08.07.2005

Südkorea

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Südkorea

Ignacio Ramonet

Das vorherrschende Grundgefühl, das einem südkoreanische Politiker und Gewerkschafter bei Gesprächen vermitteln, ist Pessimismus. Mit den Vereinigten Staaten kommt es wegen Nordkorea zunehmend zu Spannungen. Ebenso gespannt sind die Beziehungen zu Japan, das die Grausamkeiten, die es den Koreanern während der japanischen Besetzung (1905–1945) zufügte, in seinen Schulbüchern weiterhin verharmlost und ebenso wie Korea Anspruch auf die Dokdoinseln erhebt. Zudem widersetzt sich Seoul dem diplomatischen Streben Tokios nach einem Sitz im UN-Sicherheitsrat.

Überdies geht es der südkoreanischen Wirtschaft sehr schlecht. Die drittgrößte asiatische Wirtschaftsmacht leidet unter nachlassender Verbrauchernachfrage und rückläufigen Exporten. „Südkorea stieg in vergleichsweise kurzer Zeit vom Entwicklungsland zur hoch entwickelten Industrienation auf“, erklärt der Direktor für internationale Beziehungen der Demokratischen Arbeitspartei (DLP), Bae Joon-Beom: „Durch die sozialen Kämpfe seit der Rückkehr zur Demokratie 1987 entspricht unser Lebensstandard heute in etwa dem EU-Durchschnitt. Die Löhne und Gehälter sind stark gestiegen. Deshalb bekommen wir die Auswirkungen der Globalisierung voll zu spüren. Unsere Großkonzerne verlagern massenhaft Arbeitsplätze ins Ausland, und das fällt ihnen umso leichter, als sie ihre Fabriken in China, gleich um die Ecke, bauen können.“

Als Folge verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen. Am Sitz der „Gewerkschaft der prekären Arbeiter“, die dem südkoreanischen Gewerkschaftsbund KCTU angehört, erfahren wir: „Von den 13 Millionen Erwerbstätigen Südkoreas haben 8,5 Millionen nur eine Teilzeitbeschäftigung, zeitlich begrenzte Arbeitsverträge oder Gelegenheitsjobs. Wer einen festen Arbeitsplatz hat, muss ständig Flexibilisierung, Standortverlagerungen und arbeits- und sozialrechtliche Verstöße der Arbeitgeber gewärtigen.“

Nirgends sonst auf der Welt hat die Prekarisierung der Arbeit infolge der Globalisierung solche Ausmaße. „Zwischen dem auftraggebenden Unternehmen und dem Beschäftigten, der die Ware herstellt, liegen manchmal sieben Subunternehmer“, sagen die Gewerkschafter. „Der Beschäftigte weiß nie genau, für wen er eigentlich arbeitet. Bei Problemen steht der Gelegenheitsarbeiter oft ohne Unterstützung da, denn die Gewerkschaften der prekären Arbeiter sind offiziell nicht anerkannt.“

Neben den sozialen Spannungen herrscht Beunruhigung wegen der nuklearen Bedrohung durch Nordkorea. Von US-Präsident George W. Bush zur „Achse des Bösen“ gerechnet, verschaffte sich Nordkorea ballistische Langstreckenraketen und kündigte im Januar 2003 den Nichtverbreitungsvertrag (NVV). Das Land besitzt nach eigenem Bekunden mehrere Atombomben und droht als Antwort auf amerikanische Angriffsgelüste mit Atomtests.

Der südkoreanische Vereinigungsminister Chung Dong-Young traf am 17. Juni dieses Jahres in Pjöngjang mit dem nordkoreanischen Präsidenten Kim Jong-Il zusammen. Er ist nicht beunruhigt: „Während der ersten Atombedrohung 1994 brachen die Börsenkurse in Seoul um 36 Prozent ein. Heute, wo die Bedrohung vielleicht viel ernster ist, reagiert die Börse nicht. Die nordkoreanische Regierung verlangt von Washington Sicherheitsgarantien. Sie denkt, die USA wollen ihr Regime stürzen. Die Vermischung dieser beiden Fragen birgt eine Menge Sprengstoff.“

Kim Jong-Il gab kürzlich bekannt, er wolle die Verhandlungen im Rahmen der Sechsergruppe (Nord- und Südkorea, China, Russland, Japan, Vereinigte Staaten) über den Abbau der nationalen Atomprogramme wieder aufnehmen, und deutete an, sein Land trete möglicherweise erneut dem Nichtverbreitungsvertrag bei. Damit bestünde Aussicht auf ein Ende der atomaren Bedrohung. Nun ist Washington am Zug. Fragt sich, ob Bush bereit ist, den Empfehlungen seines südkoreanischen Verbündeten Gehör zu schenken.

Le Monde diplomatique vom 08.07.2005, von Ignacio Ramonet