10.02.2022

Offline in Syrien

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Offline in Syrien

Der Zugang zum Internet ist kompliziert, gefährlich und für viele überlebenswichtig

von Synaps

In einem Vorort von Damaskus, Mai 2018 MIKHAIL VOSKRESENSKIY/picture alliance/Sputnik/dpa
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In Syrien online zu gehen, ist ein denkbar schwieriges Unterfangen. Schon so triviale Dinge wie ein Sprachanruf oder das Streamen eines Youtube-Videos können ungeheuer schwierig und kostspielig sein. Die Telekommunikationsinfrastruktur ist marode, die Wirtschaft am Boden, das Regime ein Überwachungsstaat. All dies plus die Sanktionen des Westens sorgen dafür, dass jeder digitale Routinevorgang zu einem komplizierten Hindernislauf wird.

Dabei sind Smartphones und 3G-Verbindungen hier keineswegs ein Luxus. In einem Land, in dem die öffentliche Daseinsvorsorge zusammenbricht, das Sozialgefüge sich auflöst und der Staat die Bevölkerung ausplündert, können sie über Leben und Tod entscheiden.

Das Internet zu nutzen, bedeutet in Syrien weit mehr als surfen und browsen. Man muss sich mit allen Tricks durch einen Wust praktischer Probleme kämpfen, mit Hilfe von Notlösungen und Improvisationen. Es kommt vor, dass das gebrauchte Billiggerät, auf das man monatelang gespart hat, weil man unbedingt darauf angewiesen ist, binnen Kurzem den Geist aufgibt. Es kann passieren, dass man eine bestimmte Software wegen der Sanktionen nicht herunterladen kann und sich mit der illegalen Version – vom florierenden syrischen Markt für gecrackte Software – Spyware auf den Rechner holt. Was bedeutet, dass man fortan bei jeder Internetaktivität überwacht wird.

Das Ganze mutet an wie ein Videospiel, bei dem die Anforderungen nach jeder Lösung nur noch größer werden. Die erste Hürde auf dem Weg zum Anschluss sind die Preise. In Damaskus kostet ein preiswerter neuer Laptop zwischen 200 bis 500 US-Dollar – also bis zu über eine Millionen syrische Pfund. Zum Vergleich: Ein normaler Beamter verdient im Monat um die 75 000 Pfund. Theoretisch müsste ein Staatsdiener also jahrelang auf einen Computer sparen.

Viele Leute begnügen sich mit ihrem Smartphone, auch wenn sie beruflich bessere Hardware nötig hätten. „Dokumente bearbeite ich mit meinem Mobiltelefon“, erzählt ein professioneller Korrekturleser in Damaskus. „Das ist gerade bei arabischen Texten viel umständlicher, aber einen Laptop kann ich mir nicht leisten.“ Schon bescheidene Mobilgeräte kosten mehrere hunderttausend Pfund – also rund 100 Dollar aufwärts. Das neues­te iPhone ist für knapp 10 Millionen zu haben: für syrische Verhältnisse eine nahezu astronomische Summe, für die ein Beschäftigter im öffentlichen Dienst ein gutes Jahrzehnt arbeiten muss.

Die irren Preise resultieren vor allem aus der spektakulären Abwertung des syrischen Pfunds, wodurch importierte Waren ständig teurer werden. Zusätzlich erschwert wird die Einfuhr von Geräten – insbesondere westlicher Qualitätsmarken – durch die Sanktionen der USA und der EU. Die syrischen Importeure beschaffen sich deshalb häufig Schmuggelware und geben die höheren Kosten dafür an die Abnehmer weiter. Zudem wird der Importmarkt in weiten Teilen von Händlern kontrolliert, die mit dem Regime zusammenarbeiten und die Preise nach Belieben in die Höhe treiben können. Auch die syrischen Behörden selbst drehen an der Preisspirale mit, indem sie importierte Elektronik mit happigen Abgaben belegen: Auf ein Smartphone für 350 000 Pfund können 70 000 Pfund Steuern – ein weiteres Beamtengehalt – fällig werden.

Ist die Hardware glücklich angeschafft, kommt das nächste Problem: die Stromversorgung. Selbst privilegierte Leute haben in 24 Stunden allenfalls 12 Stunden Strom. Bei vielen sind es pro Tag nur ein paar Stunden, in denen sie ihre Geräte aufladen oder den WLAN-Router nutzen können. Immer wieder hört man die Klage: „Meine Arbeit kann ich erst machen, wenn der Strom wieder da ist.“ Um die Ausfallzeiten zu überbrücken, funktionieren manche Syrer ihre Autobatterie zur behelfsmäßigen Powerbank um – was nur bedingt funktioniert und Computer und Smartphones irreparabel beschädigen kann.

Selbst wenn Strom da ist, wird der Internetzugang durch die schwache Telekommunikationsinfrastruktur erschwert. WLAN-Verbindungen erfordern funktionierende Erdleitungen, die es in weiten Teilen Syriens aber nicht gibt. Ein Fahrer in Damaskus berichtet, dass er seine Wohnung im Vorort Ain Tarma verlassen musste und nun mit der Rückkehr zögert, weil das Telekommunikationssystem noch nicht repariert wurde: „Nach Hause zurückzugehen, bevor die Erdleitungen wieder angeschlossen sind, wäre ein Problem. Ohne Internet können wir nicht mehr existieren – es ist ein Grundbedürfnis geworden.“

Die noch intakten Erdleitungen sind überlastet und werden schlecht gewartet; entsprechend dürftig ist die Übertragungsleistung. Das syrische Ministerium für Kommunikation und Technologie verschärft das Problem zusätzlich, indem es Syrien zum absoluten Tiefstpreis an das World Wide Web anbindet: „Wir kaufen billige Verbindungen von unseren Internetprovidern in der Türkei und auf Zypern“, sagt ein Experte. „Um die gelieferte Qualität scheren wir uns nicht; die Menschen zahlen so oder so, weil sie keine andere Wahl haben.“ Nach Aussage einheimischer Techniker sind auch die Upload-Geschwindigkeiten deutlich geringer als in den Nachbarstaaten. Diese Diskrepanz hat vermutlich damit zu tun, dass die Obrigkeit seit 2011 den von Syrien ausgehenden Internetverkehr drosselt, um den Online-Aktivisten im eigenen Land das Leben schwerzumachen.

Pläne für ein 3G-Funknetz sind wegen der hohen Kosten und der lückenhaften Abdeckung keine wirkliche Alternative zu Erdleitungen. „Wenn ich über Whatsapp mit meinem Bruder telefonieren will, muss ich mich ins Treppenhaus setzen, weil das 3G-Signal nicht bis in meine Wohnung reicht, erzählt eine Frau in einem südlichen Vorort von Damaskus. „Ich suche im Internet für meine Kinder nach Spielen und Englischkursen, damit sie es in der Schule leichter haben, aber mein Datenvolumen reicht nicht aus, um sie herunterzuladen.“ Eine andere Frau klagt, dass sie es sich nicht leisten kann, an virtuellen Schulungen von NGOs teilzunehmen: „Videosessions über 3G zu streamen ist einfach zu teuer.“

Angesichts der unzähligen Hindernisse haben die Syrer vielfältige Behelfslösungen entwickelt, die vor allem auf Kostenersparnis aus sind. Die Menschen rationieren ihren Daten- und Stromverbrauch, kaufen billige oder gebrauchte Geräte und verlängern deren Lebensdauer mit allen erdenklichen Mitteln.

Der Markt für IT-Reparaturen wächst: „Die Kunden benutzen ihre Handys, bis sie ihnen in der Hand auseinanderfallen“, sagt der Eigentümer eines Mobilfunkladens in Damaskus. Viele bemühen sich auch, die Kosten für WLAN und Router auf mehrere Haushalte zu verteilen: „Fast alle meine Nachbarn haben mich gefragt, ob ich ihnen mein Netzwerkpasswort verrate und wir uns die Rechnung teilen“, erzählt ein Journalist im Damaszener Vorort Jaramana. „Mit allen kann ich nicht teilen, weil die Verbindung dann zu langsam wird, aber für einige Nachbarn, deren Kinder das Internet für die Schule brauchen, mache ich eine Ausnahme.“

Neben Beispielen gelebter Solidarität gibt es auch Verhaltensweisen, an denen deutlich wird, wie der wirtschaftliche Niedergang das soziale Verhalten erodieren lässt. Andauernd werden WLAN-Netze von Fremden gehackt: „Ich ändere mein Passwort regelmäßig, weil ständig Leute versuchen, es herauszukriegen“, klagt der Journalist in Jaramana. „Ich finde das sogar nachvollziehbar: Als ich neu eingezogen bin, habe ich auch versucht, das Passwort meines Nachbarn herauszufinden und seinen Anschluss zu nutzen.“

Ein Händler in Damaskus berichtet, dass manche Männer sich notwendige Anschaffungen wie Lebensmittel und Kleidung versagen, um genug Geld für ein elektronisches Gerät zusammenzubekommen. Dieser Händler bekam von einem Freund, der einen Handyladen betreibt, ein noch krasseres Beispiel erzählt: Dem habe eine Frau als Gegenleistung für einen Preisnachlass angeboten, mit ihm ins Bett zu gehen.

Dass die Leute in Syrien buchstäblich alles tun, um ins Netz zu kommen, zeigt, wie lebenswichtig es für sie ist, online zu gehen. Viele sind auf das Internet nicht zuletzt deshalb angewiesen, weil es für sie keine andere Möglichkeit gibt, das Grundbedürfnis nach Verbindung mit anderen Menschen zu befriedigen.

In einer fragmentierten, von Entfremdung und Isolation geprägten Gesellschaft bietet die digitale Welt eine seltene und kostbare Möglichkeit, alte Bindungen zu pflegen und neue Kontakte zu knüpfen.

Viele Syrer und Syrerinnen leben von ihren Angehörigen getrennt. Millionen sind ins Ausland geflüchtet, weitere Millionen sind Binnenflüchtlinge. Und innerhalb des zersplitterten Landes sind Reisen zwischen den einzelnen Regionen oft kostspielig und gefährlich, was nicht nur an den vielen Checkpoints und den marodierenden Milizen liegt, sondern auch am zunehmenden Kraftstoffmangel. Besonders an den Feiertagen, wenn die höhere Nachfrage die Preise in die Höhe treibt, können viele nicht in ihre Heimatstädte fahren. Manche gehen nicht einmal vor die Haustür: Zum Militärdienst einberufene Männer, die sich eine Flucht ins Ausland nicht leisten können, verschanzen sich manchmal jahrelang zu Hause, um nicht eingezogen zu werden.

In diesen vielfach eingeengten Lebensverhältnissen werden digitale Tools zum Rettungsanker. Sprach- und Videoanrufe per Whatsapp gehören heute zum syrischen Familienalltag. „Für Videoanrufe haben wir jeden Tag unsere festgelegten Zeitfenster“, berichtet eine Frau, die aus Homs vertrieben wurde und jetzt in Damaskus lebt. „Erst spricht meine Mutter mit meinen Brüdern in Europa, dann meine Schwiegermutter mit ihrer Tochter in der Türkei, und zum Schluss spreche ich mit meiner Tochter im Libanon.“

Digitale Tools halten nicht nur die bestehenden Beziehungen aufrecht, sondern helfen auch, neue aufzubauen. Junge Leute nutzen das Internet für ihre Datingaktivitäten, die sich nicht aufs Inland beschränken. In den sozialen Me­dien entstehen aber auch immer mehr stabile Solidaritätsnetzwerke: Auf Facebook hilft man sich gegenseitig, schwer erhältliche Haushaltsartikel aufzutreiben, und auf Telegram organisieren ehrenamtliche Gruppen die Verteilung von Sauerstoffflaschen an Covid-Patienten.

In einem Land mit einer streng kontrollierten, von Desinformationen überfluteten Medienlandschaft sind die digitalen Plattformen auch oft die einzige Möglichkeit, an verlässliche Informationen aus vertrauenswürdigen Quellen zu kommen: Kleinstädte und Dörfer halten auf eigenen Facebook-Seiten den Lokalnachrichtenfluss am Laufen; Taxifahrer informieren sich in Whatsapp-Gruppen gegenseitig über Straßensperrungen und Gewaltzwischenfälle.

Andere Formen der digitalen Solidarität sind von direkter politischer Bedeutung. Während die innersyrische Opposition durch die Repressalien des Regimes weitgehend zum Schweigen gebracht wurde, laufen digital einige Aktivitäten weiter. Syriens Feministinnen zum Beispiel sind im Netz äußerst präsent; die Aktivistinnen haben sich auch grenzüberschreitend vernetzt, tauschen Gedanken aus, verbreiten Informa­tio­nen und engagieren sich in zivilgesellschaftlichen Initiativen.

Ermutigend ist das Beispiel einer feministischen Gruppe, die vor allem auf Facebook aktiv ist. Sie leistet Frauen, die unter männlicher Gewalt und der damit verbundenen Stigmatisierung zu leiden haben, juristische und psychologische Unterstützung. Die Onlinewelt ermöglicht solche Vernetzung und wirkt damit der Vereinzelung entgegen – nicht nur unter gleichgesinnten Aktivistinnen, sondern auch unter hilfsbedürftigen und marginalisierten Menschen.

Andererseits können digitale Tools die soziale Spaltung auch befördern. In den syrischen so­zia­len Medien sind wie überall Selbstdarstellung, Hate­speech und Hetze verbreitet. Es gibt konkurrierende Echokammern, und wie überall saugen deren Nutzer die ihnen genehmen Narrative auf und verteufeln andere.

Dazu kommt in Syrien noch die Allgegenwart grausamer und mitunter traumatischer Bilder: Seit Jahren werden Facebook-Gruppen mit Fotos und Videos von ausgebombten Gebäuden, blutverschmierten Leichen und toten Säuglingen überschwemmt. Diese Bilder werden von vielen Syrern gesehen und geteilt – und sie vertiefen die Spaltungen auch in der Online-Welt: Zwar ruht der militärische Konflikt im Augenblick, dennoch nutzen Regierungsanhänger wie Oppositionelle das Internet, um ihre Haltungen immer wieder aufs Neue kundzutun.

Die digitale Welt dient aber auch als Rückzugsort jenseits solcher toxischen Inhalte. Computerspiele werden immer beliebter. Viele syrische Jugendliche spielen am frühen Morgen, wenn das Netz weniger ausgelastet ist, „Assassin’s Creed“, „Dota 2“ oder „PUBG“. Andere konsumieren stundenlang Serien und geben dafür eine Menge Geld aus – wobei beliebte Plattformen wie Net­flix unzugänglich bleiben. „Ich träume davon, bis zum Abwinken ‚Game of Thrones‘, ‚Breaking Bad‘ oder ‚Rick and Morty‘ zu gucken“, sagt eine junge Frau aus dem Umland von Damaskus. „Ich will einfach ein normales Leben führen wie alle anderen Leute auf der Welt.“

Für Menschen in Syrien, die wirtschaftlich wieder Fuß fassen wollen, sind digitale Tools ein unverzichtbares Hilfsmittel, das aber seine Tücken hat. Im heutigen Syrien sind die Möglichkeiten einer soliden Ausbildung und tragfähige Berufsperspektiven sehr begrenzt. Das einst gut funktionierende Schul- und Hochschulsystem ist auf den Hund gekommen. Die verwahrlosten Räumlichkeiten sind maßlos überfüllt, viele Lehrkräfte abgewandert. Die jungen Menschen fragen sich, was ein mühsam erworbener Abschluss bringen soll: Eine Stelle im öffentlichen Dienst, die früher ein sicheres Gehalt auf Lebenszeit bedeutete, garantiert heute kaum mehr das Existenzminimum. Erstrebenswerte Jobs in der Privatwirtschaft sind selten.

In dieser Situation bietet die digitale Welt oft die einzige Perspektive für eine bessere Zukunft. Insbesondere versuchen Schüler und Studierende, über E-Learning-Plattformen ihre Fremdsprachenkenntnisse auszubauen, um ihre Chancen auf eine Arbeit im Ausland erhöhen. In Telegram-Gruppen tauschen sie sich aus und teilen gehackte Lehrmaterialien. Auch Berufstätige nutzen intensiv das Internet, um sich fachlich weiterzubilden. Ein Taxifahrer berichtet: „Von den Automechanikern habe ich immer wieder zu hören bekommen, sie könnten mein Auto nicht reparieren, weil das entscheidende Ersatzteil in Syrien nicht zu kriegen ist.“ Deshalb hat er mit seinem Sohn im Netz recherchiert, bis er das Teil selbst bauen konnte.

Manche verdienen in der digitalen Welt ihren Lebensunterhalt – etwa als externe Mitarbeiter für ausländische Firmen, die in harter Währung zahlen. Da Syrien für seine gute arabische Sprachausbildung bekannt ist, geben viele Privatunterricht online oder sie übersetzen, texten und lektorieren. Ein angehender Texter arbeitet für eine ausländische Website, die sich speziell an Handel und Industrie wendet: „Ich schicke ihnen jeden Tag mindestens zwei Artikel und bekomme pro Artikel 5 Dollar.“

Dieses Modell hat gravierende Nachteile. Skrupellose ausländische Arbeitgeber haben es gezielt auf syrische Arbeitskräfte abgesehen, da diese gezwungen sind, für Niedrigstlöhne weit unter dem realen Marktwert zu arbeiten. „Manche Informatiker übernehmen für ein paar hundert Dollar große Projekte, weil sie keine andere Arbeit finden“, schimpft ein Remote-Programmierer. „Sie wissen, dass der zwischengeschaltete Vermittler, der in irgendeinem Golfstaat sitzt, doppelt so viel daran verdient wie sie selber, aber sie haben keine Wahl.“

Bei der Arbeit im Homeoffce sind die Verbindungsprobleme eine echte Plage, für die syrischen Arbeitskräfte wie für ihre Arbeitgeber. So meint ein Entwickler in Saudi-Arabien, der mit Programmierern in Syrien arbeitet: „Sie leisten qualitativ hervorragende Arbeit, aber wegen der Probleme mit der Stromversorgung und dem Internet gibt es andauernd Störungen.“

Ein noch viel größeres Problem sind die Sanktio­nen. Aus Angst, gegen irgendeine unklar formulierte Vorschrift zu verstoßen, machen zahlreiche Technologieunternehmen von sich aus einen Bogen um den kleinen und risikoreichen syrischen Markt: Paypal, Adobe, Slack und Tiktok sind in dem Land gesperrt oder eingeschränkt. Auch Apps wie Gmail, die weiterhin funktio­nieren, sperren den Nutzer unter Umständen abrupt aus, wenn er sich „verdächtigerweise“ über ein Virtual Private Network (VPN) einloggt, um die IP-Adresse des eigenen Geräts zu verschleiern.

Mitunter führen diese Hindernisse dazu, dass die Tür zu den Verheißungen der Technologie sofort wieder zugeschlagen wird. Welche Folgen das haben kann, berichtet ein junger Computerspezialist: „Ich hatte ein Stipendium für ein Online-Masterstudium an einer englischen Universität. Dann bekam ich aber nicht die Erlaubnis, von Syrien aus auf die dortige Bibliothek zuzugreifen. Damit hatte sich das Stipendium erledigt.“

Auch der Ausschluss Syriens von den weltweiten Finanzmärkten ist für die Bevölkerung eine schwere Belastung. Manchmal sind die Auswirkungen banal, etwa wenn jemand ein Update für das Betriebssystem des Handys braucht und es keine akzeptierte Bezahlmöglichkeit gibt. Bisweilen sind die Folgen aber auch extrem gefährlich. Arbeitskräfte im Homeoffice und Geschäftsleute, die keine internationalen Banküberweisungen erhalten können, weichen immer wieder auf kostspielige und riskante Alternativen aus, schleppen Tüten voller Bargeld über die Grenze oder wickeln ihre Transaktionen über dubiose Mittelsmänner auf dem schwarzen Finanzmarkt ab.

Es kommt vor, dass man sogar wegen der Sanktionen den Zugriff auf das eigene Guthaben im Ausland verliert: „Ich habe meine ganzen Ersparnisse auf ein australisches Bankkonto gepackt“, berichtet eine Flugbegleiterin in Damaskus. „Als ich von Syrien aus eine Transaktion vornehmen wollte, wurde mein Zugang gesperrt. Ich habe mich bei Anwälten erkundigt – sie sagen, dass ich nichts dagegen machen kann.“

Die syrischen Internetnutzer reagieren auf diese unzähligen Erschwernisse mit immer neuen Lösungen. Am gängigsten ist der Trick, für den Zugriff auf eingeschränkte Plattformen ein VPN zu nutzen. Früher waren VPNs nur etwas für Computerfreaks und Aktivisten, aber in letzter Zeit greifen zunehmend auch technisch nicht sonderlich versierte Nutzer auf sie zurück. In den sozialen Medien erklären syrische Hacker, wie man die Sperrung von Websites oder Diensten umgeht.

Geknackte Software ist mittlerweile so verbreitet, dass sie in Handyläden verkauft und dort direkt auf den Geräten der Kunden installiert wird. Wer keine Kreditkarte hat, bittet Freunde oder Kollegen im Ausland, die gewünschten Digitalangebote für sie zu buchen. Die Nachfrage ist so groß, dass im Ausland lebende Syrer diesen Service bereits zum Geschäft machen und ihre Kundschaft gegen horrende Gebühren für kostenpflichtige Onlinedienste anmelden.

Ein Jahresgehalt für einen Laptop

Für die sich rasant entwickelnde Digitalkultur und die wirtschaftlichen Perspektiven der Bevölkerung sind diese Behelfslösungen enorm wichtig, erläutert ein heute in Deutschland lebender Ingenieur: „Es gibt in Syrien nur einen Ort, den ich vermisse: Bahsa – den IT-Markt in Damaskus. Dort bekommt man für einen halben Dollar eine CD mit Software im Wert von 2000 Dollar. Syrische Programmierer konnten sich dadurch alle möglichen Softwareprodukte aneignen, Erfahrungen sammeln und ihre Fähigkeiten perfek­tio­nieren. Wenn wir nach Europa kommen, stellen wir fest, dass wir uns mit mehr Programmen auskennen als unsere europäischen Kollegen.“

Es gibt in Syrien auch einige wenige hoffnungsvoll stimmende Fälle, in denen sich Menschen zusammengetan und Probleme gemeinschaftlich gelöst haben. Aktivistengruppen konnten Technologieunternehmen dazu bewegen, beliebte Online-Lernplattformen wieder zugänglich zu machen. Nachdem Duolingo in einer von vielen Nutzern unterzeichneten Petition dringend gebeten wurde, seine Englischkurse wieder in Syrien verfügbar zu machen, erwirkte das Unternehmen im Dezember 2020 dafür eine Ausnahmegenehmigung des US-Finanzministeriums.

Die internationalen Hindernisse sind für die Bevölkerung existenzgefährdend, der syrische Überwachungsstaat ist im wörtlichen Sinne lebensbedrohlich. Seit Jahrzehnten hat die Regierung in Damaskus ein ambivalentes Verhältnis zum digitalen Fortschritt: Einerseits war das Baath-Regime stets bemüht, sich mit dem Image der Modernisierung zu schmücken. Das erste öffentliche Amt, das Baschar al-Assad bekleidete, war das des Präsidenten der Syrischen Computergesellschaft, was ihn als technologieaffinen, fast schon nerdigen Reformer erscheinen ließ. Als er 2000 Staatspräsident wurde, ließ er Schulen mit Computern ausrüsten, Lizenzen für Internetcafés vergeben und die Kosten für Internetanschlüsse senken.

Das Bestreben, allen den Zugang zum Internet zu ermöglichen, kollidierte allerdings mit dem noch wichtigeren Anliegen, den öffentlichem Raum zu überwachen und zu kontrollieren. Der Sicherheitsapparat opponierte gegen die digitale Öffnung der 2000er Jahre; der Ausbau des Internets blieb bald hinter dem anderer autoritärer Staaten der Region zurück. Beliebte Web­sites wie Facebook und Hotmail wurden verboten, politische Aktivisten überwacht, schikaniert und mitunter verhaftet.

Die Überwachung und die Repressionen der 2000er Jahre waren jedoch nichts im Vergleich zu dem, was nach dem Aufstand von 2011 folgte. Als über Facebook, Youtube und Whatsapp massenhaft Nachrichten und Bilder von den Protesten verbreitet wurden, nutzte das Regime diese Plattformen, um Kritiker zu identifizieren und hinter Gitter zu bringen. Viele wurden unter Folter gezwungen, die Passwörter zu einschlägigen Accounts preiszugeben. E-Mails, Social-Media-Feeds und Messaging-Apps dienten als Beweismittel für umstürzlerische Aktivitäten.

Damals begann die Syrian Electronic Army – eine regierungstreue Hackergruppe – die Internetseiten westlicher Medien mit Propaganda zu fluten. 2013 schaffte es die Gruppe, die Online­ausgabe der Washington Post mit Pop-ups zu garnieren, die der US-Regierung die Ausbildung von Terroristen vorwarfen. Inzwischen werden selbst regimetreue Journalisten verhaftet, wenn sie über den Kollaps der öffentlichen Daseinsvorsorge berichten.

Die Behörden investieren nicht nur in den Überwachungsapparat, sondern auch in die Digitalisierung bürokratischer Vorgänge. Zum Beispiel bei der Einführung der sogenannten Smart Card. Offiziell soll sie helfen, die Verteilung knapper Ressourcen wie Benzin, Brot und Zucker zu rationalisieren, aber viele wittern dahinter die Absicht, mehr Daten über die Bürgerinnen und Bürger zu sammeln.

Die staatlichen Praktiken in Syrien zeigen, dass digitale Tools für ihre Nutzer ein zweischneidiges Schwert sind: Einerseits besitzen sie emanzipatorisches Potenzial, andererseits sind damit Risiken verbunden, gegen die sie sich zu schützen versuchen. Politische Aktivisten geben sich viel Mühe, ihre Systeme wasserdicht zu machen, etwa mithilfe von Software, die dafür sorgt, dass gelöschte Dateien zuverlässig keine Spuren auf dem Gerät hinterlassen. Und natürlich vertrauen sie ihre sensiblen Passwörter nur engen Freunden oder Familienangehörigen an, damit diese im Fall ihrer Verhaftung wichtige Accounts „säubern“ können. Manche Aktivisten versuchen sogar durch Kontakte zu westlichen Technologie­kon­zernen wie Google oder Facebook sicherzustellen, dass ihre Accounts im Falle einer Verhaftung schnell aufgelöst werden.

Vieles hat jedoch eher Improvisations- und Versuchscharakter. Viele Menschen nutzen zwar ein VPN, aber nur wenige stellen sich die entscheidenden Fragen: Wovor schützt ein VPN und wovor nicht? Welche sind die sichersten und wie gefährlich sind kostenlose VPNs? Cybersicherheitsexperten berichten, dass Russland oder das syrische Regime kostenlose VPNs unter die Leute bringen, um sie auszuspionieren. Die Endnutzer können nicht herausfinden, ob ihre Befürchtungen berechtigt sind. Das gleiche Problem gibt es bei der gehackten Software, auf die praktisch alle angewiesen sind.

„In Syrien gekauften Anwendungen traue ich grundsätzlich nicht, weil sie Spyware enthalten können“, meint ein Nachrichtentechniker in Damaskus. „Ich kann mir zum Beispiel legal ein Antivirenprogramm herunterladen, aber der Download läuft über syrische Server, und ich habe Angst, dass das Regime mir dabei noch andere Software unterjubelt.“

Fatalerweise wiegen sich technisch versierte junge Leute oft in falscher Sicherheit, weil sie bislang noch nie in Bedrängnis geraten sind. Doch das Regime wird seine Überwachungsmöglichkeiten weiter ausbauen – was die Bevölkerung zwingt, sich unablässig auf neue Eingriffe einzustellen. Dieser asymmetrische und undurchsichtige Kampf zwischen Regime und Gesellschaft erzeugt eine Endlosspirale von staatlichen Eingriffen und Ausweichreaktionen.

Diesen Kampf um den Zugang zur digitalen Welt kann die Bevölkerung nicht gewinnen. Die Menschen mögen sich mühen, Geld ausgeben, Hindernisse überwinden, so viel sie wollen – ihr Schicksal hängt von Faktoren ab, auf die sie keinen Einfluss haben: von importierten Technologien und Remote-Diensten und letztlich von der Tatsache, dass andere darüber entscheiden, wer im Internet was tun darf.

Das ambivalente Fazit für die syrische Bevölkerung lautet: Das Internet ist ihre notwendige Verbindung zur Außenwelt und zeigt ihr zugleich, dass sie von dieser Welt auf extreme Weise isoliert und von ihr abhängig ist. Das, was in Syrien passiert, sagt sehr viel über das Internet insgesamt aus. Das Demokratisierungs- und Befreiungspotenzial des Web, so groß es sein mag, ist und bleibt gefährdet durch die elitären Züge, die es seit jeher hatte. Leichter Zugang zum Internet definiert heute die Zukunft eines Kindes in der Gesellschaft – in Damaskus, Delhi oder Detroit.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

Dieser Beitrag stammt von einem syrischen Synaps-Mitarbeiter. Synaps ist eine Informationsagentur in Beirut, die junge For­sche­r:in­nen aus der Region ausbildet. Der Text entstand mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Er erschien zuerst auf Arabisch und Englisch: www.synaps.network.

© Synaps, für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.02.2022, von Synaps