Krieg und Demokratie
von Serge Halimi
Mit Hinweis auf einen inneren Feind kann ein umstrittener Machthaber seine politischen Rivalen als Staatsfeinde, Aufrührer und Agenten des Auslands brandmarken. Er kann aber auch auf einen äußeren Feind verweisen, um als Garant der höheren Interessen der Nation zu posieren. Das verschafft ihm Autorität.
So erklären viele im Westen das rabiate Vorgehen Wladimir Putins gegen seine inneren Gegner wie auch seine Forderung nach Sicherheitsgarantien seitens der USA, von der Putin wohl weiß, dass sie ganz sicher abgelehnt wird.
Sucht man allerdings einen Präsidenten, der Interesse daran haben könnte, seiner Unbeliebtheit mit militärischem Muskelspiel entgegenzuwirken, so bietet sich Joseph Biden nicht weniger an als sein russischer Kollege.
„Eine demokratische Ukraine wäre eine strategische Gefahr für Putins repressiven Staat“, erläutert das Wall Street Journal, denn sie könnte „die prodemokratischen Kräfte in Russland ermutigen“. Der Wind der Freiheit aus der verarmten, korrupten Ukraine, wo die beiden wichtigsten Oppositionspolitiker juristisch verfolgt werden, soll dem Kreml Angst machen. Wer soll das glauben?
Die militärische Unterstützung der Türkei, die Kiew genießt, verdankt die Regierung Selenski ja keineswegs ihrem Einsatz für die bürgerlichen Freiheiten. Und in den USA sind die großen Sprüche über die Gefährdung der Demokratie, die militärische Eskalation und der Geldsegen für das Pentagon das beste Mittel, um die republikanischen und demokratischen Abgeordneten zusammenzuschweißen, die sich ansonsten in einer Art Bürgerkrieg gegenüberstehen. „Um den Frieden im Ausland zu sichern, muss Präsident Biden etwas für den häuslichen Frieden tun“, rät das Wall Street Journal: „Der Widerstand gegen Russland vereint progressive und konservative Senatoren.“ Kurzum: Der Konflikt mit Moskau soll den in Washington wütenden Hass ein wenig mildern.
Donald Trumps erratische Präsidentschaft, seine Amtsenthebungsverfahren vor dem Kongress, die Latrinenparolen über das angebliche „Russiagate“, der Sturm auf das Kapitol und der behauptete Wahlbetrug, all das untergräbt den Anspruch, dem Rest der Welt Lektionen in Sachen Demokratie zu erteilen.
Francis Fukuyama verweist in seiner Erklärung dafür, dass seine 1989 formulierte Voraussage über das „Ende der Geschichte“ nicht eingetreten ist, auf zwei Faktoren, die er unterschätzt habe. Einer davon sei „die Möglichkeit eines politischen Zerfalls der fortgeschrittenen Demokratien“. Und er fügt hinzu, die Abschreckungsfähigkeit des Westens werde durch die innere Spaltung der USA entscheidend geschwächt.
Es ist nur wenige Monate her, dass Washington die Beendigung des Afghanistan-Abenteuers über die Köpfe der Europäer hinweg verkündet und Frankreich mit dem Ausschluss aus dem pazifischen Bündnis vor den Kopf gestoßen hat. Da bietet die Ukraine-Krise der US-Regierung eine schöne Gelegenheit, ihre Verbündeten zur Ordnung zu rufen und die Reihen auf dem alten Kontinent zu schließen.