12.08.2021

Ist der Libanon ­noch zu retten?

zurück

Ist der Libanon ­noch zu retten?

Ein Szenario der nahen Zukunft

von Synaps

Nach der Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020 VASSILIS POULARIKAS/picture alliance/nurphoto
Audio: Artikel vorlesen lassen

Der Libanon wurde in den vergangenen beiden Jahren von einer aufreibenden Krise in die nächste getrieben. Das revolutionäre Aufflackern vom Oktober 2019 erlosch mit der Blockade des politischen Systems und der Selbstzerstörung des Finanzsektors; gleich darauf folgten eine schwere Krise des öffentlichen Gesundheitssystems und im August 2020 die apokalyptischen Explosionen im Hafen von Beirut.

Diese Serie von Katastrophen versetzte die libanesische Gesellschaft in den Zustand äußerster Erschöpfung, in dem sie nur noch auf die nächste Tragödie wartete. Doch inzwischen ist das Land in eine Phase träger Stagnation abgedriftet, die eher an einen Zersetzungsprozess als an eine Detonation denken lässt.

Aber auch diese Entwicklung birgt gewaltige Risiken, die allerdings schwierige Fragen aufwirft: Was wird geschehen, wenn der Zerfall des Libanon sich noch quälend hinzieht, weil alle Lösungsstrategien ins Leere laufen, während die politischen Fraktionen nur ihr eigenes Süppchen kochen und der Rest der Welt lieber wegschaut? Wie viel Unterstützung von außen kann das Land erwarten? Und wird diese Hilfe dem Libanon mehr nutzen als schaden?

Wie sich die Dinge entwickeln werden, lässt sich zwar unmöglich genau voraussagen, aber die aktuelle Lage gibt doch einen Hinweis darauf, was auf den Libanon zukommen dürfte. Zumindest kann man die Gefahren skizzieren, die in den nächsten sechs Monaten drohen. Einige Entwicklungen werden vielleicht gar nicht eintreten, und andere in einer Form, die niemand erwarten konnte. Aber egal wie das Morgen aussieht, wir werden die Probleme besser einschätzen und bewältigen können, wenn wir uns über die möglichen Entwicklungen klar werden. Dabei gehen wir von einem Szenario aus, das uns vorführt, wie das Land im Januar 2022 aussehen könnte.

Anfang nächsten Jahres werden die libanesische Regierung und das Bankensystem die Dollarreserven aufgebraucht haben, die die importabhängige Wirtschaft bisher über Wasser halten. Also werden die Staatsausgaben drastisch eingeschränkt und die Banken stellen die Kreditvergabe an die Importeure ein, obwohl das Land dringend auf ausländische Produkte angewiesen ist. Ausnahmen machen die Banker nur für Kunden, die sie persönlich kennen, und auch denen strecken sie nur kleine Summen vor, die innerhalb eines Monats zurückzuzahlen sind. Zudem verlangen sie hohe Gebühren, weil mit den Kreditzinsen allein keine Gewinne mehr zu machen sind.

Zum Leidwesen der Importeure haben die ausländischen Lieferanten ihr Interesse am libanesischen Markt verloren, der ihnen zu klein, zu riskant und zu undurchsichtig ist. Ausländische Unternehmen, die sich noch auf Geschäfte einlassen, bestehen auf Vorauszahlungen über seriöse inter­na­tiona­le Banken. Und auch die verlangen angesichts des korrupten Umfelds hohe Gebühren, um ihren erhöhten Erfüllungsaufwand (compliance costs) abzudecken. Obwohl die libanesischen Importeure bei Vorauszahlung normalerweise einen Preisabschlag erwarten, müssen sie in der Praxis kleinere Mengen zu höheren Preisen kaufen – auch dies ist eine Folge des schrumpfenden Binnenmarkts und des Mangels an harten Devisen.

Benzin ist ebenfalls knapp und für die meisten Leute unerschwinglich. Zumal die Zentralbank den privaten Importkartellen, die Libanons Tankstellen beliefern, nur kleine Dollarmengen zur Verfügung stellt. Diese Familienunternehmen, die während des Bürgerkriegs (1975–1990) eigene Häfen, Lagerkapazitäten und Tanklasterflotten aufgebaut haben, sind aufs Engste mit der politischen Klasse verbandelt. Sie verkaufen ihre Ölprodukte zu Weltmarktpreisen an libanesische Kunden, die noch das nötige Geld haben.

Die Zahlungen erfolgen in bar und unmittelbar vor Lieferung. Mangels Umsatzes mussten deshalb bereits viele Tankstellen dichtmachen, insbesondere in armen und abgelegenen Regionen. Die Besitzer noch funktionierender Tankstellen müssen zusätzliche Lieferprämien zahlen, womit das Benzin für alle noch teurer wird. Selbst diese Tankstellenbetreiber leiden unter unregelmäßigen Ölimporten, die manchmal sogar zu Lieferstopps führen.

Ähnliche Engpässe beeinträchtigen auch die ohnehin instabile Stromversorgung. Der größte Produzent, die Électricité du Liban, schafft es kaum, das Netz durchschnittlich sechs Stunden pro Tag zu beliefern. Diese Lücke können auch die privaten Generatoren­anbieter nicht schließen, von denen viele ohnehin schon aufgegeben haben, weil ihre Einnahmen nicht die explodierenden Kosten für Dieselöl und Reparaturen decken oder weil ihre Kunden die erhöhten Preise nicht mehr zahlen können.

Die alternative Lösung, nämlich die Anschaffung kleiner Generatoren oder Solarzellen, können sich die meisten Haushalte nicht leisten. Deshalb ist eine kontinuierliche Stromversorgung einer kleinen Elite vorbehalten, die in energieautarken Gebäuden wohnt. Der Rest der Gesellschaft ist mehr denn je auf das nationale Stromnetz angewiesen, das nur allzu häufig überlastet ist, weil alle Leute die wenigen Stunden mit verfügbarem Strom nutzen, um ihre elektrischen Geräte anzuschließen oder Batterien aufzuladen. Zudem verderben laufend Nahrungsmittel und Medikamente, wenn in den Warenlagern die Kühlaggregate ausfallen.

Auch das Internet ist instabiler als je zuvor. Die für die mobile Kommunikation nötigen Antennen sind auf eine stabile Stromversorgung angewiesen; wenn diese schwankt, ist auch die 3G-Abdeckung beeinträchtigt, was vor allem die entfernteren Landesteile betrifft. Aber auch die Infrastruktur selbst verfällt immer mehr, was zum einen an Wartungsmängeln liegt, zum anderen an Diebesbanden, die mit Kupferdraht handeln.

Die Folge sind regelrechte Internet-Blackouts. Wenn nach einem solchen Ausfall das Internet wieder funktioniert, kommt es – wie beim Strom – zu einem Ansturm, weil alle um dieselbe ständig schrumpfende Bandbreite konkurrieren. Deshalb ist es für viele Beschäftigte schwierig, online zu arbeiten – zumal das tägliche Pendeln zur Arbeit ohnehin durch den Kraftstoffmangel erschwert wird. Sowieso haben die am schlechtesten entlohnten Gruppen, obwohl die Provider-Tarife unverändert geblieben sind, immer mehr Probleme, das Internet zu nutzen. Viele haben ihre Hardware schon verkauft oder sie können es sich nicht mehr leisten, ihre alten Geräte in Reparatur zu geben oder zu ersetzen.

Eine Krise in Zeitlupe

Die Wasserversorgung liegt ebenfalls im Argen. Auch hier ist der Hauptgrund der Mangel an Treibstoff für die diversen Pumpanlagen, die das Wasser aus den Brunnen holen, ins Leitungsnetz einspeisen, in die Tanklaster füllen oder in die Wasserspeicher auf den Dächern befördern. Der teure Diesel für die Pumpen treibt die Wasserpreise in die Höhe. Das verschärft die Ungleichheit zwischen den Dörfern, die mehr oder weniger nah an natürlichen Wasserquellen liegen, zwischen den bäuerlichen Betrieben, von denen viele aufgeben müssen, und zwischen den Stadtvierteln mit mehr oder weniger Leitungswasser.

Wegen der Wasserknappheit sind die Menschen dazu übergegangen, auch weniger saubere Wasserquellen zu nutzen. Was das für die öffentliche Gesundheit bedeutet, zeigt die wachsende Anzahl von Lebensmittelvergiftungen und Krankheitsfällen, die auf mangelnde Hygiene und verunreinigtes Wasser zurückgehen.

Die Lücken in den Lieferketten beeinträchtigen auch die Versorgung mit Arzneimitteln. Die Medikamentenimporte befinden sich in der Hand eines weiteren Kartells, das den Markt seit jeher mit überteuerten ausländischen Markenwaren überschwemmt hat, die von der Regierung auf Kosten einheimischer Pharmaunternehmen subventioniert wurden. Letztere würden Jahre brauchen, um eine tragfähige Produk­tion aufzubauen, und auch das nur unter neuen Marktregeln, die von den libanesischen Oligarchen stets verhindert werden.

Auch in diesem Fall reagiert „der Markt“ auf selbstzerstörerische Weise: Die politischen Fraktionen beschaffen lebenswichtige Arzneimittel über ihre Beziehungsnetzwerke und verteilen sie, wenn auch nur unregelmäßig, an den eigenen Anhang. Viele Leute gehen einfach nicht mehr zum Arzt oder ins Krankenhaus und geben ihr Geld lieber für Eigentherapien aus. Oder sie kaufen gefälschte Medikamente, die sogar seriöse Apotheken anbieten. Erstklassige Breitband-Antibiotika, die im Libanon lange viel zu oft verschrieben wurden, sind heute praktisch nicht mehr zu bekommen. Auch deshalb nehmen die Infektionskrankheiten in letzter Zeit deutlich zu.

So sieht sie aus, die neue traurige Normalität. Wobei man an den meisten Tagen das Gefühl haben kann, als passiere gar nichts Besonderes. Die täglichen Nachrichten bieten schon lange keine Überraschungen mehr. Deshalb gibt es auch keine öffentlichen Debatten, wenn man von den öden gegenseitigen Anschuldigungen der Politiker absieht. Die Untersuchungen über die Explosion im Hafenviertel brachten keinerlei Ergebnis – es blieb bei der bloßen Wiederholung allseits bekannter Fakten, ohne die Verantwortlichen beim Namen zu nennen.

Nach monatelangem Feilschen und Tricksen haben am Ende wieder dieselben alten Fraktionen eine Regierung gebildet, die wieder nur den Status quo absichern wird. Seit Anfang 2021 lebte ein Großteil der libanesischen Bevölkerung in der Angst vor einem totalen Zusammenbruch – ohne sich Genaueres darunter vorzustellen.

Die politische Klasse malte immer wieder Visionen eines künftigen Chaos an die Wand, das allerdings nie Wirklichkeit wurde. Was stattdessen eintrat, war ein langsamer, unaufhaltsamer Erosionsprozess, den man offenbar irgendwie überleben kann. Zwar treibt die kontinuierliche Abwertung des Libanesischen Pfunds die Verbraucherpreise in die Höhe, dennoch kommt es selten zu Ausschreitungen und Straßensperren.

Die Ärmsten der Armen können sich Protestaktionen nicht leisten, während die meisten Aktivisten zu erschöpft sind und ein Großteil der Bevölkerung sich irgendwie arrangiert: Die Leute treten kürzer, ändern ihren Lebensstil, nutzen die verfügbaren humanitären Hilfsprogramme und überlegen sich doppelt und dreifach, wofür sie die Rücküberweisungen von ihren Verwandten ausgeben. Alles in allem ist die alltägliche Misere weniger drückend, ist die Gegenwart erträglicher als befürchtet. Der Glaube an die libanesischen „Überlebenskünste“ ist so unverwüstlich wie eh und je.

Der zeitlupenartige Krisenverlauf hat viel mit der Gewohnheit der politischen Klasse zu tun, die Probleme des Landes nicht zu lösen, sondern zu verschleppen. In dem Fall konnten die libanesischen Politiker auf Zeit spielen, weil sie „Sonderziehungsrechte“, also Gelder des Internationalen Währungsfonds (IWF), in Anspruch nehmen durften. Auch die Weltbank hat schon früher bewilligte, aber noch nicht abgerufene Kredite umgewidmet, mit denen jetzt einige wichtige Hilfsprogramme finanziert werden.

Vor allem gibt die libanesische Zentralbank einen Teil ihrer obligatorischen Devisenreserven frei, um lebenswichtige Güter kaufen zu können. Und sie fährt ihr Subventionsprogramm nur allmählich zurück, finanziert nach wie vor ein Viertel der Energieimporte, eine begrenzte Zahl von Arzneimitteln und die restlichen Stromlieferungen der Élec­tri­cité du Liban.

Was die politischen Fraktionen betrifft, so offerieren sie nur sporadische Lösungen, und auch erst dann, wenn es gar nicht mehr anders geht. Dann räumen sie die letzten staatlichen Kassenreserven aus, um sie nach Gutdünken zu verteilen. Das Ergebnis ist ein Schlingerkurs aus Mangel und Angeboten, der es den Parteien erlaubt, ihre Gefolgsleute in Abhängigkeit zu halten – während diese eigentlich alles daransetzen müssten, ihre eigenen Überlebensstrategien zu entwickeln.

Dass die libanesische Krise wie in Zeitlupe verläuft, erklärt auch, warum eine umfassende humanitäre Hilfsstrategie bislang ausgeblieben ist. Dabei nimmt die internationale Spendenmüdigkeit eher noch zu, weil der Libanon wieder einmal seinen Ruf als hoffnungsloser Fall bestätigt: als ein Land, das sein Elend selbst verschuldet hat, weil sich die politische Klasse alle Hilfsgelder krallt und kaum etwas für die Menschen tut.

Es gibt zwar Leute, die sich eine energischere humanitäre Initiative erhofft haben, nachdem eine UN-Studie die harten Daten und Fakten über den wachsenden Anteil von Menschen in prekären Lebensverhältnissen vorgelegt hat. Aber das Ergebnis dieses Libanon-Reports hatte nicht die erwünschte Wirkung. Die Bilanz ist zwar schlimm, aber nicht auffälliger als die Situation in anderen Katastrophenregionen.

Ein Drittel der Bevölkerung ist unterernährt, aber eine Hungersnot ist nicht eingetreten. Zwar bricht jedes dritte Kind vorzeitig die Schule ab, aber „nur“ jedes zwanzigste ist gezwungen zu arbeiten. Viele haben noch Zugang zu Wasser und medizinischer Versorgung, die allerdings immer schlechter wird und mittlerweile die Hälfte der durchschnittlichen Haushaltseinkommen aufzehrt.

Beunruhigend ist die Arbeitslosenquote von 40 Prozent und dass 70 Prozent der Familien unterhalb der Armutsgrenze leben. Aber diese Zahlen dokumentieren in den Augen der Hilfsorganisationen nur eine ökonomische Krise, die der Libanon zu bewältigen versäumt hat und die nicht mit den Folgen einer Naturkatastrophe oder den Auswirkungen eines Kriegs zu vergleichen ist.

Obwohl die Gelder nicht üppig fließen, sind die internationalen Hilfsleistungen heute – nach den Exporteinnahmen und den Rücküberweisungen – die drittgrößte Quelle harter Devisen. Und zugleich die weitaus größte Attrak­tion für eine raffgierige Elite, die sich alle ausländischen Gelder, die noch im Umlauf sind, unter den Nagel zu reißen versucht. Tatsächlich sind diese humanitären Hilfsgelder die einzig sprudelnde Devisenquelle, denn die Exporterlöse fließen sofort wieder in die Finanzierung der Importkosten und die Geldtransfers der libanesischen Diaspora bleiben dem Zugriff entzogen, weil sie größtenteils nicht über die Banken laufen.

Die verschiedenen Fraktionen, die das libanesische Regime ausmachen, sind mit vereinten Kräften dabei, diesen neuen Schatz zu plündern. Dabei können sie auf eine Batterie amtlicher Bestimmungen zurückgreifen, mit denen sie sich gezielt die Kontrolle über die humanitären Hilfsleistungen sichern wollen.

So müssen seit Januar 2022 sämt­liche humanitären Programme offi­ziell vom Außenministerium regis­triert und abgesegnet werden. Nach einem neuen Gesetz müssen die Geldmittel über libanesische Banken transferiert werden, die für jede Transaktion in fremder Währung eine fünfprozentige Gebühr erheben. Zudem müssen alle Auslandstransaktionen über die Sayrafa-Plattform der Zentralbank laufen. Dabei liegt der Umrechnungskurs üblicherweise 15 bis 20 Prozent unter dem auf dem Schwarzmarkt gezahlten Kurs, aber die Hilfsorganisationen sind auf die Plattform angewiesen, denn nur die kann die nötigen Quittungen ausstellen.

Für die herrschende Klasse des Libanon erfüllen diese verschärften Erfordernisse gleich mehrere Funktionen. Zum einen haben sich alle Frak­tio­nen des Regimes darauf verständigt, die vom Außenministerium gesammelten Informationen über Hilfsprogramme zu „poolen“. Auf diese Weise können sie stets verfolgen, welche Mittel zu welchem Zweck und über welche lokalen NGOs ins Land kommen.

Zum anderen rettet die Bestimmung, dass alle Gelder über das libanesische Finanzsystem laufen müssen, notorisch liquiditätsschwache Banken, die wiederum eng mit der politischen Elite verfilzt sind. Zum Dritten haben die herrschenden Gruppen dafür gesorgt, dass vom Sayrafa-System alle Geldwechselfirmen ausgeschlossen sind, die nicht direkt mit ihnen kooperieren. Damit sichern sie sich den exklusiven Zugriff auf die harten Devisen, mit denen sie ihre eigenen Einkäufe finanzieren können: von Ölimporten über unentbehrliche Medikamente bis hin zu Grundnahrungsmitteln und Trinkwasser, die sie an ihre jeweilige Klientel verteilen.

Damit ist das Bild keineswegs vollständig. Die politischen Cliquen haben es auch geschafft, fast sämtliche Ebenen der humanitären Versorgungsketten zu infiltrieren. So sind die Haupt­importeure von Treibstoffen oder Arzneimitteln eng mit Politikern verbandelt, die den Markt unter sich aufteilen, unabhängige Konkurrenten verdrängen und ungehindert Wucherpreise durchsetzen können.

Diese Kartelllogik herrscht auch im Transport- und Bausektor, wo lukrative Geschäfte – wie die Anlieferung von Nahrungsmittelhilfen oder der Wiederaufbau zerstörter Infrastrukturen – einer Handvoll einflussreicher Unternehmen zugeschanzt werden. Zu den Seilschaften der politischen Paten gehören auch die Security-Firmen, die für den Schutz der Hilfstransporte vor kriminellen Banden unentbehrlich sind.

Wie humanitäre Organisationen feststellen konnten, gibt es weniger Bedrohungen, sobald sie Verträge mit den richtigen Leuten unterschreiben, die ihnen in einer bestimmten Region ihren Schutz andienen. Wenn sie jedoch die Kooperation mit solchen Netzwerken verweigern, müssen sie damit rechnen, immer wieder bestohlen und erpresst zu werden.

Die einzelnen Fraktionen belagern die Hilfsorganisationen nicht nur von außen, sie sitzen auch mitten unter ihnen. Die politischen Bosse betreiben ihre eigenen Stiftungen und NGOs und verhalten sich dabei wie Pförtner, die den Zugang zu den von ihnen beherrschten Gebieten kontrollieren, die den größten Teil des Landes ausmachen. Zum Beispiel gründen sie Firmen einzig zu dem Zweck, unabhän­gige NGOs aus dem Markt zu verdrängen, indem sie deren Personal schikanieren, administrative Hindernisse errichten oder falsche Anschuldigungen erfinden. Manchmal üben sie auch brutalen Druck aus, um konkurrierende ­Organisationen zur Kooperation nach ihren eigenen Bedingungen zu zwingen.

Ähnliche Methoden praktiziert das libanesische Machtkartell selbst gegenüber großen internationalen NGOs und Unterorganisationen der UN, die in Reaktion darauf vermehrt politisch verbandeltes Personal einstellen, was den Cliquen die Chance verschafft, ihrer Gefolgschaft begehrte und mit Dollar bezahlte Jobs zuzuschanzen.

Die politischen Bosse beschränken sich nicht darauf, den NGOs ihre Leute aufzudrängen, sie sorgen auch dafür, dass die Hilfsleistungen ihren eigenen Anhängern zugutekommen, die sie damit noch fester an sich binden können. Da die Nutznießer solcher Leistungen eine genaue Kenntnis der humanitären Hilfskonzepte entwickeln, sind sie in der Lage, ihre Notlage bewusst übertrieben darzustellen. Einige der Gruppen betrachten die Hilfslieferungen als etwas, was ihnen zusteht und viel zu oft verweigert wird. Diese Mentalität führt zu einer verschärften Konkurrenz zwischen den Empfängergruppen und insbesondere zwischen Geflüchteten und Einheimischen.

Die politische Klasse hat sich damit ein Monopol auf die Aneignung ausländischer Hilfe erworben, die rechtmäßig dem ganzen Land zusteht. Auf diese Weise wird der Libanon immer stärker von internationalen Zuwendungen abhängig. Zum Beispiel bekommt man von vielen Bauern zu hören, dass sie auf fremdfinanzierte Fördermittel warten, ehe sie ihre Felder bestellen, statt eigenständig und auf eigenes Risiko tätig zu werden. Ebenso halten es staatliche Institutionen wie etwa die Wasserwerke, die nur insoweit funktionieren, als ausländische Geldgeber ihre laufenden Kosten mittels immer neuer Notprogramme abdecken.

Das heutige Regime funktioniert mehr oder weniger nach einem Muster, das sich in der Phase des Bürgerkriegs herausgebildet hat. Doch es gibt auch eine wichtige neue Entwicklung. Sie betrifft die Rolle der Armee, die voll in die Hilfsprogramme involviert, aber zugleich auch von diesen abhängig ist. Wobei die libanesischen Streitkräfte von ausländischen Regierungen nicht nur ausgebildet und aufgerüstet werden, sondern auch noch Wartungskosten und Gehälter, Nahrungsmittel und sogar Gesundheitsleistungen finanziert bekommen. Darüber hinaus sind sie zu einem wichtigen Partner für die größten Hilfsorganisationen geworden, die auf die angebliche Neutralität der Armee setzen und deren logistische Fähigkeiten nutzen, um gefährdete Bevölkerungsgruppen in entlegenen Regionen zu versorgen.

Die Ironie dabei ist, dass die Armee niemals eigenständig, sondern stets in das politische System des Libanon eingebunden war, und zwar in enger Symbiose mit der Elite der einzelnen Gemeinschaften. In dem Maße, in dem sich die Versorgungsengpässe ausweiten und die Armee eine immer wichtigere Rolle übernimmt, werden die politischen Fraktionen versuchen, ihren Einfluss auf die Streitkräfte zu verstärken. Anders formuliert: Indem die ausländischen Geldgeber die Armee als Alternative zu den politischen Fraktionen bevorzugen, schweißen sie diese beiden Kernbestandteile des libanesischen Regimes enger zusammen als je zuvor.

Am beunruhigendsten an diesem fiktiven Blick in die Zukunft ist, dass dies alles furchtbar logisch erscheint. Die offenbar endlose libanesische Krise dürfte also bewirken, dass alle Parteien und Gruppen sich mit ihr abfinden und ihr Verhalten danach richten: Die einfachen Bürgerinnen und Bürger werden lernen, mit immer größeren Einschränkungen zu leben; die politische Klasse wird das allgemeine Elend ausbeuten; und die internationalen Akteure werden gerade so viel Unterstützung gewähren, dass sich das Land über Wasser halten kann.

Angesichts dieser düsteren Zukunftsaussichten ist die Versuchung groß, einfach die Luft anzuhalten und auf irgendein umwälzendes Ereignis zu warten – auf eine neue Katastrophe, die die Verhältnisse zum Tanzen, oder auf einen Deus ex Machina, der die Dinge in Ordnung bringt. Aber auf eine solche Lösung zu hoffen, macht es nur wahrscheinlicher, dass das Land in seiner Abwärtsspirale gefangen bleibt. Die Gesellschaft wird kaum mehr schaffen, als die Alltagsprobleme zu bewältigen, und schon das wird vielen Menschen immer schwerer fallen.

Die ausländischen Akteure sind allerdings in einer völlig anderen Lage. Für sie gibt es keine Rechtfertigung, in Fatalismus zu verfallen, aber auch keinen Grund, nach den Regeln des libanesischen Systems zu spielen. Im Gegenteil: Die Geberländer und Hilfsorganisationen können es sich leisten, die Zukunft neu zu denken. Dazu könnten sie auf vielfache Weise beitragen.

Zum Ersten sollten sie einen realistischen Notfallplan entwickeln, damit sie auf vorhersehbare Entwicklungen wie Internetausfälle, überfallartige neue Bankgesetze oder andere Machenschaften der politischen Fraktionen reagieren können. Zum Zweiten müssen sie dazu libanesische Partner finden und finanziell wie technisch unterstützen, etwa bei der Ausarbeitung von Notfallszenarios. Und drittens muss die Geberseite als Kollektiv gegenüber dem libanesischen Regime klare, unverrückbare Grenzen definieren, die auf keinen Fall aufgeweicht werden dürfen.

Humanitäre Unterstützung von außen gilt üblicherweise als eine vollkommen neutrale Angelegenheit. Aber im konkreten Fall Libanon haben Hilfsleistungen eine eminent politische Dimension. Wenn man sich weigert, diese Realität zu sehen, macht man die ausländischen Gelder zur besten Ressource für ein Regime, das nur den Status quo erhalten will.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Synaps ist eine Informationsagentur in Beirut, die junge For­sche­r:in­nen aus der Region ausbildet. Ihr ausdrücklicher Dank gilt dem Team von Care International im Libanon, das Synaps bei einem Notfallplanspiel begleiten durfte.

© Für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.08.2021, von Synaps