09.12.2021

Brief aus Warschau

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Brief aus Warschau

von Gabriele Lesser

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Warschau ist eine faszinierende Stadt. Obwohl die Straßenbahnen noch immer über bucklige Schienen rumpeln, gleitet unterirdisch die Metro im Minutentakt von einem Ende der Stadt zum anderen. Vor zwei Wochen stieg ich tief unten an der Stacja Centrum aus, fuhr die steile Rolltreppe nach oben und konnte meinen Augen kaum trauen: Alles war in ein smaragdgrünes Licht getaucht. Die Menschen um mich herum zogen ihre Coronamasken unters Kinn, tanzten fröhlich lachend ein paar Schritte im grünen Licht, bevor sie im Fußgängertunnel Richtung Aleje Jerozolimskie verschwanden.

Grün wurde zum Hoffnungssymbol für tausende Flüchtlinge, die seit Mitte Oktober an der belarussisch-polnischen Grenze gestrandet sind. Überall dort, wo in den Fenstern ein grünes Licht leuchtete, wussten die oft tagelang durch die Wald- und Sumpfgebiete Irrenden: Hier finden sie freundliche Aufnahme, eine Dusche, warmes Essen und Trinken, ein sauberes Bett für eine Nacht.

Grün ist die Farbe des Islam, aber auch der Hoffnung. In der Woiwodschaft Podlachien an der Grenze zu Belarus stehen noch immer einige Holzmoscheen jener sunnitischen Tartaren, die polnische Könige vor mehr als 500 Jahren ins Land geholt hatten. Die berühmteste Moschee im Grenzdorf Kruszyniany ist grün gestrichen. Das brachte eine Aktivistengruppe im Dorf Michałowo auf die Idee, dass die meist muslimischen Ankömmlinge die grünen Lichter sofort als Hilfsangebot verstehen müssten.

Und nun leuchtete der Kulturpalast, das früher so verhasste Geschenk Stalins an „das polnische Brudervolk“, so intensiv grün, dass alle Passanten in der City für einen Moment selbst zu einem Symbol der Hoffnung wurden. Ich sah niemanden, der oder die das Zeichen der Solidarität nicht verstanden hätte.

Viele stimmten der Aktion zu, sie riefen „Trzaskowski!“ oder einfach „ratusz!“, was Rathaus heißt. Der liberale Stadtpräsident Rafał Trzaskowski ist beim Großteil der Warschauer Bevölkerung unter anderem für seine Kreativität beliebt, die sich gerade in solchen Aktionen zeigt. Viele sind stolz, in so einer Stadt zu leben.

Ein paar Tage später, eine Metrostation weiter. Der gellende Schrei einer jungen Frau geht mir durch Mark und Bein. Wie erstarrt bleibe ich an der Hauptpost stehen. Ich blicke mich um, dann entdecke ich sie. Sie steht ein Stück weiter in der Heiligkreuz-Straße und schreit ihre Verzweiflung in die Welt hinaus – eine unendlich erscheinende Minute lang.

Ganz in der Nähe ist die diplomatische Vertretung der EU. Dort sehe ich eine kleine Gruppe von Männern und Frauen aus Belarus, die in Polen dank eines Arbeitsvisums vor der Verfolgung und den Repressionen in ihrer Heimat Schutz gefunden haben. Sie demonstrieren für schärfere EU-Sanktionen gegen den belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko und sein Regime. Viele tragen große Fotos von geschundenen Häftlingen. Andere halten Kerzen für die Toten in den Händen. Dann ruft eine zweite Frau zur Solidarität mit den belarussischen Oppositionellen auf. Sie atmet tief durch, setzt das Megafon an, dann schreit auch sie ihre Verzweiflung hinaus. Leise frage ich jemanden in der Gruppe, wie ich sie erreichen kann. „Über das Belarussische Haus.“ Ich weiß, wo das ist und antworte: „Ich melde mich!“

Warschau ist mit seinen 1,8 Millionen Einwohnern nicht nur die Hauptstadt Polens, sondern auch die des Protests. Fast jeden Tag wird für oder gegen etwas demonstriert. In „schwarzen Märschen“ zogen um die Jahreswende 2020/21 Hunderttausende durch Warschaus Straßen und protestierten gegen das drohende fast totale Abtreibungsverbot.

Auf Antrag einiger Abgeordneter der regierenden PiS-Partei befand das Verfassungsgericht, ein Schwangerschaftsabbruch sei auch bei einem „schwerst geschädigten oder nicht überlebensfähigen Fötus“ illegal. Die Rich­te­r:in­nen entschieden, dass künftig ein Abbruch nur noch bei Vergewaltigung und bei Gefahr für Leib und Leben der Schwangeren legal sei.

Mit den „schwarzen Märschen“ legten vor allem junge Frauen tagelang die Straßen Warschaus lahm. So gelang es ihnen zunächst, die Verschärfung des ohnehin schon rigiden Abtreibungsrechts in Polen zu verhindern. Doch gegen das Verfassungsgericht war ihr Widerstand vergebens. Da half auch die blutrote Farbe nichts, die Aktivistinnen vor den Eingang des Gerichtsgebäudes geschüttet hatten.

Polens Frauen trauerten über den Verlust der Selbstbestimmung über ihren Körper. Doch die Breslauer Initiative „Allgemeiner Frauenstreik“, die die Märsche in Warschau und ganz Polen organisiert hatte, gab nicht auf. Inzwischen gibt es ein landesweites gynäkologisches Netzwerk im Untergrund, an das sich Frauen in Not wenden können.

Welche Folgen das fatale Urteil des polnischen Verfassungsgericht haben kann, zeigt der Fall der 30-jährigen Iza­bela aus Pszczyna (Pleß) in Oberschlesien. Als bei ihr in der 22. Schwangerschaftswoche das Fruchtwasser vorzeitig abging, begann der schwergeschädigte Fötus im Leib der Mutter zu sterben. Statt den natürlichen Abstoßungsprozess zu beschleunigen, um so das Leben der Schwangeren zu retten, warteten die Ärzte ab, bis kein Herzton des Fötus mehr zu hören war.

Der Kaiserschnitt kam am Ende zu spät. Izabela starb an einer Blutvergiftung, die aller Wahrscheinlichkeit nach von dem toten Fötus ausgegangen war. Wieder zogen zehntausende Polinnen in Schwarz durch Warschau und viele andere Städte. Sie beweinten Izabela, die ohne das faktische Abtreibungsverbot wohl noch am Leben wäre. Wenig später wurde bekannt, dass eine zweite junge Frau aus dem niederschlesischen Świdnica (Schweidnitz) unter ähnlichen Bedingungen ums Leben gekommen war. Wie hoch die Dunkelziffer ist, weiß niemand.

Doch es könnte noch schlimmer kommen: Mittlerweile hat eine Gruppe katholischer Fa­na­ti­ke­r:in­nen rund um die Stiftung „Leben und Familie“ eine Gesetzesvorlage in den Sejm, das polnische Abgeordnetenhaus, eingebracht. Die sieht das nun tatsächlich totale Verbot einer Abtreibung vor, also auch bei Vergewaltigung und bei Gefahr für Gesundheit und Leben der Schwangeren.

Politiker aus dem Regierungslager drohten bereits an, demnächst jede Schwangerschaft in einem Zentral­register zu erfassen, auf das auch Staatsanwälte und Geheimdienste zugreifen könnten. Jeder Schwangerschaftsabbruch solle künftig wie Mord geahndet werden – bis hin zu lebenslangen Haftstrafen. Bei Fehlgeburten müssten die Frauen beweisen, dass sie diese nicht absichtlich herbeigeführt hätten. Viele meiner Freundinnen und Bekannten überlegen mit ihren Partnern, wie sie eine Familie gründen können, ohne in ständiger Angst vor der Polizei zu leben.

Was es bedeutet, sich immer wieder vor Gericht verteidigen zu müssen, kann man von der Warschauer Psychotherapeutin und queeren Aktivistin Elż­bie­ta Podleśna erfahren: „Der polnischen Regierung geht es darum, uns so zu zermürben, dass wir irgendwann aufhören, für unsere Rechte einzutreten. Wir werden wegen allem und jedem vor Gericht gezerrt.“

Podleśna kann die Prozesse, die gegen sie laufen, kaum noch auseinanderhalten. Zurzeit sind es fünf oder sechs. Demnächst steht sie zusammen mit zwei befreundeten Aktivistinnen in zweiter Instanz vor Gericht. Angeblich sollen die drei die „religiösen Gefühle der katholischen Nation“ beleidigt ­haben.

Dabei geht um eine Geschichte, die schon im April 2019 begonnen hat. Der Priester der St. Dominik-Kirche in Płock bei Warschau hatte ein sogenanntes Ostergrab aufgestellt – eine sakrale Installation, in der er vor „Sünden“ wie „LGBT“, „Gender“ und „Homo-Abartigkeit“ warnte. Hiervor sollten sich Gläubige genauso hüten wie vor Hass, Lüge, Geiz und Abfall vom Glauben.

Um gegen diese Verleumdung zu protestieren, fuhren die drei Aktivistinnen nach Płock und brachten rund um die Kirche postkartengroße Aufkleber mit dem Bildnis der Schwarzen Madonna von Tschenstochau an. Die als Nationalheiligtum der polnischen Katholiken verehrte Ikone hatte allerdings nicht den originalen mattgoldenen, sondern einen Regenbogen-Heiligenschein. Außerdem hängten sie Plakate mit den Namen der polnischer Bischöfe und Priester auf, die sich sexuell an Kindern vergangen hatten oder Missbrauch gedeckt und vertuscht hatten.

Anfang März 2021 sprach das Bezirksgericht in Płock die drei Aktivistinnen frei; die Staatsanwaltschaft legte umgehend Berufung ein. Podleśna befürchtet, dass auch bei einem weiteren Sieg der Fall noch nicht ausgestanden sein wird: „Dann wird eben ­Zbigniew Zio­bro, der Generalstaatsanwalt und Justizminister in einer Person ist, persönlich dafür sorgen, dass unser Regenbogen-Madonna-Fall auch noch vor dem obersten Gericht landet.“

Dennoch glauben die drei Frauen, dass ihre Botschaft angekommen ist: dass nämlich eine liebende Mutter ihr Kind so akzeptiert, wie es ist. Maria hätte einen schwulen Jesus genauso an sich gedrückt und liebkost wie die Madonna von Tschenstochau. Inzwischen haben viele Gläubige öffentlich erklärt, dass sie sich durch die farbenfrohe Madonna keineswegs „beleidigt“ fühlen. Und im Rahmen einer Aktion von Amnesty International schickten tausende Menschen aus aller Welt Regenbogen-Postkarten, um den Aktivistinnen ihre Solidarität zu bekunden.

Über den Fall der „Beleidigung religiöser Gefühle“ soll am 8. Dezember in zweiter Instanz entschieden werden. Dann wird es in Warschau und Płock wieder Demonstration geben: bunt, selbstbewusst und natürlich mit großen Regenbogen-Madonna-Plakaten.

Gabriele Lesser ist taz-Korrespondentin in Polen.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.12.2021, von Gabriele Lesser