12.08.2021

Mehl so weiß

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Mehl so weiß

Kleine Kulturgeschichte des Weizenanbaus

von Bee Wilson

Pieter Bruegel der Ältere, „Die Kornernte“ (1565) Heritage-Images/Art Media/akg-images
Mehl so weiß
Mahltechniken

Nicht viele Menschen dürften von Norman Borlaug gehört haben – dabei hat er etwas erfunden, das die meisten Menschen tagtäglich konsumieren. Ohne die kurzhalmige, ertragreiche Hybridweizensorte, ein Erzeugnis, das sehr zum Erfolg der „grünen Revolution“ beitrug, würde es viele der uns vertrauten Lebensmittel gar nicht geben. Ob Sandwich oder Pizza, ob Sojasoße oder Tierfutter: Alles wird mit Weizensorten hergestellt, die auf Borlaugs Züchtung zurückgehen.

Weißes Weizenmehl ist ein Nahrungsmittel mit einigen Nachteilen: Es schmeckt praktisch nach nichts, allenfalls ist ein schwaches Aroma von Tapetenkleister wahrnehmbar. Es enthält wenig Nährstoffe, weshalb in manchen Ländern die Zugabe von Kalzium, Eisen, Thiamin (Vitamin B1) und Niacin gesetzlich vorgeschrieben ist, um die durch den Mahlvorgang verloren gegangenen ursprünglichen Bestandteile des Weizens zu ersetzen.

Solches Mehl ist also weder rein noch ursprünglich, sondern das Endprodukt einer Reihe technologischer Prozesse und stofflicher Zusätze. Dazu gehören ausgefeilte Züchtungstechniken und der Einsatz von Kunstdünger, aber auch die ständige Weiterentwicklung der Mahltechnologie oder weltweite Verteilungsnetze. Industriell hergestelltes Weizenmehl lässt sich – und das ist sein großer Vorteil – zu Produkten unterschiedlicher Konsistenz verarbeiten, etwa zu zartem Biskuitteig, knusprigen Keksen und fluffigem Yorkshire-Pudding.

Die globale Anbaufläche von Weizen war 2019 mit 218 Millionen Hektar größer als die für jede andere Nahrungspflanze. Nach den Daten des International Centre for Tropical Agri­cul­ture, eines Forschungsinstituts der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), entfällt auf Weizen auch der höchste Anteil am Kalorienverbrauch der Weltbevölkerung. 2009 nahm ein Mensch pro Tag durchschnittlich 498 Kalorien aus Weizenprodukten zu sich, gegenüber 349 Ka­lo­rien aus Speiseöl, 333 aus Reis und 281 aus Zucker und anderen Süßungsmitteln.

In Ländern wie der Türkei oder Frankreich liegt der Pro-Kopf-Verbrauch von Weizen sehr viel höher als in Ländern mit anderen Grundnahrungsmitteln wie Mais (Kamerun) oder Reis (Philippinen). Gleichwohl hat der Weizenkonsum selbst in traditionellen Reis-Ländern wie China und Japan seit den 1960er Jahren stark zugenommen. In China hat sich das Weizenkonsum zwischen 1961 und 2009 von unter 200 Ka­lo­rien pro Person auf knapp 600 Ka­lo­rien verdreifacht. In Asien insgesamt ist es geradezu ein Merkmal der ökonomischen Entwicklung geworden, dass fast überall Reis allmählich durch Weizen ersetzt wird.

Die gigantische Nachfrage auf dem Weltmarkt rührt auch daher, dass Weizen als Hauptbestandteil sehr vieler Fertiggerichte verwendet wird. Die meisten Menschen greifen auf das eine oder andere Weizenprodukt zurück, wenn sie schnell und billig ihren Hunger stillen wollen. (Falls sie nicht Kartoffeln in Form von Chips oder Pommes frites vorziehen.) Man kauft also einen gesunden Wrap oder einen ungesunden Burger, eine Pastete oder eine Pizza, Instantnudeln oder Samosas, man isst einen Toast oder eine Schale Bran Flakes.

Aber egal was man sich aussucht – am Ende isst man dasselbe industriell hergestellte Weizenmehl. Keine andere Getreidesorte kommt in einer derartigen Vielfalt von Fast Food vor. Das war bei unseren neolithischen Vorfahren noch ganz anders: Für sie war die Aufbereitung von Weizen zum Lebensmittel eine mühselige und knifflige Angelegenheit. Die enthaltenen Kalorien waren ausgesprochen schwer zu erschließen, jedenfalls im Vergleich mit wilden Früchten und Nüssen oder Honig und Fleisch. Weizen war nämlich ursprünglich eine wilde Grassorte, und Grassamen sind klein, hart und schwer aufzubrechen.

Evolutionsgeschichtlich gesehen sind die Samenkörner von Wildweizen nicht zum Essen gedacht; denn sobald sie zerbrochen werden, können sie nicht mehr als Samen funktionieren. Das ist ein wichtiger Unterschied zu wilden Früchten, die mit ihrem süßen, saftigen Fruchtfleisch Menschen und Tiere anlocken, die sie dann verzehren und die Samen anschließend mit ihren Exkrementen in der Gegend verbreiten.

Wildweizenkörner dagegen haben sehr harte Schalen, die sie gegen Vogelfraß schützen. Die Schale besteht aus mehreren Schichten: einer äußeren Hülle und dann einer Kleieschicht, die sich aus einer Frucht- und einer Samenhülle zusammensetzt. Erst wenn man sich durch alle Schichten gearbeitet hat, kommt man an den Weizenkeim und die nahrhafte Stärke.

Dieser Schutz hat ausgereicht, um die meisten pflanzenfressenden Tiere abzuhalten, aber die frühen Menschen gaben nicht so leicht auf. Sie waren Allesfresser und verfügten über einfache Werkzeuge. Um an die Weizensamen heranzukommen, nutzten diese Jäger und Sammler Steine, Feuer oder Wasser. Wenn die Samenkörner zu hart waren, um sie mechanisch aufzubrechen, wurden sie geröstet oder in Wasser gelegt, um die Schale aufzuweichen.

Einige der frühesten Weizenesser siedelten in der Region des Nahen Ostens, den man den „Fruchtbaren Halbmond“ nennt. Hier befindet sich auch die 1971 entdeckte neolithische Siedlung von Abu Hureyra, die im heutigen Syrien liegt. Hier fand man unter anderem einen sogenannten Sattelquern, bestehend aus einem flachen, sattel­förmigen Stein, in dessen Mulde die Getreidekörner gelegt wurden, und einem sehr viel kleineren Mahlstein – die Urform von Mörser und Stößel.

Die wichtigste Rolle bei dieser frühen Mahltechnologie spielte die Kraft einer Frau, die am Quern kniete und unter Einsatz ihres Körpergewichts mit dem Mahlstein die Samenkörner zerstieß, bis sie zu Mehl zerfielen. Diese schwere Arbeit verschliss mit der Zeit auch den Körper der mahlenden Frauen: An den in Abu Hureyra gefundenen weiblichen Knochen kann man sehen, wie stark ihre Zehen, Hüften, Knie und Schultern durch die vielen Stunden Arbeit mit den Mahlsteinen abgenutzt wurden.

Was machten diese frühen Menschen mit dem so hart erarbeiteten Mehl? Anders als ein Stück Fleisch lässt sich eine Handvoll Mehl nicht einfach im offenen Feuer garen. Offenbar wurden zuweilen die ganzen Körner geröstet oder auch roh verzehrt, aber das war schlecht für die Verdauung und die Zähne. Erst die Erfindung der Töpferei schuf die Möglichkeit, Weizen weichzukochen, also die Ernährung auf breiähnliche Gerichte umzustellen. In Abu Hureyra kam die erste Töpferware vor rund 8000 Jahren an. Das neue Grundnahrungsmittel Getreidebrei bedeutete, dass mehr Menschen das Erwachsenenalter erreichten und dies mit bessere Zähnen.

Mit Beginn des Ackerbaus erfuhr die Beziehung des Menschen zum Weizen – und anderen Getreidesorten wie Reis, Hirse, Gerste, Roggen oder Hafer – einen drastischen Wandel. Getreideanbau war die Grundlage für viele der allerfrühesten Städte und Zivilisationen. Von Ägypten und Mesopotamien über Griechenland bis hin zu Rom haben wir es mit Weizenkulturen zu tun. Die Sicherheit der Staatsgebilde hing zu einem guten Teil von der Kontrolle über die Getreideproduktion ab. Zivilisationen wie das antike Griechenland, auf dessen Böden kein Weizen gedieh, mussten sicherstellen, dass sie dieses Getreide importieren konnten, indem sie es gegen Wein und Olivenöl eintauschten.

Die allerersten Weizenpflanzen waren zwei wilde Arten: Einkorn und Emmer. Sie werden heute wieder in Bio­läden als „Urgetreide“ angeboten. Beide Sorten enthalten weit mehr Proteine als der moderne Weizen. Während der Proteinanteil bei modernem Brotmehl bei 12 bis 14 Prozent und bei Kuchenmehl nur bei 7 bis 11 Prozent liegt (zum Vergleich: bei einem Ei sind es 13 Prozent), kommen Einkorn und Emmer auf einen Proteingehalt von 16 bis 28 Prozent. Einkorn hat seinen Ursprung in der Levante, war aber in kühleren Klimazonen und auf kargen Böden leichter anzubauen. Allerdings erbrachte es, wie der Name besagt, nur ein Korn pro Ähre, das zudem nur sehr grob vermahlen werden konnte.

Im heißen Klima Ägyptens wurde Emmer bevorzugt, das genetisch dem Hartweizen (Durum) ähnelt. Allerdings hatte Emmer härtere Schalen als der heutige Hartweizen, der zu Pasta und Couscous verarbeitet wird und 5 bis 8 Prozent der aktuellen Weizen­pro­duk­tion ausmacht. Im alten Ägypten wurde Emmermehl mit Salz und Wasser vermischt und die entstandene Masse auf heißen Steinplatten gebacken: das erste Brot.

Auf einem Emmerfeld in der Levante entstand auch eine neue Weizenart: der Vorläufer unseres modernen Brotgetreides. Diese ursprüngliche Hybridsorte wurde nicht etwa von Menschen gezüchtet, sondern bildete sich spontan heraus. Die Kreuzung einer Emmerpflanze mit einem Wildgras (namens Walch) ließ eine Weizensorte entstehen, die dem heutigen Dinkel ähnelte. Bauern entdeckten die Samen dieser Pflanze schnell. Die Körner waren nicht nur schmackhaft, sie hatten auch den gewaltigen Vorteil, dass ihre Schalen weicher waren als die von Emmer­körnern.

Trotzdem war dieser Brotweizen immer noch ein arbeitsintensives Produkt. In Mesopotamien wurde eine ganze Serie von Tontafeln gefunden, auf denen in Keilschrift die aufwendigen und komplizierten Etappen des Weizenanbaus beschrieben sind: Nach den Regengüssen des Frühjahrs zertrampelten Ochsen den weichen Boden, dann mussten Menschen die Erdklumpen zerkleinern, säuberlich Furchen mit der richtigen Tiefe und in akkuraten Abständen ziehen und schließlich das Saatgut ausbringen. Am Ende waren die verfügbaren Wassermengen mit äußerster Sorgfalt auf die Felder zu verteilen.

Im Zuge seiner Ausbreitung musste der Weizen sich an viele unterschiedliche Bodensorten und Klimazonen anpassen. Als er im 17. Jahrhundert von den puritanischen Auswanderern nach Nordamerika gebracht wurde, schien er den kalten Wintern dort nicht gewachsen zu sein. Doch mit der Zeit entwickelten die Siedler unterschiedliche Samensorten für die unterschiedlichen Klimazonen des riesigen Kontinents: Sommerweizen und Winterweizen, roten und weißen Weizen, harten und weichen Weizen. Letzterer ist leichter zu vermahlen und für lockere Kuchen- und Gebäcksorten zu verwenden; Harter Weizen (nicht zu verwechseln mit Hartweizen – Triticum durum –, der vor allem für die Herstellung von Pasta verwendet wird) dagegen, der mehr Proteine in Form von Gluten (Klebereiweiß) enthält, eignet sich besser zum Brot­backen, insbesondere wenn das Brot stärker aufgehen soll.

Erst Mitte des 19. Jahrhunderts begann man dann ernsthaft mit der experimentellen Zucht von Weizen. Davor waren die Weizenpflanzen sogenannte Landsorten: lokal begrenzte Varianten, die den Eigenheiten des Bodens und der jeweiligen Umwelt angepasst waren. Was an einem Weizenfeld des 18. Jahrhunderts am meisten ins Auge stach, war seine Vielfalt; denn auf ein und demselben Feld wurden viele unterschiedliche Sorten ausgesät. Diese Mischung brachte nicht immer die höchsten Erträge ein, dafür war sie überaus widerstandsfähig gegen abnormale Regenmengen, Frühjahrsfrost oder Pilzerkrankungen.

In den letzten 170 Jahren waren alle offiziellen Bemühungen um die Züchtung neuer Weizensorten auf ein Hauptziel ausgerichtet: die alte Biodiversität abzuschaffen, indem man auf die Selektion von Samen mit bestimmten Eigenschaften wie Ergiebigkeit oder Resistenz gegen Krankheiten setzte. In den Jahrzehnten vor und nach 1900 orien­tier­te sich die Züchtung in den USA vor allem auf neue Sorten, die in den unterschiedlichen Klimazonen Nordamerikas gedeihen konnten und gegen Rostpilz, Getreidebrand und Insektenbefall resistent waren.

Mit der modernen Pflanzenzucht kam die Idee auf, aus der alten Spezies Weizen – mit ihren vielen verwandten, aber nur lokal existierenden Varianten – einen einzigen homogenen idea­len Rohstoff zu entwickeln. Diese anfänglichen Zuchtstrategien waren vor allem darauf angelegt, die Versorgung mit winterhartem Weizen selbst in Jahren mit langen Frost- oder Dürreperioden konstant zu halten. Mark Carleton (1866–1925), damals der führende „Getreideforscher“ der USA, formulierte es einmal so: „Es geht nicht darum, was eine Weizensorte in den besten Jahren erbringt – sondern wie sie sich in den schlechtesten Jahren behauptet.“

Der erste höchst erfolgreiche Weizenzüchter des 20. Jahrhunderts war der Kanadier Charles Saunders, der 1904 die Brotweizensorte Marquis entwickelte, die sich durch hohe Erträge, Widerstandsfähigkeit, frühe Erntereife und einen sehr hohen Glutenanteil auszeichnete. Diese perfekte Kom­bina­tion erzielte Saunders – nach vielen gescheiterten Versuchen – durch die Kreuzung der kanadischen Sorte Red ­Fife (die bereits in ganz Nordamerika verbreitet war) mit der nordindischen Sorte Hard Red Calcutta. Die neu entstandene Weizenart reifte früher als Red ­Fife, war aber ähnlich gut zum Backen geeignet. Damit setzte Marquis einen neuen Qualitätsmaßstab für Brotweizen auf globaler Ebene. Die neue Sorte machte 1920 bereits 90 Prozent der kanadischen Weizenproduktion aus.

Verzwergt und düngerbedürftig

Saunders’ Erfolg wurde noch von einem Agrarwissenschaftler übertroffen, der nach 1945 im Auftrag der Rockefeller-Stiftung ein Forschungsprogramm leitete, das Mexiko zu einer höheren Weizenproduktion verhelfen sollte. Norman Borlaug widmete sich dieser Aufgabe mit akribischer und unbeirrbarer Hingabe. Als Erstes musste er den Weizen resistenter gegen den Rostpilz machen, der drei Jahre lang die Hälfte der mexikanischen Weizenernte vernichtet hatte.

Borlaug führte mehr als 200 Kreuzungsexperimente durch, bis er 1948 endlich vier früh reifende Sorten ermittelt hatte, die resistent gegen den Rostpilz waren. Nach dem Mexiko-Programm verlegte sich Borlaug ganz auf sein eigentliches Projekt: eine Getreidesorte zu entwickeln, die geeignet war, die ganze Welt zu ernähren. Es heißt, dass Borlaug mit seiner Arbeit, für die ihm 1970 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, eine Milliarde Menschenleben gerettet – oder es ermöglicht – habe.

Sein erklärtes Ziel war eine Weizensorte, die sich für den Intensivanbau eignen sollte, was den Einsatz von Stickstoffdünger und künstlicher Bewässerung einschließt. Das Hauptproblem bei den meisten Weizensorten sah er darin, dass die Pflanze zu viel Energie für das Wachstum des Halms benötigte. Deshalb konzentrierte er sich auf eine „zwergwüchsige“ Sorte, die aus Japan stammte: eine Mutante mit einem viel kürzeren und kompakteren Halm als andere Weizenpflanzen. Durch Kreuzung verwandelte Borlaug nach und nach eine langhalmige Getreidesorte mit langer Reifezeit in eine mit kurzem Halm und kurzer Reifezeit, die hochproduktiv war, aber sehr viel Wasser und Düngemittel brauchte.

Um zu ermessen, wie radikal sich die Weizenfelder durch Borlaug verändert haben, hilft ein Blick auf das Gemälde „Die Kornernte“ (1565) von Pieter Bruegel dem Älteren. Die abgebildete Szene erinnert kaum an ein modernes Weizenfeld. Bei Bruegel steht das Korn hoch und bildet ein Labyrinth in Gelb, in dem sich ein Mensch fast verlaufen kann. Einem Mann, der zwei Tonkrüge herbeischleppt, reichen die Halme bis über die Schulter. Im Vergleich dazu sieht der Weizen auf den meisten Feldern heute ausgesprochen mickrig aus.

Bis 1962 hatte Borlaug zwei neue kleinwüchsige Weizensorten entwickelt: Penjamo 620 und Pitic 62. Beide waren, auch dank industrieller Farmtechniken, so erfolgreich, dass Mexiko sogar zu einem Nettoexporteur von Weizen wurde. Die größten Erfolge erzielten Borlaugs Sorten in In­dien und Pakistan, wo die Weizenernten im Rahmen der „grünen Re­vo­lu­tion“ beispiellose Steigerungen erzielten. In Pakistan nahmen sie von 1967 bis 1969 um 60 Prozent zu, in Indien stiegen 1968 die Weizenerträge derart rasch, dass man Schulen schließen musste, weil Klassenräume als zusätzliche Kornspeicher benötigt wurden. Seit 1974 kann das Land seinen Getreidebedarf aus eigener Pro­duk­tion decken.

Borlaugs Weizensorte gilt manchen als eine der größten Erfindungen in der Geschichte der Menschheit. Doch sie hat auch neue Probleme geschaffen oder zumindest verstärkt, die mit der globalen Nahrungsmittelversorgung verbunden sind – wie die starke Minderung der Biodiversität und die Verfestigung sozialer Ungleichheiten. Die kurzhalmigen Weizensorten und ihre späteren Varianten erzielen ihre hohen Erträge nur im Zusammenwirken mit industriell hergestellten Pestiziden, synthetischen Düngemitteln und intensiver Bewässerung. Wie mehrere Stu­dien aufzeigen, hat die grüne Revolution in Ländern wie Indien die Kluft zwischen reichen und armen Bauern vergrößert, weil sich nicht jeder Landwirt die zusätzlichen Inputs (Düngemittel, Erntemaschinen, Wasser) leisten konnte, die für den Anbau von Borlaug-Weizen erforderlich sind.

Der moderne Weizenanbau strapaziert auch die Böden. Eine Getreidepflanze, die ihren vollen Lebenszyklus innerhalb eines einzigen Jahres vollendet, entzieht dem Boden Nährstoffe und gibt dabei sehr wenig zurück. Im traditionellen Weizenanbau löste man das Problem durch Fruchtwechsel, wobei das Feld nach einem Weizenjahr anschließend mit Hülsenfrüchten bepflanzt wurde, um den Stickstoffgehalt des Bodens zu stabilisieren. Dagegen führt der fortwährende Anbau von Hochleistungsweizen zur Erschöpfung der Böden.

Hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit gilt es, Vorteile und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Doch Borlaugs Weizen war seinem eigenen Anspruch nach – nämlich als Mittel gegen den Welthunger – am Ende keineswegs ein Erfolg. Borlaug wollte ein Maximum an Kalorien pro Fläche erzeugen und hat dabei andere Fragen wie die nach den für Menschen unentbehrlichen Nährstoffen komplett ausgeblendet. Er hat nicht vorausgesehen, dass seine Erfindung zu einer Welt beitragen würde, in der Millionen ärmere Konsumenten in aller Welt übergewichtig sind und zugleich an „verborgenem Hunger“ leiden, weil sie zu wenig Proteine und lebenswichtige Mikronährstoffe zu sich ­nehmen.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Bee Wilson ist Kulturhistorikerin und Journalistin. Auf Deutsch erschien von ihr: „Am Beispiel der Gabel. ­Eine Geschichte der Koch- und Esswerkzeuge“, Berlin (Insel Verlag) 2014.

© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Mahltechniken

Eine entscheidende Voraussetzung für die moderne Weizenproduktion war – neben Borlaugs Züchtungserfolgen – die Erfindung des Walzenstuhls in den 1860er Jahren. Erst dieses neuartige Mahlwerk hat die massenhafte Produktion eines geschmacksneutralen Mehls ermöglicht, das sehr lange haltbar bleibt und über große Entfernungen transportiert werden kann.

In einer Steinmühle wurden die grobe äußere Samenschale (Kleie), der Samen (Embryo) und das Nährgewebe (En­do­sperm) zusammen zermahlen, sodass sich Ölbestandteile und Nährstoffe vermischten. Weißmehl erhielt man, indem die äußeren Schalen aus dem Gemenge herausgesiebt wurden, wobei immer noch einige wertvolle Stoffe des Vollkorns erhalten blieben. Wegen des Ölanteils wurde dieses Mehl allerdings schnell ranzig und musste rasch verbraucht werden.

Beim Mahlen mit einem Walzenstuhl aus Stahl werden dagegen die äußeren Schichten allmählich abgeschält, sodass nur das weiße Endosperm zurückbleibt. Diese Mahltechnik liefert den Bäckern ein viel feineres Mehl, das sich ideal für die Herstellung lockerer Kuchenteige und weicher Weißbrotsorten eignet. Es ist aber deutlich nährstoffärmer – und weniger schmackhaft – als das Mehl des 18. Jahrhunderts.

Le Monde diplomatique vom 12.08.2021, von Bee Wilson