Brief aus Rio de Janeiro
von Rafael Cardoso
An einem Samstagmorgen kurz nach sechs stehen drei Männer vor dem Spiegelbecken des Museums für Moderne Kunst. Sie tragen nichts als knielange Shorts, keine Hemden, keine Schuhe. Mit einer geköpften Plastikflasche schöpft einer Wasser aus dem Becken. Geschickt spült er damit nach und nach die Seife von seinem Körper. Seine nasse braune Haut glänzt im warmen Sonnenlicht.
Es ist die Art Bild, die die Aufmerksamkeit einer Fotografin erregen würde, die sich im Umgang mit Farbe und Kontrast üben will. Für die drei Männer beginnt mit der morgendlichen Waschung nur ein weiterer Tag in Obdachlosigkeit. Gleich werden sie losziehen, um ein Frühstück zu erbetteln oder für ein paar Münzen Leergut einzusammeln.
Das Museum steht am Nordrand von Rios prachtvollstem Park, der offiziell Parque Brigadeiro Eduardo Gomes heißt und unter dem Namen Aterro do Flamengo weltberühmt ist. Das weitläufige Gelände von mehr als 120 Hektar mit Grünflächen, Spiel- und Sportplätzen, Museen und einem Yachthafen erstreckt sich zwischen einer Schnellstraße und einem anderthalb Kilometer langen Strand an den schmutzigen Wassern der Guanabara Bay mit einer umwerfenden Aussicht auf den Zuckerhut, die Stadt Niterói und die majestätischen Gipfel der Serra dos Órgãos. In der für ihre spektakulären Panoramen berühmten Stadt ist der Aterro do Flamengo ein perfektes Postkartenmotiv.
Südlich des Museums begegnen wir noch mehr Parkbewohnern, die gerade aufgestanden sind. Einer springt aus dem Gebüsch und verlässt eilig seinen Schlafplatz. Eine Eisverkäuferin schiebt ihren Wagen Richtung Strand, der sich bald mit Spaziergängern, Joggern, Skatern, Volleyballspielern und Sonnenanbetern füllen wird. Zwischen den Betonbänken eines leeren Amphitheaters verteilt eine Frau aus ihrer Einkaufstüte Futter an das wartende Publikum verwilderter Katzen. Immer wieder leuchten in den verschlungenen Pfaden des Parks die orangefarbenen Westen der Stadtreinigungsangestellten auf, die emsig die Spuren des letzten Abends beseitigen.
Zu dieser frühen Morgenstunde beträgt die Temperatur noch angenehme 25 Grad. Am Nachmittag wird sie 35 Grad erreichen, was in einer Stadt, wo im Sommer regelmäßig die 40-Grad-Marke überschritten wird, nachgerade erträglich scheint. Das Kreischen der Papageien, Sittiche und Schwefelmaskentyrannen zerreißt die Morgenluft. Sie sind nicht die einzigen Vögel hier. Unweit wühlt ein Schwarm Geier mit dem Schnabel im Müll. Die Luft ist erfüllt von Geräuschen, Farben, Gerüchen. Brummender Verkehr, brechende Wellen. Bunte Graffiti und Bäume mit weißen, roten, gelben, violetten und rosafarbenen Blüten. Manchmal der Geruch von Exkrementen, der betäubende Duft des Kanonenkugelbaums. Wie ganz Brasilien ist auch der Aterro do Flamengo ein Ort extremer Kontraste, aber hier erscheinen sie sanfter durch die harmonische Komposition des Ganzen.
Anders als Rios bekannteste Wahrzeichen, der Zuckerhut und der Corcovado mit der monumentalen Christusstatue, ist der Aterro do Flamengo kein Naturwunder, sondern das Werk menschlicher Ingenieur- und Gestaltungskunst. Wie der Name Aterro sagt, entstand der Park auf einer Reihe von Erdaufschüttungen. Er ist das geistige Kind von Affonso Eduardo Reidy (1909–1964), dem wohl besten modernistischen Architekten Brasiliens, der 1955 auch das Museum für Moderne Kunst entworfen hat, und der einflussreichen Grande Dame Lota Macedo Soares, der nach Reidys Tod das Projekt übergeben wurde. Was dem Park jedoch Weltgeltung verschafft, ist der Entwurf des Landschaftsarchitekten, Pflanzensammlers und Malers Roberto Burle Marx (1909–1994). Er ist das Meisterwerk eines der Größten seines Fachs und Krönung des brasilianischen Modernismus.
Der Flamengo Park vereint die Vegetation der gesamten tropischen Pflanzenwelt – 350 Arten, sorgfältig ausgewählt und verteilt, damit es im Park das ganze Jahr über blüht, und mit nur scheinbar zufälligen, in Wahrheit aber exakt durchkomponierten Kontrasten in Größe, Form, Farbe und Textur. Eine stattliche Doppelreihe hoher Palmen weicht einem skulpturalen Dickicht aus Ranken und Wurzeln. Riesige stachelige Aloen stehen in nobler Distanz zu Schatten spendenden Gruppen niedriger Bäume mit so horizontal wachsenden Ästen, dass man sich darauflegen kann.
Es ist ein Aufruhr üppigen Grüns, arrangiert mit einer Sorgfalt, die einen umso mehr in Erstaunen versetzt, als noch über 50 Jahre später alles nach Plan zu gedeihen scheint. Burle Marx glaubte fest an die Symbiose von Mensch und Natur. Seine Philosophie der Landschaftsplanung lässt sich gut in dem Satz „O tempo completa“ zusammenfassen. So hieß auch eine Ausstellung über sein Lebenswerk, die kürzlich in der Casa Roberto Marinho in Rio zu Ende ging.
Und die Zeit hat die Vision von Reidy, Burle Marx und Lota, wie sie liebevoll genannt wird, bestätigt. Rio de Janeiro ist heute nicht mehr ohne den Aterro do Flamengo vorstellbar, am wenigsten bei den eigenen Bewohnern. Angesichts der Schönheit des Parks und der Weitsicht, mit der er angelegt wurde, kommt einem unvermeidlich die Frage in den Sinn: Was ist nur geschehen? Wie konnte ein Land, das so bemerkenswerte Architekten, Künstlerinnen, Intellektuelle und sogar Politiker hervorgebracht hat, auf einen solchen Tiefstand von Dummheit und Destruktivität herabsinken? Kurzum, wie passt das Bossa-Nova-Brasilien der späten 1950er Jahre mit dem Brasilien Bolsonaros zusammen?
Gewiss, in der Zwischenzeit ist viel passiert: 1964 gab es einen Militärputsch, der eine 21-jährige Diktatur einleitete, danach die gescheiterte Politik der Strukturanpassung der 1980er, gefolgt von einem gefräßigen Neoliberalismus mit seiner expansiven Finanzwirtschaft, der Schwächung des Staats, dem Extraktivismus und der – koste es, was wolle – Wette auf Rohstoffe, die das brasilianische Parlament zu einer Filiale des Agrobusiness gemacht hat.
Insbesondere Rio de Janeiro hatte die Hauptlast der vielen Veränderungen zu tragen. Bis 1960 war es Hauptstadt und damit Umschlagplatz enormer Staatsausgaben. Die Verlegung des Regierungssitzes nach Brasília hat der Stadt einen Schlag versetzt, von dem sie sich nicht wieder erholt hat. Zudem hat sich, parallel zum rapiden Verlust an Steuereinnahmen, die Bevölkerung im Lauf der letzten 50 Jahre von 3 auf 6 Millionen Einwohner verdoppelt (13 Millionen im Großraum Rio), was die gravierenden Probleme in den Bereichen Wohnungsbau, Kanalisation, Verkehr, Kriminalität und Gewalt zusätzlich verschärfte. Seit den 1980ern hat der illegale Drogenhandel in der Stadt gewütet wie an nur wenigen Orten auf der Welt.
Heute ist Rio de Janeiro wieder Teil einer politischen Vorhut. Nur dass es diesmal an der Spitze einer Bewegung steht, die gegen Bürger- und Menschenrechte verstößt. Rio ist Geburtsort der sogenannten Milícias – nicht Milizen im üblichen Sinne, sondern krimineller Organisationen, die armen Kommunen, in denen der Staat seit jeher abwesend ist, Schutz, Versorgungsleistungen und eine spezielle Sorte Recht und Ordnung verkaufen.
Sie traten in den nuller Jahren auf, um die Drogenkartelle aus den Favelas zu vertreiben und dort selbst die Kontrolle zu übernehmen. Ihr Personal rekrutiert sich typischerweise aus Polizisten, die gerade nicht im Dienst oder schon pensioniert sind, sowie Feuerwehrleuten und Militärs – Gruppen, die mehrheitlich Jair Bolsonaro unterstützen. Sie stammen meist aus der Zona Oeste mit den bürgerlichen Vororten Jacarepaguá und Barra di Tijuca, die in den letzten 50 Jahren aus dem Nichts entstanden sind. Hier wohnte auch der Kongressabgeordnete Bolsonaro, bevor er Präsident wurde, und hier hat er seine Basis. Schön gestaltete Parks gibt es nicht in Jacarepaguá.
Der Niedergang von Rio de Janeiro steht für all das, was seit den 1960ern in Brasilien schiefgelaufen ist: Eine Stadt, die sich einst als mondäne Weltstadt begriff, versucht verzweifelt, ihr Abgleiten in die Entropie zu bremsen. Laut der Datenbank Fogo Cruzado kam es letztes Jahr im Großraum Rio zu 4653 Vorfällen mit Schusswaffen, 2098 Menschen wurden verwundet, 1084 starben. 115 Bewohner Rios kamen durch Irrläufer ums Leben, darunter 4 Kinder; 415 wurden von der Polizei erschossen, 90 Prozent davon Schwarze. Man könnte meinen, man befinde sich in einem Kriegsgebiet. Die einzige gute Nachricht ist, dass die Zahlen seit 2019 gesunken sind, nachdem Brasiliens Oberstes Gericht die Polizeieinsätze in den Favelas eingeschränkt und während der Pandemie im Juli 2020 sogar ganz verboten hat.
Die Jogger, die durch den Aterro do Flamengo traben, scheinen fern solcher Sorgen. Die Polizeifahrzeuge, die unübersehbar auf den Parkstraßen patrouillieren, stellen sicher, dass es keinen Anlass zur Beunruhigung gibt. Oder besser gesagt: fast keinen. Denn die Koexistenz zwischen den Nutzern des Parks am Tage und seinen Bewohnern bei Nacht ist nie unbekümmert und sorglos. Die Zahl der Menschen, die auf der Straße schlafen, ist in den Jahren des wirtschaftlichen Abschwungs seit 2015 explodiert. Die Armen sind wieder einmal ärmer geworden und die Reichen besorgter.
Von Letzteren haben viele Brasilien mittlerweile den Rücken gekehrt – ihrer persönlichen Sicherheit wegen, wie sie sagen. Sie wohnen jetzt in ihren Penthäusern in Miami und klagen, dass die Politiker in Brasilien nicht hart genug gegen Kriminalität vorgehen. Wenn sie den Biscayne Boulevard hinunterfahren, stoßen sie dort auf ein weiteres Projekt von Burle Marx: die Gehwege und Grünstreifen vor der FTX Arena. Es ist ein späteres und weniger bedeutendes Werk als der einzigartige Aterro do Flamengo, aber die Brasilianer in Miami sind zweifellos stolz darauf.
Der Gegensatz zwischen der heutigen brasilianischen Führungselite und der Generation von Lota Macebo Soares ist ernüchternd. Wann werden die Mächtigen endlich aufwachen und begreifen, dass die größten Schätze der Nation langsam, aber sicher preisgegeben werden und aus schierer Nachlässigkeit verfallen? Reidys Museum für Moderne Kunst, einst Symbol von Verheißung und Fortschritt, ist heute eine Schlafstätte der Müden und Beladenen, die wie Müll auf die Straße gekippt werden. Das Betongebäude und die Männer, die sich in seinem Schatten waschen, sind derselben Verwahrlosung ausgeliefert.
Tag und Nacht fegen die unermüdlichen Arbeiter von der Stadtreinigung den Boden des Aterro do Flamengo, aber sie werden nie fertig. Eine Gesellschaft, die Menschen wie Abfall behandelt, hat eben keine Bedenken, ihren Müll auf den Boden zu werfen. Die Natur schickt die Geier herab, um die Aufgabe zu vollenden.
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Rafael Cardoso ist Kunsthistoriker und Schriftsteller; zuletzt erschien „Das Vermächtnis der Seidenraupen“, Frankfurt am Main (Fischer) 2016.
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