09.09.2021

Die erste Impfung der Welt

zurück

Die erste Impfung der Welt

Im Kampf gegen die Pocken entstand die neue Wissenschaft der Immunologie

von Steven Shapin

„Jenners erste Pockenimpfung“, Farblithografie um 1865 picture-alliance/akg-images
Audio: Artikel vorlesen lassen

Der Kampf gegen die Pocken ist einer der größten Erfolge der Medizingeschichte. Zahllose Menschen sind früher an dieser Krankheit gestorben – eine halbe Milliarde allein im 20. Jahrhundert. Die Menschenpocken, auch Blattern oder Variola genannt, waren „die schrecklichsten aller Todbringer“, wie der britische Historiker Thomas Macaulay schrieb, und sie befielen vor allem Kinder. Es gab Zeiten, da infizierte sich statistisch gesehen weltweit eine von drei Personen. Bei manchen Ausbrüchen starb die Hälfte der Infizierten.

Heute gibt es die Pocken nicht mehr. 1980 erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sie offiziell für ausgestorben – es ist die einzige menschliche Infektionskrankheit, bei der dies bisher gelungen ist. Das Virus, das die Krankheit verursacht, existiert jedoch weiterhin. Nach offiziellen Angaben wird es in Sicherheitslaboren der US-Gesundheitsbehörde CDC in Atlanta und am russischen Staatlichen Forschungsinstitut für Virologie und Biotechnologie im sibirischen Kolzowo aufbewahrt. Soweit wir wissen, ist das alles, was von der Krankheit übrigblieb. Nach Geheimdienstberichten besaß einst auch der Irak unter Saddam Hussein das Virus, in Nordkorea soll es ebenfalls Bestände geben, und 2014 stolperte ein Forscher in der US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel (Food and Drug Administration, FDA) über einen Karton, in dem sich sechs Fläschchen mit Pockenviren befanden, die dort ganz offensichtlich nicht hingehörten.

Die letzte natürliche Ansteckung mit Pocken wurde 1977 in Somalia registriert, und ihr letztes Todesopfer war eine Laborfotografin, die sich 1978 an der medizinischen Fakultät der Universität Birmingham mit versehentlich freigesetzten Viren infiziert hatte. In Großbritannien und in den USA wurde die Impfpflicht in den frühen 1970er Jahren aufgehoben, in der Bundes­repu­blik 1976 und in der DDR 1982. Wenn man sagt, dass die Pocken heute keine Gefahr mehr darstellen, entspricht das ungefähr der Behauptung, von Atomwaffen ginge kein Risiko mehr aus. Vor nicht allzu langer Zeit hielt die US-Regierung einen bioterroristischen Anschlag immerhin für so wahrscheinlich, dass sie im Juni 2001 ein Pocken-Attentat namens Operation „Dark Winter“ simulierte. Die CDC kam daraufhin zu dem Schluss, die strategische Impfstoffreserve reiche aus, um die gesamte Einwohnerschaft der USA zu immunisieren.

Manche Fachleute glauben, ein Terrorangriff mit Pockenviren sei „potenziell das ganz große Ding“: Das Ende der Impfkampagnen habe die Weltbevölkerung wieder immunologisch „naiv“ gemacht – wie die Ureinwohner Amerikas, die 1763 die infektiösen Decken entgegennahmen, die ihnen auf Befehl des britischen Generals Jeffrey Amherst „geschenkt“ wurden.

Schon im 18. Jahrhundert war allgemein bekannt, dass Melkerinnen und Melker, die sich mit den wesentlich ungefährlicheren Kuhpocken infiziert hatten (Melkerknötchen), anscheinend vor den echten Pocken geschützt waren. Das wusste auch der Arzt Edward Jenner aus Gloucestershire. Es war der Anfang vom Ende der Pocken. 1796 „impfte“ Jenner erstmals einen achtjährigen Jungen mit Kuhpockeneiter, den er aus der Hautpustel einer Melkerin gezogen hatte. In den folgenden Monaten setzte Jenner den Jungen wiederholt infektiösem Material aus. Doch er blieb gesund – er war also geschützt.

Die Prozedur wurde Vaccination (Vakzination) genannt, abgeleitet von Variolae Vaccinae, dem lateinischen Namen für Kuhpocken. Viele Jahre später entschied der französische Chemiker Louis Pasteur (1822–1895), dass alle Formen der Impfung zu Ehren Jenners künftig als „Vakzination“ bezeichnet werden sollten, auch wenn sie nichts mit Kühen zu tun hatten.

Nachdem sich Jenners Methode, Probanden mit abgeschwächten Lebenderregern von Kühen zu infizieren, um sie vor den echten Pocken zu schützen, als sicher und wirksam erwiesen hatte, wurde in England 1840 die Gratisimpfung eingeführt. Und 1853 trat eine Impfpflicht in Kraft.

Gewöhnlich beginnen die Geschichten vom Triumph der Medizin über todbringende Krankheiten mit Jenner. Dabei stand auch er schon in einer langen Tradition ähnlicher medizinischer Praktiken. Seine Impfung war nämlich eine Art Inokulation, abgeleitet von der im Gartenbau üblichen Veredelungstechnik (Okulation), bei der die Knospe oder das „Auge“ (Lateinisch: oculus) einer Edelsorte auf eine Wildpflanze aufgepfropft wird.

Bevor Jenners Pockenimpfung aufkam, hatte man mit dieser Methode bereits milde Menschenpocken-Infektionen ausgelöst, „Variola­tion“ genannt. Dazu entnahm der Arzt etwas Eiter aus einer Pustel eines Pockenkranken und führte ihn unter die Haut eines Gesunden. Nach etwa 12 Tagen traten Fieber, Kopf- und Rückenschmerzen auf, manchmal auch Übelkeit. Ein paar Tage später erschienen auf der Haut und im Mund die charakteristischen runden, erbsengroßen Pusteln. Doch im Idealfall waren es weitaus weniger als bei einer natürlichen oder „zufälligen“ Pockeninfektion. Bei einem günstigen Verlauf verkrusteten die Pusteln, und wenn der Schorf nach einigen Wochen abfiel, sollten möglichst nur kleine oder gar keine Narben zurückbleiben.

Bei der Variolation machte man also eine Infektion mit echten Pocken durch. Doch wenn das Verfahren gelang, handelte es sich nicht um die bösartige Form der Krankheit, bei der fast der gesamte Körper mit Pusteln übersät war und sich auch auf Leber und Milz schmerzhafte Blasen ausbreiteten; man hatte auch keine Blutvergiftung oder Organversagen und starb keinen qualvollen Tod, was nach einer natürlichen Pockeninfektion häufig geschah. In besonders schweren Fällen starben die Menschen bereits nach wenigen Tagen oder sogar Stunden nach Auftreten der ersten Symptome. In einer Quelle aus der Mitte des 18. Jahrhunderts wird das Begräbnis eines Pockentoten beschrieben, dessen „Gliedmaßen abfielen, als sie ihn in den Sarg heben wollten“.

Doch wie kam man überhaupt auf eine solche Prozedur, die dem gesunden Menschenverstand eigentlich widerspricht? Die offizielle Darstellung ist eine Mischung aus britischer Medizingeschichte und Orientalismus. 1717 zog die Schriftstellerin und Lyrikerin Lady Mary Wortley Montagu nach Konstantinopel zu ihrem Ehemann, der britischer Botschafter bei der Hohen Pforte war. Sie erfuhr, dass in der Stadt gewisse alte Frauen, christliche Griechinnen, „aufpfropften“, wie man das damals nannte.

Tausende ließen sich so mit Pockeneiter infizieren. Es ging schnell und manchmal regelrecht vergnüglich dabei zu. In der kurzen Heilungsphase sollten sich die Patientinnen und Patienten vegetarisch ernähren, als zusätzlicher Schutz vor künftigen Infektionen. Lady Mary hatte selbst gerade eine Pockeninfektion durchgemacht und die typischen Narben davongetragen („Meine Schönheit ist dahin“, schrieb sie später), und ihr Bruder war daran gestorben. Sie zweifelte an Wissen und Praxis der britischen Medizin, war jedoch offen für die osmanische Kultur und die lokalen medizinischen Praktiken.

Damals war es für die meisten Leute klar, dass ihre Kinder irgendwann die Pocken bekommen würden. Viele hatten bereits Angehörige und Freunde durch die Krankheit verloren. Daher war es gar nicht so verwunderlich, dass Lady Mary das Risiko eingehen wollte. Zur Inokulation ihres fünfjährigen Sohnes rief sie einen schottischen Chirurgen in die Botschaft, der einer erfahrenen Griechin eigentlich nur assistieren sollte. Doch als der Arzt deren stumpfe verrostete Nadel sah, nahm er die Variolation lieber selbst in die Hand. Alles ging glatt, der Junge bekam nur eine überschaubare Anzahl behandelbarer Pusteln und behielt keine Narben zurück. Bald war er wieder putzmunter. Lady Mary berichtete in ihren Briefen nach London davon, und schon vor ihrer Rückkehr nach England 1719 war die Inokulation zum Stadtgespräch geworden.

Als die britischen Ärzte von den türkischen Pockenimpfungen erfuhren, war die Inokula­tions­technik außerhalb der westlichen Welt schon lange bekannt. Jahrhundertelang hatte man in China getrockneten und gemahlenen Pockenschorf geschnupft, und arabische Ärzte hatten bereits Eiterinjektionen vorgenommen. Auch in Nord- und Subsahara-Afrika war die Inokula­tion schon lange weit verbreitet.

In Boston wurde das Verfahren erstmals 1721 bei einem Pockenausbruch angewandt, und zwar auf Betreiben des puritanischen Geistlichen Cotton Mather, der es von seinem Sklaven Onesimus gelernt hatte, „der ein recht intelligenter Kerl ist“. Onesimus war selbst inokuliert worden und erklärte Mather, das sei in seinem afrikanischen Heimatland durchaus üblich; vermutlich stammte er aus dem Gebiet des heutigen Ghana. Auch in Indien hatten Brahmaninnen und Brahmanen über Jahrhunderte oder noch länger Inokulationen vorgenommen; es gibt auch Berichte aus dem 17. Jahrhundert über diese Praxis in Dänemark, der Schweiz und Polen.

In Konstantinopel war das Verfahren erst wenige Jahrzehnte vor Lady Marys Besuch von tscherkessischen und georgischen Händlern eingeführt worden, die es möglicherweise aus Asien oder Afrika mitgebracht hatten. Bereits um 1600 war die Inokulation in der Volksmedizin im walisischen Pembrokeshire bekannt, wo man das Verfahren als „Pocken kaufen“ bezeichnete.

Als Lady Mary nach London zurückkehrte und dort für die Variolation warb, wollten die feinen englischen Ärzte erst gar nicht glauben, dass diese Prozedur asiatischen Ursprungs hilfreich sein sollte. Wie konnte es sein, fragte einer von ihnen, „dass ein Experiment, das nur von ein paar unwissenden Frauen in einem ungebildeten Volk praktiziert wurde, in einer der gebildetsten Nationen der Welt so mir nichts dir nichts und nur auf der Basis mehr als dürftiger Erfahrungen übernommen werden soll?“

Die Ärzte begannen die Inokulation zu verwestlichen, indem sie, jedenfalls nach eigener Auffassung, das Verfahren verbesserten und die neue Praxis an die damals gängigen Vorstellungen von Krankheiten und Heilung anpassten. Während die griechischen Frauen in Konstantinopel die Haut nur oberflächlich einritzten, setzten die Londoner Ärzte tiefe Schnitte und erhöhten die eingebrachte Eiterdosis, um sicherzugehen, dass genügend infektiöses Material in die Wunde gelangte. Gemäß der nach wie vor gültigen Vier-Säfte-Lehre wollten sie dadurch den Giftstoffen einen Weg bahnen, auf dem sie wieder ausgeschieden werden können.

Die größte „Verbesserung“ der Briten bestand jedoch darin, die schnelle und einfache Methode der Osmanen durch eine ausgeklügelte und zeitraubende Kur zu ersetzen, die darauf abzielte, den Körper auf die Variolation vorzubereiten. Die vier Leibessäfte Blut, Schwarzgalle, Gelbgalle und Schleim sollten in Einklang gebracht, die ­Temperatur gesenkt und das Blut gereinigt werden.

Alkoholische Getränke waren verboten, es wurden Aderlass und Abführmittel eingesetzt und einige Maßnahmen wurden sogar noch Wochen nach der Inokulation angewandt. Das Ziel war, einen „reinen Körperhabitus“ herzustellen, damit das eingebrachte Pockenmaterial seine volle Wirkung entfalten konnte. Es gab aber auch Verhaltensvorschriften: Die Impflinge sollten maßvoll, ruhig und fröhlich bleiben und keine Angst haben. Die Auswahl und Vorbereitung der Personen, die inokuliert werden sollten, konnte ebenso wichtig sein wie die Prozedur selbst.

Gegen die Variolation erhob sich großer Widerstand. Religiöse Gegner waren der Überzeugung, dass nur Gott jemandem eine Krankheit auferlegen durfte, manche sorgten sich wegen der Todesgefahr. Andere waren zwar einigermaßen beruhigt angesichts des relativ geringen Risikos, wollten aber trotz allem kein totes Kind auf dem Gewissen haben. In den Städten, wo viele Menschen eher fatalistisch auf die Pockenepidemien reagierten, war die Haltung eine ganz andere als auf dem Land, wo die seltenen Ausbrüche eher Panikreaktionen auslösten.

Doch Lady Mary und ihre medizinischen Verbündeten ließen nicht locker, die Inokulation allgemein zu verbreiten. Als sie ihre dreijährige Tochter in London inokulieren ließ, durften die berühmtesten Ärzte dabei zuschauen. 1722 bat Caroline von Ansbach, die damalige Princess of Wales, ihren Schwiegervater, König George I., um Erlaubnis, ihre Kinder inokulieren zu lassen.

Zunächst übernahm der Hochadel die Praxis, dann folgten der niedere Adel und reiche Bürger, die sich Inokulationen für ihre Kinder und – falls sie die Krankheit noch nicht durchlebt hatten – sich selbst leisten konnten. Das Verfahren galt als relativ sicher, obwohl es Ausnahmen gab, die auch öffentlich gemacht wurden: Der Sohn des Earl of Sunderland starb nach der Variolation, ebenso wie ein Diener des Earl of Bathurst, „ein starker, gesunder junger Mann“.

Diejenigen, deren Leben „etwas zählte“, verlangten Garantien für ein sicheres und wirksames Verfahren, und so wandte man die Inokulation erst einmal bei denjenigen an, deren Leben „wenig zählte“: den Armen und Machtlosen. Sie wurden, teils sogar ungefragt, für Experimente missbraucht, in denen man herausfinden wollte, ob die Variolation „das Leben der Wertvollen“ retten konnte.

Im Newgate-Gefängnis fand man sechs Freiwillige, die dafür mildere Urteile bekamen. Das Experiment wurde ordnungsgemäß durchgeführt und galt als Erfolg. Dann suchte man vor allem zur Beruhigung des englischen Thronfolgers und dessen Frau weitere Versuchskaninchen und kam diesmal auf sechs Waisenkinder. Sie wurden in einem Haus in Soho inokuliert und öffentlich zur Schau gestellt. Auch dieses Experiment gelang, was die „Wertvollen“ noch mehr ermutigte, sich selbst behandeln zu lassen.

Die Nachfrage wurde bald auch durch nüchterne wirtschaftliche Überlegungen angekurbelt. „Mein Gesicht ist mein Vermögen“, sagt schon die Melkerin in einem alten Kinderlied, denn ein pockennarbiges Gesicht ließ den Wert auf dem Heiratsmarkt stark sinken. Auch auf den amerikanischen Sklavenmärkten beeinflussten die Pocken den Kurs: Sklavinnen und Sklaven, die inokuliert waren oder die Pocken überlebt hatten, kosteten mehr Geld.

Bei den Hausangestellten in Großbritannien galten Variolation oder eine überstandene Krankheit als zusätzliche Qualifikation: Sie konnten dann ohne Risiko für die Kinder des Arbeitgebers sorgen. Gemeindevorsteher kamen zu dem Schluss, dass ein Pockenausbruch unter den Armen auch ein Risiko für die Reichen darstellte, da er die Gesundheit des wohlhabenden Bürgertums bedrohte und in der Folge ein Personalmangel zu befürchten war. Bei der Förderung von Gratis-Ino­kulationen für die Arbeiterklasse spielten wirtschaftliche Interessen mindestens eine ebenso große Rolle wie Altruismus und die Fürsprache durch die Quäker.

Was war die Ursache der Pocken? Wie verbreitete sich die Krankheit? Wie hoch waren die genauen Ansteckungs- und Todesraten? Über diese Fragen stritten Ärzte und Philosophen, und viele waren mit den bereits vorliegenden Informationen und Theorien nicht zufrieden. Die Variolation gab Anlass zu weiteren Sorgen. War sie wirksam, und wie konnte man dies verlässlich belegen? Schützte sie wirklich ein Leben lang vor Ansteckung? Wie hoch war das Risiko? Konnten inokulierte Personen andere infizieren, und wenn ja, über welche Wege und innerhalb welchen Zeitraums? Übertrug die Inokulation die „echten“ Pocken oder eine andere Krankheit?

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts ging der Trend dahin, die Variolation als verhältnismäßig sicher einzustufen. Manche Berechnungen kamen zu dem Schluss, das Todesrisiko bei der Ino­kulation betrüge etwa 1:60, bei der natürlichen Infektion dagegen 1:7 oder 1:8. Bei der Frage, wie die Inokulation eigentlich wirkte, war man sich jedoch uneins: Viele Ärzte gaben freimütig zu, sie hätten im Grunde keine Ahnung.

Impfskepsis und die Angst eine Kuh zu werden

Doch die Mitwirkung von Ärzten und Philosophen der Royal Society an diesen Debatten und deren Forschungen zur Verbreitung der Krankheit, die später als „Statistiken“ bekannt werden sollten, führten letztlich zu einem Wandel in der Wissenschaft. Die britischen Inokulationsdebatten des 18. Jahrhunderts gelten in der Wissenschaftsgeschichte als Beginn der Epidemiologie und Biostatistik. In der westlichen Welt begann die Inokulation in London und Boston. Doch weil man die Vorbereitung und Nachsorge der Patientinnen und Patienten mit einem dermaßen großen Aufwand betrieb, blieb sie mehrere Jahrzehnte lang allein den wohlhabenden Schichten vorbehalten. Die Standardisierung, Ausbreitung und Routine des Verfahrens erfolgte ausgerechnet in der Provinz, und zwar an der englischen Ostküste in der Grafschaft Suffolk durch den Chirurgen Robert Sutton und vor allem durch einen seiner sechs Söhne, Daniel Sutton (1735–1819).

Die Suttons industrialisierten das Verfahren der Pockeninokulation und bauten damit ein profitables Unternehmen auf. Robert Sutton hatte den Familienbetrieb gegründet. Doch nach Streitigkeiten mit seinem Vater machte sich Daniel in den frühen 1760er Jahren selbstständig und ließ sich in einem Dorf nahe Chelmsford in Essex nieder, wo er Zehntausende inokulierte. Daniels „Sutton-Methode“ war überaus erfolgreich und fand weite Verbreitung.

Manche Konkurrenten glaubten, das Erfolgsgeheimnis sei die Herkunft des Eiters, der für die Variolation verwendet wurde. Bezog Sutton ihn nur von bestimmten Pockenkranken? Heute wird manchmal die Meinung vertreten, er könnte nur Material von leichteren Fällen verwendet haben, um eine Viruslinie mit milderen Auswirkungen zu übertragen. Oder war es seine Technik der flachen Einschnitte? Einige Fachleute nehmen an, die Vermehrung des Virus in den oberen Hautschichten habe zu dessen Abschwächung geführt. Manche seiner Zeitgenossen vermuteten – ebenso wie Forschende heute –, dass ein Schlüsselfaktor für den Erfolg des Verfahrens die sorgfältige Auswahl von kerngesunden Impflingen war. Doch solange diese Geheimnisse gewahrt blieben, machte Sutton gute Geschäfte.

Bald war Daniel Sutton so vermögend, dass er mit seiner Praxis nach London umziehen konnte. Dort ließ er sich in einem Haus in Kensington Gore nieder, das selbstverständlich Sutton House genannt wurde. 1764 bezog er ein jährliches Einkommen von 6300 Guineen – nach heutigem Wert etwa 1,2 Millionen Dollar.

1796, im Alter von 61 Jahren, entschloss sich Sutton die Geheimnisse seiner Methode zu enthüllen. Doch das Ergebnis fiel enttäuschend aus: Sein Buch mit Fallgeschichten und „Theorie“, in dem er angeblich alles offenbaren wollte, enthielt mehr Selbstbeweihräucherung als Enthüllungen. Es hieß „The Inoculator“, und der bestimmte Artikel war natürlich Absicht, er sollte auf Suttons Einzigartigkeit verweisen. Zu dieser Zeit wandten jedoch ohnehin schon alle Inokulierer die „Sutton-Methode“ an oder behaupteten dies zumindest: flache Einschnitte, nur eine kleine Dosis Eiter, eine schnelle Vorbereitung durch einfache Diät plus quecksilber- oder antimonhaltigen Abführmittel, von denen man annahm, dass Sutton sie benutzte.

Suttons eigenes Geschäft hatte seine besten Tage längst hinter sich, denn die Kundschaft wollte nicht mehr für das teure Original bezahlen, wenn es billigere und offenbar ebenso gute Konkurrenzangebote gab. Zu diesen Widrigkeiten kam noch eine wachsende politische Sorge: Auch wenn die Variolation die Impflinge selbst nicht gefährdete, waren doch noch längst nicht alle ino­kuliert, und so konnten sie ein Infektionsrisiko für andere darstellen.

Am Ende setzte sich Edward Jenners Impfung gegenüber der Variolation durch: In den Kensington Gardens steht eine Jenner-Statue und keine von Sutton. Allerdings kam dieser Sieg weder schnell noch widerstandslos. Jenners neue Methode hatte viele Vorzüge: Man bekam keine echten Pocken mehr und ging daher kein Risiko einer Erkrankung ein; es brauchte keine Vorbereitung oder Nachsorge; die Impfung versprach langfristigen Schutz; und man stellte keine Infektionsgefahr für andere dar, so dass man sich nach der Behandlung nicht mehr in „Selbstisolation“ oder Quarantäne begeben musste.

Dennoch zogen viele Britinnen und Briten weiterhin die Variolation einer Impfung vor. Da­niel Sutton überlebte Jenners Entdeckung um 20 Jahre, doch seine Variolation wurde weitaus länger praktiziert und vermochte die Nachfrage in Großbritannien noch für eine ganze Weile zu befriedigen.

Die Impfskepsis im Großbritannien des 19. Jahrhunderts war beträchtlich. Sie speiste sich vor allem aus Zweifeln an der Sicherheit von Jenners Verfahren. Zum Teil lag es aber auch einfach nur an mangelnder Gewöhnung, dass die Leute eher zurückhaltend auf die Impfung reagierten. Hatte man sich früher gegen die Variolation gesträubt, weil sie aus Asien kam, war das schon lange kein Thema mehr. Doch die Impfung war brandneu und das Risikoempfinden noch nicht durch Gewöhnung abgestumpft.

Lange bevor eine Wissenschaft namens Immunologie entstand, war die Grenze zwischen dem Körper-Ich und der Umwelt eine kritische Barriere. Mit der Variolation wurde zwar eine milde Variante der gefürchteten Pocken übertragen, aber die Krankheit selbst war im 18. Jahrhundert nichts Besonderes. Die Kuhpocken stammten jedoch von Rindern. Bei Jenners Methode wurde also Material aus einer anderen Lebensform in den menschlichen Körper übertragen. Solche Überlegungen waren für manche Leute entscheidend.

Der Karikaturist James Gillray verspottete die Vakzination mit einer Zeichnung, in der den frisch Geimpften Kuhbeine aus dem Körper wuchsen. Die Angst vor der „Verrindung“ war weit verbreitet, für viele war das kein Witz. Zudem gab es Befürchtungen, dass die Impfung noch andere Tierkrankheiten übertragen könnte. Bei einem kleinen Pockenausbruch in den 1890er Jahren in Jenners Heimat Gloucestershire widersetzten sich manche Eltern der Impfung mit dem Argument, sie wollten nicht, dass man „ein Tier in ihre Kinder steckt“.

Die ersten „Verweigerer aus Gewissensgründen“ wandten sich nicht etwa gegen den Kriegseinsatz, sondern gegen die Impfpflicht. Die Gefangenen aus Newgate, die Londoner Waisen und tausende Arme wurden zur Variolation gezwungen, aber für die meisten war sie auf dem Medizinmarkt des 18. Jahrhunderts eine freie Wahl. Die Diskussionen um eine Impfpflicht begannen kurze Zeit nach Jenners Entdeckung, bis sie schließlich gesetzlich festgeschrieben wurde: Erst wurde die Variolation verboten und dann die Impfung vorgeschrieben.

Obwohl immer mehr Beweise für die höhere Sicherheit und Wirksamkeit der Impfung vorlagen, konnte die Wissenschaft nie alle Zweifel zerstreuen; und auch wenn eine Zwangsimpfung aus medizinischer Sicht immer sinnvoller erschien, stieß diese an Grenzen, wenn es um politische und moralische Überzeugungen ging. In der wissenschaftlichen Debatte des 18. und 19. Jahrhunderts über Variolation und Impfung ging es um die Abwägung zwischen öffentlicher Gesundheit und den Risiken für das Individuum, zwischen dem Wohlergehen der Gesellschaft und dem Wunsch der Einzelnen, die Kontrolle über den eigenen Körper zu behalten.

Diese Spannungen tauchen bei der öffentlichen medizinischen Versorgung notwendigerweise auf. Es gibt keinen geraden Weg, der von der wissenschaftlichen Erkenntnis ohne Hindernisse zum politischen Handeln führt; und in einer liberalen Gesellschaft kann man das Recht auf freie Wahl nicht einfach ignorieren. In einer frühen Parlamentsdebatte über den Pockenschutz wandte sich ein Redner mit folgenden Worten gegen das Verbot der Variolation: „Das Recht, das Falsche zu tun, zählt immer noch zu den Privilegien frei geborener Engländer.“

Aus dem Englischen von Sabine Jainski

Steven Shapin ist emeritierter Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Harvard, zu seinen Werken zählt unter anderem „The Scientific Life. A Moral History of a Late Modern Vocation“ Chicago (University of Chicago Press) 2008.

© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.09.2021, von Steven Shapin