07.10.2021

Kindersklaverei in Haiti

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Kindersklaverei in Haiti

1804 erkämpften Aufständische in Haiti die Unabhängigkeit ihres Landes und die Abschaffung der Sklaverei. Dennoch ist dort heute eine Form der Kindersklaverei weit verbreitet, und dem Staat fehlen die Mittel, dagegen vorzugehen.

von Fiona de Hoog Cius

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Zwei Jahrhunderte nachdem die haitianischen Skla­v:in­nen ihre Freiheit errungen hatten, hat sich in dem Karibikstaat ein System der häuslichen Kindersklaverei etabliert, das als Restavek-System (von französisch rester avec, „bei jemandem bleiben“) bezeichnet wird.

Bei dieser Form der Sklaverei, die sich bis in die frühen 1900er Jahre zurückverfolgen lässt, werden Kinder ab dem Alter von fünf Jahren dazu gezwungen, beschwerliche und gefährliche Haushaltsarbeiten in den Häusern von Fremden oder entfernteren Verwandten zu verrichten.

Die Unterbringung von Kindern in anderen Familien gibt es zwar nicht nur auf Haiti. Aber das Restavek-System zeichnet sich durch den besonders ausbeuterischen Charakter der Arbeit, durch Gewalt und Missbrauch aus.

Zurückzuführen ist dieses System auf die extreme Armut vieler Hai­tia­ne­r:in­nen. Die meisten Restavek-Kinder stammen aus Familien in ländlichen Gebieten, oft isolierten Dörfern in den Bergen, in denen die Bevölkerung kaum oder gar keinen Zugang zu Beschäftigung, Bildung und Gesundheitsversorgung hat. Viele Eltern schicken ihre Kinder deswegen zu Familien in der Stadt, wo sie als Gegenleistung für eine angemessene Ernährung und Schulbildung im Haushalt arbeiten sollen. Die Eltern sind sich nicht immer bewusst, wie hart das Leben ist, in das sie ihre Kinder schicken – und wenn doch, müssen sie dies gegen die geringen Chancen abwägen, die der Nachwuchs im eigenen Haushalt hätte.

Der Begriff Restavek wird als abwertende Bezeichnung für alle Kinder benutzt, die in einer mit Kindersklaverei vergleichbaren Situation stecken. Etwa zwei Drittel der Betroffenen sind Mädchen. Zu ihren Aufgaben gehören Wasserholen, Kochen, Putzen, Einkaufen sowie die Betreuung anderer Kinder im Haushalt. Viele Restavek-Kinder gehen nicht zur Schule, wenn dies mit ihrer Arbeit kollidiert. Außerdem können die Gastfamilien das fast überall in Haiti fällige Schulgeld nicht aufbringen.

Die finanzielle Lage der Gastfamilien ist nämlich oft nur geringfügig besser als die der Eltern, weswegen sie auf eine unbezahlte Arbeitskraft angewiesen sind. Die Restavek-Kinder übernehmen die Aufgaben, für die normalerweise die Frauen der Familie zuständig sind. Weil diese in städtischen Gebieten ihr Geld oft außerhalb des Hauses verdienen müssen, etwa auf Märkten, in Fabriken und im Straßenverkauf, brauchen sie Unterstützung bei der Hausarbeit.

Angesichts der äußerst schwachen Infrastruktur in Haiti ist diese Hausarbeit sehr beschwerlich und oft sogar gefährlich. Die Kinder müssen schwere Lasten tragen oder auf offenem Feuer kochen.

Allerdings ist auch die Gewalt ein charakteristisches Merkmal des Res­ta­vek-­Systems. Körperlicher, sexueller und emotionaler Missbrauch ist hier eher die Regel als die Ausnahme.

Restavek-Kinder müssen nicht nur viele Stunden am Tag schwer arbeiten, sie werden von den Mitgliedern der Gastfamilie auch meist mit Verachtung behandelt und gemieden. Sie dürfen nicht mit der Familie essen, sind in Lumpen gekleidet, können sich nicht oder nur wenig pflegen und leben von den Nahrungsresten und abgelegten Kleidungsstücken der anderen Haushaltsmitglieder.

Hinzu kommt, dass die Kinder oft genug auch zur Zielscheibe von Wut und Frustration werden. Sie werden geschlagen oder erleiden andere körperliche Strafen, manchmal unter Einsatz von Peitschen, kochendem Öl oder heißem Eisen. Allein schon wegen ihrer geringen Körperkraft können sie sich kaum wehren. Zusätzlich haben sie in der sozialen Hierarchie der haitianischen Gesellschaft einen äußerst schwachen Stand. Sie werden besonders oft Opfer von sexuellem Missbrauch einschließlich Vergewaltigungen, auf die Schwanger­schaften und manchmal erzwungene, gefährliche Abtreibungsversuche folgen.

Die Zahl der Restavek-Kinder in Hai­ti ist nicht bekannt. Schätzungen gehen von mehr als 300 000 aus. Mit ­einem Gesetz zur Bekämpfung des Menschenhandels und einem nationalen Aktionsplan im Jahr 2014 hat der Staat seine Bemühungen verstärkt, die moderne Sklaverei zu bekämpfen. Doch die Zahl der Verurteilungen ist äußerst gering, 2019 waren es sechs Personen, 2020 keine einzige.

Allerdings fehlen dem Staat auch die Mittel, um dieses Problem nachhaltig anzugehen. So beschränken sich die Maßnahmen meist darauf, Kinder aus den schlimmsten Situationen zu befreien. Nicht immer können sie zum Beispiel in ihre Familien zurückgebracht werden. Vor allem bleiben die Ursachen unangetastet.

Haiti ist das ärmste Land der west­lichen Hemisphäre, und Frauen sind von der Armut unverhältnismäßig stark betroffen. Diese Kombination von Armut und Geschlecht ist für die Lage der Res­ta­vek-­Kinder von zentraler Bedeutung. Angesichts der sich weiter verschlechternden politischen und wirtschaftlichen Lage in Haiti erscheint es nahezu unmöglich, die Ursachen des Restavek-Systems zu bekämpfen.

Die derzeitigen Bemühungen, das Gesetz gegen Sklaverei und Kinderhandel auch umzusetzen, reichen dafür jedenfalls nicht. Sie werden erst erfolgreich sein, wenn sich der Blick auf die fatalen Folgen von Armut, Geschlechtszugehörigkeit und mangelnden Bildungszugang richtet und hier nach Lösungen gesucht wird.

Aus dem Englischen von Nicola Liebert

Fiona de Hoog Cius hat über das Thema Kinderarbeit in Haiti promoviert und forscht am Helena Kennedy Centre der Sheffield Hallam University in Großbritannien.

Dieser Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem „Atlas der Versklavung“ (Hg.: Rosa-Luxemburg-Stiftung), der am 10. November 2021 erscheint. Die Texte und Grafiken stehen unter der freien Commons-Lizenz CC BY 4.0.

Le Monde diplomatique vom 07.10.2021, von Fiona de Hoog Cius