09.12.2021

Von Minsk bis Calais

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Von Minsk bis Calais

von Benoît Breville

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Wladimir Putin hat ein derart raffiniertes Manöver ausgebrütet, dass der Sender France Inter gleich zweimal seinen Starkolumnisten hat antreten lassen, um die Angelegenheit zu erklären. Thomas Legrand macht den russischen Präsidenten als Urheber der Krise zwischen Minsk und Warschau aus. Es handele sich um eine „offensichtlich von Moskau angeleitete und von Diktator Lukaschenko mit Hilfe von Damaskus ausgeführte Operation“, wobei auch Ankara als Mitverschwörer genannt wird.

Diese vier Komplizen hätten den Transport von 4000 Flüchtlingen an die polnische Grenze organisiert, um „einen in der EU schwelenden Konflikt anzuheizen“, zum Vorteil der „nationalistischen und fremdenfeindlichen Parteien, die mit ihm sympathisieren“. Putin habe den syrischen Bürgerkrieg genutzt, um „diesen Menschenhandel zu organisieren“ und eine Migrationswelle auszulösen, die seinen „Freunden bei der extremen Rechten Frankreichs“ nütze.

Dass ein EU-Anrainerstaat Migranten über seine Grenzen lässt, ist indes nichts Neues. Im vergangenen Mai griff Marokko nicht ein, als mehrere tausend Menschen schwimmend die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla erreichten. Damit rächte sich Rabat dafür, dass ein Anführer der Befreiungsbewegung Frente Polisario, die die Unabhängigkeit der Westsahara von Marokko fordert, in einem spanischen Krankenhaus behandelt wurde.

Niemand sprach in diesem Fall von einem „hybriden Angriff“, wie es EU-Kommissionspräsidentin Ur­su­la von der Leyen in Bezug auf Belarus tat, oder forderte, wie der polnische Ministerpräsident, eine Intervention der Nato.

Es steht außer Frage, dass Minsk die Migranten instrumentalisiert, da es wegen der seit 2020 bestehenden Sanktionen gegen Belarus eine Rechnung mit Brüssel zu begleichen hat. Und Russland lässt es geschehen und ist nicht unglücklich über die ­Scherereien der EU, die so gern Lektionen über Menschenrechte erteilt. Und nun treibt das Mitgliedsland Polen die Flüchtlinge bei Eiseskälte mit Wasserwerfern zurück.

Der Konflikt an der belarussisch-polnischen Grenze ist weniger als ein großes Komplott zu sehen; es handelt sich vielmehr um einen Bume­rang­effekt. Die Migrationspolitik der EU besteht aus Erpressung und Feilscherei. Europa bindet seine „Entwicklungshilfe“ an die Unterzeichnung von Rücknahmeabkommen, um mehr Menschen leichter abschieben zu können. Unwilligen Staaten droht sie, keine Visa mehr auszustellen. Sie bezahlt die Türkei dafür, dass sie 4 Millionen Flüchtlinge im Land zurückhält, Marokko, dass es die Grenze zu Ceuta und Melilla sichert, Libyen, dass es niemanden über das Mittelmeer lässt, und Niger, dass es die Passage durch die Sahara versperrt.

„Was das Regime in Belarus macht, nennt man Menschenhandel“, sagte der französische Regierungssprecher am 10. November. Ein paar Tage später befahl der französische Innenminister der Polizei, die Flüchtlingscamps in Grande-Synthe und Calais zu räumen und die Zelte mit Messern zu zerfetzen. Am 24. November starben 27 Menschen bei dem Versuch, den Ärmelkanal zu überqueren.

⇥Benoît Bréville

Le Monde diplomatique vom 09.12.2021, von Benoît Breville