Brief aus Lemon City
von Edna Bonhomme
Als ich ungefähr sieben Jahre alt war, ging meine Tante Fifi mit meinen Cousins und Cousinen, meinen Geschwistern und mir zu einer Demonstration vor dem Büro der US-Einwanderungsbehörde an der 79. Straße in Miami. Wir protestierten gegen das harte Vorgehen gegenüber Geflüchteten aus Haiti, das unter den Republikanern etabliert worden war und von der Clinton-Administration weitergeführt wurde: Die Flüchtenden wurden auf See abgefangen, zum US-Militärstützpunkt Guantanamo auf Kuba gebracht und dort in Lagern eingesperrt.
Wir standen in der Menge, hielten uns mit einer Hand an Tante Fifi fest und reckten die andere zur Faust geballt in die Luft, während wir in einer Mischung aus Englisch und Kreol riefen: „Lasst die Haitianer rein!“
In den 1960er Jahren begannen Menschen – zunächst nur in kleiner Zahl – den Inselstaat zu verlassen. Die Reichen und Gebildeten konnten Visa ergattern und reisten ganz legal per Flugzeug in den Nordosten der USA oder nach Quebec. Doch die meisten dieser Generation konnten nicht nach New York fliegen, sie mussten in überfüllten Booten übers Meer nach Miami übersetzen.
Meine Eltern, Tanten und Onkel flohen in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren. Sie flohen ebenso vor der bitteren Armut wie vor dem brutalen, von den USA gestützten Regime von Jean-Claude Duvalier. Im Jahr 1980 kamen 25 000 Haitianer:innen auf dem Seeweg nach Südflorida. Sie hatten erkannt, dass – wie es im Gedicht „Home“ der britisch-somalischen Autorin Warsan Shire heißt – „das Wasser sicherer [war] als das Land“.
Mein Vater bestieg 1979 in Labé an der Nordküste Haitis ein Boot. Er floh vor der Diktatur und ließ seine Familie, die glitzernden Sandstrände und die Ruhe des Dorflebens zurück. Seine Reise führte ihn nicht auf direktem Weg nach Südflorida; das hölzerne Segelboot, mit dem er unterwegs war, machte halt auf der Île de la Tortue und den Bahamas, bevor es Miami erreichte.
Die Reise meiner Mutter verlief kaum anders. Ihr Boot teilte sie mit drei Dutzend Menschen und sie erinnert sich an die funkelnden Wellen und die sengende Sonne, die ihr einen Sonnenstich verpasste. Als sie über den Ozean blickte, spürte sie Hoffen und Bangen: Die Angst, weil sie nicht schwimmen konnte, verband sich mit der Aufregung, dass für sie gerade eine neue Zukunft begann.
Ihre neue Heimat hieß Lemon City, 15 Minuten nördlich von Downtown Miami, zwischen dem afroamerikanischen Viertel Liberty City und der afrodominikanischen Community in Wynwood. Meine Mutter fand Arbeit in einer Textilfabrik im nahe gelegenen Overtown. Der Aktivist und Community Leader Viter Juste wollte das Viertel Little Port-au-Prince nennen, aber es wurde schließlich als Little Haiti bekannt.
Heute leben über 100 000 Menschen haitianischer Herkunft im Miami Dade County. Die meisten von ihnen haben ihr neues Leben in Little Haiti begonnen, mit nur einem kleinen Zettel in der Hand, darauf ein Name, eine Telefonnummer und die Adresse eines Cousins.
In Little Haiti gründete Carmelau Monestime 1978 den ersten Kreol-Radiosender in den USA. Dort liefen Musik, Diskussionssendungen und Reportagen, dazwischen Werbespots für Lebensmittelgeschäfte oder auf Aufenthaltsrecht spezialisierte Anwaltskanzleien. In meinen Ohren klang das Programm wie eine unauflösliche Kakofonie menschlicher Stimmen, die alle durcheinandersprachen; in den Ohren meiner Eltern klang es nach Heimat. Serge Toussaint und andere Künstler und Künstlerinnen aus Haiti schmückten die Mauern mit Wandbildern in leuchtenden Farben und mit bunten Schildern für Bäckereien, Kirchen und botánicas (Geschäfte für Ritualutensilien und Devotionalien).
„Parol gen zel“ lautet ein haitianisches Sprichwort: Wörter haben Flügel. Meine erste Sprache in Little Haiti war Kreol. Aus den Liedern über Dutty Boukman und die Kinder, die sich seinem Aufstand gegen die Franzosen anschlossen, bezog ich mein erstes Wissen über die Revolution auf Haiti. Englisch lernte ich erst in der Schule, in der nach dem haitianischen Nationalhelden und Revolutionär benannten Toussaint L’Ouverture Elementary.
In gewisser Weise lebte ich in einer Enklave, mit allen Facetten des haitianischen Lebens – des Verkehrslärms von Port-au-Prince und des Geruchs von Muschelsalat aus Gonaïve. Die Community war der Anker für diejenigen, die die gefährliche Überfahrt und die US-amerikanische Xenophobie überlebt hatten. Die Nachbarschaft stärkte die Menschen aus Haiti im gleichen Maße, wie die Menschen aus Haiti die Nachbarschaft stärkten.
Vor ein paar Monaten bin ich das erste Mal seit vielen Jahren nach Miami zurückgekehrt. In Little Haiti anzukommen war, wie durch ein Tor zurück in meine Kindheit zu gehen. Vor der Statue von Toussaint L’Ouverture pickten Hühner, auf den Veranden spielten Männer Domino und die Banyanbäume überschatteten die Palmen. Der Spielplatz neben meiner alten Schule war schicker, als ich ihn in Erinnerung hatte, es gab neue Schaukeln, und auf dem Boden lag weicher, grüner Kunststoff. Doch die spielenden Kinder fehlten. Insgesamt fühlte sich das Viertel wie ausgestorben an, das war zum Teil sicherlich der Pandemie geschuldet, aber auch dem Umstand, dass viele der einstigen Bewohner – auch viele aus meiner Familie – nach und nach weggezogen sind.
Die meisten Menschen in Little Haiti können sich kein Haus leisten. Die Arbeitslosen- und Armutsquote ist höher als in den meisten anderen Stadtteilen von Miami, die abwesenden Vermieter lassen die Häuser verfallen oder gleich abreißen, denn sie warten darauf, dass sich die Gentrifizierung von Wynwood weiter nach Norden ausbreitet. Ein leeres Grundstück verspricht mehr Profit.
In dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, wohnt immer noch eine haitianische Familie, aber die Häuser rechts und links stehen leer, die Grundstücke sind von Unkraut überwuchert. Die Sozialwohnungssiedlung, in der meine Tante Melo 1978 mit ihrem Zettel in der Hand landete und wo meine Cousins und Cousinen aufwuchsen, ist heute eine Gated Community mit Sicherheitsdienst.
Seit dem Immigration and Naturalization Act von 1965, der die National Origins Formula aus den 1920er Jahren (die den Erhalt der weißen Bevölkerungsmehrheit sichern sollten) abgelöst hatte, nahmen die USA 59 Millionen Einwanderer auf. Nach der Aufhebung des Chinese Exclusion Act im Jahr 1943 hatte es bereits deutlich mehr Zuwanderung aus Ost- und Südasien gegeben, wodurch sich die soziale und wirtschaftliche Landschaft veränderte.
In den 1960er und 1970er Jahren kamen Menschen aus aller Welt aus sehr unterschiedlichen Gründen in die USA. Einige kamen zum Studieren, andere, um auf den Farmen im Südwesten zu arbeiten; wieder andere träumten von einem Amerika, das sie aus Filmen kannten, oder sie kamen einfach so; einige folgten einem Versprechen, andere flohen vor Armut und Krieg.
Auch die Geschichte meiner Eltern ist Teil dieser sich ständig wandelnden Einwanderungsgesellschaft, sie ist amerikanische Erfolgsstory und Tragödie zugleich. Haitianische Bootsflüchtlinge machten die USA (und Miami) zu dem, was sie im späten 20. Jahrhundert waren.
Hätte Donald Trump sich durchgesetzt mit seiner Idee, die birthright citizenship, die Staatsbürgerschaft qua Geburtsort, abzuschaffen und in den USA geborenen Kindern von Eltern aus „shithole countries“ – wie mir – die Staatsbürgerschaft vorzuenthalten, dann wäre ich heute weder Amerikanerin noch Haitianerin, denn Haiti erkennt im Ausland geborene Kinder nicht als Staatsbürger an. Ich wäre staatenlos.
„Doppeltes Bewusstsein“, schrieb der Soziologe W. E. B. Du Bois 1903 in seinem Essayband „The Souls of Black Folk“ (auf Deutsch „Die Seelen der Schwarzen“), bedeute „dieses sonderbare Gefühl, sich selbst immer nur durch die Augen anderer wahrzunehmen, der eigenen Seele den Maßstab der Welt anzulegen, die nur Spott und Mitleid für einen übrig hat.“
In der Nacht zum 7. Juli stürmte eine Gruppe bewaffneter Männer die Privatwohnung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse und erschoss ihn. Der dreiste Mordanschlag versetzte die haitianische Gesellschaft in einen Schockzustand. Obwohl noch unklar ist, wer die Mörder angeheuert hat und warum, gibt es bereits Hinweise, die auf kolumbianische Söldner, eine in den USA ansässige Sicherheitsfirma und verschiedene inländische Gegner von Moïse hindeuten.
Einige Wochen nach dem Attentat und kurz bevor am 14. August ein katastrophales Erdbeben den Südwesten Haitis erschütterte, fuhr ich nach Miami. Die Auswirkungen des Bebens werden Florida in Form von neuen Migrationswellen erreichen; das Attentat auf den Präsidenten wurde von haitianischen Exilpolitikern ausgeheckt, vermutlich zusammen mit US-Hintermännern. Die ausführenden Söldner standen Berichten zufolge in Verbindung mit einem aus Haiti stammenden US-Bürger in Miami.
Die Biden-Administration deportiert weiterhin Geflüchtete aus Haiti, obwohl die USA für viele von ihnen eine Zuflucht geworden sind. Und denjenigen, die es trotz allem nach Südflorida schaffen, bleibt nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden, was inzwischen aus Miami geworden ist: Heimat sowohl der Unterdrücker aus Lateinamerika und der Karibik als auch die ihrer Opfer.
Aus dem Englischen von Sabine Jainski und Anna Lerch
Edna Bonhomme ist Wissenschaftshistorikerin, Autorin und interdisziplinäre Künstlerin. Sie lebt in Berlin.
© LMd, Berlin; eine kürzere Fassung erschien zuerst in der London Review of Books.