankreichs als „europäische Souveränität“ auf ganz Europa zu erstrecken und mit europäischen Ressourcen zu fördern, ein Projekt, bei dem Frankreich zur Ergänzung seiner militärischen Macht und seines diplomatischen Prestiges auf die deutsche Wirtschaftsmacht angewiesen ist. Indem Deutschland für den ökonomischen Zusammenhalt der EU sorgt, soll es Frankreich ermöglichen, die internationalen Interessen und Positionen Europas zu definieren.
Deutschland dagegen sieht in der EU vor allem einen großen Markt und eine verlängerte Werkbank für seine Exportindustrie, und speziell in Osteuropa ein Reservoir billiger Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft, insbesondere den Dienstleistungssektor. Deshalb geht sein zentrales Interesse dahin, den Binnenmarkt und die Währungsunion zu erhalten und zu erweitern. Im Übrigen ist die EU für die deutsche Öffentlichkeit viel eher ein innenpolitisches wirtschaftliches als ein internationales politisches Thema. Das mag auch von den Restbeständen eines im Nachkriegsdeutschland weit verbreiteten Pazifismus herrühren, wie er sich heute auch noch in Japan findet. Dies spielt auch bei allen möglichen Konflikten mit Frankreich mit, etwa über das militärische Eingreifen in Mali oder Libyen und die Frage von Waffenexporten.
Besonders offensichtlich sind die Differenzen über die Zukunft der nationalen Souveränität innerhalb der Europäischen Union. Bei der großen Bedeutung, die der Binnenmarkt und die Währungsunion für Deutschland haben, legt die deutsche Politik allergrößten Wert darauf, dass in allen EU-Mitgliedstaaten für die Wirtschaft dieselben Regeln gelten. Dieses Prinzip der Isonomie setzt eine EU-weite Rechtsordnung voraus, über die ein unabhängiger supranationaler Gerichtshof wacht, um die Eingriffe einzelner Staaten in grenzübergreifende Märkte zu minimieren.
Das macht es erforderlich, politische in gerichtliche Entscheidungen zu übertragen – oder politische Entscheidungen wie gerichtliche aussehen zu lassen – und den politischen Willen der Mitgliedstaaten möglichst weitgehend den technokratischen Entscheidungen der EZB unterzuordnen. Und was die vier Grundfreiheiten des Binnenmarkts betrifft, also den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital (einschließlich des Kapitalverkehrs über die Grenzen der Union hinaus), so sind sie nicht nur zu schützen, sondern nötigenfalls noch durch den EuGH auszuweiten. Dazu muss die nationale Souveränität durch ein supranationales technokratisches Regime ersetzt werden.
Aus französischer Sicht beruht nationale Souveränität dagegen im Wesentlichen auf militärischer und politischer Macht – sprich: auf der Fähigkeit eines Staats, seinen Willen gegenüber anderen Staaten durchzusetzen. Soweit Frankreich noch über nationale Souveränität verfügt, wird, ja, kann es diese nicht aufgeben. Eine europäische Souveränität ist willkommen, aber nur auf dem Fundament französischer Souveränität, was Frankreich wie selbstverständlich zum Hegemon eines künftigen integrierten Europa machen würde.
Da der Aufbau eines europäischen Staates und das politische Projekt Europa für Frankreich den Vorrang vor Wirtschaftsfragen haben, muss die ökonomische Verfassung der Union dem Ziel dienen, Europa zu einigen, damit es eine unabhängige politische Rolle in der Weltpolitik spielen kann. Das setzt unter anderem voraus, dass die öffentlichen Finanzen des europäischen Staatensystems als politische und nicht als technokratische Angelegenheit behandelt werden. Auch muss durch das Zentrum sichergestellt werden, dass die peripheren Mitgliedstaaten funktionsfähig bleiben und gewillt sind, den strategischen Vorgaben des imperialen Zentrums zu folgen.
Es gibt einen zweiten Unterschied, der das Projekt eines französisch-deutschen Europas verkompliziert. Deutschland hat, gewollt oder genötigt, seine nationale Sicherheit weitgehend den USA überantwortet, die eigene Vorstellungen zur Architektur Europas haben. Heute ist das deutsche strategische Denken – oder was Macron die „strategische Kultur“ nennt – mehr denn je „atlantisch“ statt „gaullistisch“ geprägt. Das rührt zum Teil daher, dass Frankreich sich weigert, sein Atomwaffenarsenal unter einem europäischen Dach mit Deutschland zu teilen, und darauf besteht, dass diese Waffen allein Frankreich zu schützen haben, wo man es für undenkbar hält, Paris zu gefährden, um Berlin zu retten.
Wichtiger noch ist, dass Deutschland einer der ersten Staaten war, die den Atomwaffensperrvertrag von 1968 unterzeichnet haben, als Gegenleistung für die teilweise Rückgabe nationaler Souveränitätsrechte seitens der Westalliierten. Freilich wurde Deutschland dadurch keineswegs zu einer atomwaffenfreien Zone. Vielmehr dient es nach wie vor als Bollwerk der Nato, auf dessen Territorium immerhin 35 000 US-Soldaten stationiert sind und eine unbestimmte Anzahl US-amerikanischer Atomsprengköpfe lagern. Zudem unterhält die deutsche Luftwaffe im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe eine Flotte, die technisch in der Lage ist, in einem Atomkrieg feindliche Ziele mit US-Atombomben anzugreifen – was in Deutschland vielen bis heute als zusätzliche Sicherheitsgarantie gilt.
Eine dritte deutsch-französische Differenz, die einer effektiven gemeinsamen Hegemonie über die EU im Wege steht, betrifft die Frage, wie Europa auf die jüngsten globalen Entwicklungen reagieren soll: also auf den Niedergang der USA und den Aufstieg Chinas, mithin auf das Ende von Fukuyamas „Ende der Geschichte“ und der „Neuen Weltordnung“ von George H. W. Bush zu Beginn der 1990er Jahre. Angesichts der Entschlossenheit der USA, sich China entgegenzustellen, um ihre globale Hegemonie zu verteidigen oder wiederzuerlangen, steht Europa vor einer harten Entscheidung: Soll man sich diesem Kampf als regionale Hilfstruppe der USA anschließen oder soll man die Gelegenheit nutzen, sich von Washington irgendwie unabhängig zu machen, um in der globalen Rivalität der beiden Giganten die eigenen Interessen zu verteidigen?
Die diesbezüglichen Präferenzen der USA sind so offensichtlich wie die Frankreichs, die deutschen dagegen sind es nicht. Washington wünscht sich ein politisch geeintes Europa, um Russland im eigenen Interesse in Schach zu halten. Das läuft auf eine Art sekundären heißen oder kalten Krieg hinaus, in dem die EU möglichst viele der Länder, die an Russland grenzen, unter ihren ökonomischen Schirm nehmen soll.
Frankreich dagegen sucht eher eine Art europäischer Übereinkunft mit Russland nach der Formel: Respektierung der russischen Sicherheitsinteressen in Osteuropa und in der Kaukasusregion und als Gegenleistung freie Hand für die EU in Afrika und womöglich darüber hinaus. Dieses Konzept kommt aus französischer Sicht zwar zur Not auch ohne eine „immer engere Union der europäischen Völker“ aus, nicht aber ohne ein Deutschland, das ökonomische Unterstützung und fortgeschrittene Technologie beisteuert – und natürlich auch Bodentruppen für militärische Expeditionen in Afrika und anderen Weltregionen.
Das große Fragezeichen ist die deutsche Position: Wird Deutschland nach dem Ende der unipolaren Hegemonie der USA auf eine bipolare oder eine tri-, wenn nicht multipolare Welt setzen? Zur Irritation Washingtons hat sich die Merkel-Regierung mit Blick auf die deutschen Exportinteressen gehütet, das deutsch-chinesische Verhältnis zu beschädigen. Überdies hat sich Merkel 2011 im Zuge ihrer Bemühungen, die Grünen in das innenpolitische Zentrum zu integrieren, auf einen Ausstieg aus der Atomenergie festgelegt, auf den 2020 noch der Kohleausstieg folgte. Das verstärkt die Abhängigkeit von Russland, da Deutschland während einer potenziell langwierigen Transformation in eine CO2-freie Wirtschaft auf russisches Erdgas angewiesen ist.
Obwohl Merkel unter US-amerikanischem Druck umfangreichen Wirtschaftssanktionen gegen Russland zustimmte, hat sie es irgendwie geschafft, das Fenster für eine künftige Versorgung mit russischem Erdgas offen zu halten. Das erforderte ein geschicktes Manövrieren zwischen Russland und den USA, wobei Letztere von Frankreich und den meisten anderen EU-Mitgliedern unterstützt werden, einschließlich der Staaten Osteuropas, die Deutschland für seine fortwährende wirtschaftliche Expansion braucht.
Was Frankreich dabei offenbar die größten Sorgen macht, ist ein deutscher „Sonderweg“, der den Nachbarn innerhalb der EU noch dominanter und zudem unabhängig vom französischen Atomstrom machen würde. Zudem dürfte in Paris die Verstimmung darüber anhalten, dass Merkel den deutschen Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen hat, ohne andere EU-Staaten zu konsultieren oder zu informieren.
Die Bundeskanzlerin hat ein Deutschland zurückgelassen, das sich vor einer schwierigen Alternative sieht: zwischen einem Ausgleich mit China und Russland – was dem Konzept der USA von einer bipolaren künftigen Weltordnung zuwiderläuft – und einem nur schwachen Vertrauen in eine multipolare Welt mit einem „souveränen Europa“ unter französischer Führung, das die nationale, aber auch die Energiesicherheit Deutschlands nicht garantieren kann und ohnehin zu klein für die deutsche Wirtschaft ist.
Was ist hier von der neuen deutschen Regierung zu erwarten? Wird sie mehr „prowestlich“ oder mehr „proeuropäisch“ sein: transatlantische Filiale der USA oder Zentrum eines wirtschaftsliberalen europäischen Imperiums, mit eigenem, französisch gefärbtem politischem Willen und auf ungewissem Kurs in Richtung auf einen europäischen Superstaat? Merkel hat auch diese Schlüsselfrage ausgesessen, indem sie vorgab, auf beiden Seiten gleichzeitig zu stehen. Das erforderte zweierlei: Sie musste Macron auf Distanz halten, ihm aber zugleich mit beruhigenden Signalen und ermutigenden Gesten helfen, vor dem eigenen Volk das Gesicht zu wahren. Und sie musste darauf vertrauen, dass Trump nur eine Episode, ein historischer Unfall bleibt.
Wie lange eine Regierung Merkel dies angesichts der wachsenden französischen Frustration und der zunehmenden Unzuverlässigkeit der USA hätte durchhalten können, lässt sich nicht sagen. Klar ist aber, dass die zwei Seelen in ihrer Brust (um Goethe zu zitieren) als widerstreitende Tendenzen innerhalb der neuen Berliner Regierung fortexistieren. Wobei die Grünen und ihre Außenministerin sich entschieden proamerikanisch – und damit auch antirussisch und antichinesisch – geben, also letztlich eine „wertebasierte“ Außenpolitik auf der Linie von Clinton und Obama proklamieren. Merkels Position dagegen wird heute weitgehend von der Mehrheits-SPD repräsentiert. Olaf Scholz wird deshalb zwei konkurrierende Ansätze deutscher Außenpolitik zu versöhnen haben, die nicht mehr wie unter Merkel in der eigenen Brust verschlossen bleiben, sondern nunmehr als Konflikt zwischen zwei Koalitionspartnern zunehmend offen zutage treten.
Das aktuell wohl strittigste Thema ist die Gaspipeline Nord Stream 2. Die Grünen haben ihrem Wähleranhang versprochen, das Projekt zu verhindern, und zwar aus moralischen, sprich antirussischen, ebenso wie aus ökologischen Gründen. Im ersten Punkt sind sie auf einer Linie mit den USA und insbesondere dem US-Senat. Aber gegen die Gaspipeline sind auch viele EU-Mitgliedsländer, und zwar mit Unterstützung der Europäischen Kommission. Wobei Polen und die baltischen Länder strategische Gründe anführen, während Frankreich wohl seinen Atomstrom europaweit verkaufen will, jedenfalls wollte, solange es noch genug davon gab.
In Deutschland ist Nord Stream 2 mittlerweile faktisch zu einem SPD-Projekt geworden, und man kann sich schwer vorstellen, wie Scholz sich freiwillig auf eine Strategie verpflichten ließe, die erheblich höhere Energiekosten für die deutschen Haushalte bedeuten würde, zumal für die niedrigen Einkommensgruppen, nicht zu vergessen die besonders energieintensive Fertigungsindustrie.
Was kann Frankreich und in seinem Gefolge Italien und die anderen Südstaaten der Währungsunion von der neuen deutschen Regierung erwarten? Olaf Scholz wird, wie Merkel, entschlossen sein, den Euro zu retten, was voraussetzt, dass kein Mitglied der Währungsunion jemals in die Lage gerät, seine Schulden nicht bedienen zu können. Aber Scholz wird wie jeder gute Geschäftsmann alles tun, um das, was er will, zum niedrigstmöglichen Preis zu bekommen. Das bedeutet sehr wahrscheinlich, dass Deutschland nach zähen Verhandlungen, in denen Finanzminister Lindner eine maßgeblich Rolle spielen wird, neuen Formen einer indirekt-direkten Staatsfinanzierung durch die EZB mit weniger restriktiven Regeln für die Staatsverschuldung zustimmen wird.
Deutschland will einen wachsenden Wirtschaftsraum
Desgleichen wird man wohl neue EU-Kreditlinien bewilligen, um den Corona Recovery Fund zu refinanzieren, und zwar wenn nötig (und es wird nötig sein) ein zweites, drittes oder n-tes Mal. Schließlich gilt die Anhäufung von Schulden mittlerweile als Standardrezept bei Krisen demokratischer Staaten unter kapitalistischen Bedingungen – das man nun sogar wohl oder übel auch im Heimatland der schwäbischen Hausfrau zu schätzen beginnt.
Aus Sicht von Scholz und Lindner erfordert dies keine neuen Institutionen und keine Revision der Unionsverträge, jedenfalls so lange eine weitere Neuverschuldung durch Not- oder Katastrophenfälle, von denen es viele geben wird, gerechtfertigt werden kann. Ob dieses Konzept freilich aufgehen wird, ist eine offene Frage. Das gilt speziell für Frankreich, wo das proeuropäische Lager um Macron vorzeigbare institutionelle Veränderungen zu brauchen glaubt, um seine politische Stärke auf EU-Ebene zu demonstrieren. Allerdings wird die wachsende Zahl französischer EU-Gegner befinden, dass selbst weitgehend revidierte Verschuldungsregeln noch immer zu restriktiv sind.
Aus deutscher Sicht ist das willkommenste Konzept das der „Integration durch Recht“, also mittels extensiver Auslegung der Zuständigkeiten der EU gegenüber den Mitgliedstaaten durch den Europäischen Gerichtshof. Diesen Ansatz befürworten vor allem die Grünen in der Bundesregierung und im EU-Parlament. Anderswo und speziell in Frankreich wird dies anders gesehen. Eine auf Regeln basierende „Integration durch Recht“ kann vielleicht einen Markt etablieren; einen Staat aufzubauen, zumal unter Führung Frankreichs, verlangt dagegen eine auf Diskretion bedachte „Integration durch Politik“.
Dieser Gegensatz lässt ein Mit- und Gegeneinander von Kontinuität und Konflikt erwarten, ohne dass eine fertige Alternative in Sicht wäre, also ein umfassender Entwurf institutioneller Reformen. Eine Folge wird sein, dass die von der neuen deutschen Regierung zu bestreitenden Kosten für den Zusammenhalt der Union in ihrer Gestalt als zwischenstaatliches Imperium steigen werden, während zugleich die Aussichten sinken, dass sich Frankreich an ihnen beteiligt.
Das Thema der europäischen Integration wird in der deutschen Öffentlichkeit immer noch vor allem als Erziehungsauftrag diskutiert, wobei andere Länder kulturell und ökonomisch von Deutschland lernen sollen. Es erscheint jedoch absehbar, dass ein Teil der deutschen Innenpolitik sich zukünftig um die Frage drehen wird, ob der Preis, den Deutschland für den Erhalt der Währungsunion zu zahlen hat, nicht die imperiale Rendite übersteigt, die das Land aus seiner Vormachtstellung in der EU bezieht. Dies gilt umso mehr, als selbst Deutschland auf Finanzprobleme von bislang unbekannten Dimensionen zusteuert, auch, aber nicht nur infolge der Coronakrise. In ihrem Koalitionsvertrag unter dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“ verspricht die neue Regierung nicht nur eine CO2-freie Wirtschaft, sondern auch tiefgreifende Reformen in der öffentlichen Verwaltung, umfassende Investitionen in die lange vernachlässigte Infrastruktur, in das Erziehungs- und Gesundheitswesen, die wissenschaftliche Forschung und vieles mehr. Rechnet man noch die durch die Erderwärmung verursachten Kosten hinzu, etwa für Maßnahmen gegen Überschwemmungen und Hitzewellen, könnte für „Europa“ wenig oder gar kein Geld in der Kasse bleiben.
Es zeichnet sich ab, dass die schwierige Aufgabe, die Wirtschafts- und Währungsunion zusammenzuhalten, innerhalb und mit den vorhandenen Institutionen geschafft werden muss – oder nicht geschafft werden wird. Letzteres erscheint heute aus vielerlei Gründen realistischer. Auf institutioneller Ebene hat sich EU-Europa womöglich in eine Ecke gemalt, aus der es sich durch einen Kurswechsel nicht so leicht hinausmanövrieren kann. Statt an den Integrationsillusionen der 1990er Jahre festzuhalten, erfordert die Reintegration der Union womöglich andere Rezepte: weniger „Integration durch Recht“ und weniger Druck seitens einer „werteorientierten“ Außen-beziehungsweise europäischen Innenpolitik sowie die Wiederherstellung einer gewissen ökonomischen und währungspolitischen Souveränität für die weniger konkurrenzfähigen Mitgliedsländer vor allem des Südens. Das würde die unzureichenden Kompensationsleistungen, die das Zentrum der Union ihren Peripherien noch zu gewähren vermag, wiederum kompensieren.
Eine Lockerung der Integration um ihrer Rettung willen würde bedeuten, vom imperial-hierarchischen Modell eines europäischen Staatensystems zu einem Kooperationsmodell voranzuschreiten, und das angesichts etlicher großer Unbekannter: die künftige Konfrontation zwischen den USA und Russland respektive China; der Kampf zweier Linien in den USA; und die innenpolitische Entwicklung in Frankreich in Reaktion auf die aus Deutschland zu erwartenden neuen Enttäuschungen. Nach Merkels Abgang schlingert das europäische Staatsschiff, ohne sicher sein zu können, dass sein Staat tatsächlich einer ist, in stürmischer See. Gesteuert wird es von zwei Kapitänen, die unterschiedliche Häfen ansteuern, unterschiedliche Karten benutzen und sich auf unterschiedliche Kompasse verlassen – mit einer Mannschaft, die zunehmend bezweifelt, ob sich das Risiko der Reise überhaupt lohnt.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Wolfgang Streeck ist emeritierter Professor der Soziologie und Senior Research Associate am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Zuletzt erschien von ihm „Zwischen Globalismus und Demokratie“, Berlin (Suhrkamp) 2021. Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung des englischen Originals.