09.09.2021

Westliche Werte

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Westliche Werte

von Katharina Döbler

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Nach den Anschlägen in Paris 2015 wurde viel davon gesprochen, dass es sich um einen Angriff auf „unseren Lebensstil“, gar „unsere Werte“ gehandelt habe. Unser Lebensstil: in Konzerte gehen, in Cafés sitzen, konsumieren. Das, was wir „das Leben genießen“ nennen, Frauen und Männer gemeinsam.

Das junge Publikum im Bataclan oder die Gäste und Passanten, die an jenem Abend im 10. Arrondissement unterwegs waren, vermutlich ohne den geringsten Gedanken an Freiheit und Menschenrechte, wurden im Nachhinein zu Märtyrerinnen unserer Lebensweise erhoben, gestorben für die westlichen Werte.

Wenn Menschen gewaltsam sterben, so plötzlich und so brutal, durch den Zufall ihrer bloßen Anwesenheit an einem Ort, werden Verlust und Schrecken erträglicher, wenn es irgendeinen Grund gibt, irgendein höheres Ziel.

Die westlichen Werte.

So willkommen diese Sinngebung in diesem Moment auch war mit ihrem tapfer-trotzigen Gestus: Sie war zu schlicht. Sie hielt Zweifeln nicht stand. Und sie war, je länger man darüber nachdachte, einigermaßen zynisch. Mindestens genauso zynisch, wie den massenhaften Tod von jungen Menschen in Uniform als sinnhaft zu beschreiben: gefallen für das Vaterland, den Führer, die (wahre) Religion. Gründe gibt es immer, Ziele auch, je höher desto willkommener.

Ja doch, es gibt einen Zynismus der Werte – nur dass er innerhalb des jeweiligen Wertesystems keineswegs als zynisch wahrgenommen wird, sondern als etwas Erhabenes und irgendwie Folgerichtiges. Die Scheiterhaufen der Inquisition. Selbstmordattentate.

Die Auslöschung von Leben bekommt im Zusammenhang mit bestimmten Werten zwar keinen Sinn, aber wenigstens Gründe.

So wurden die Mörder von Paris zu Feinden unserer westlichen Lebensweise erklärt, ihre Opfer zu dessen Verteidigern. Bekanntlich befanden wir uns seit dem 11. September 2001 im Krieg, Clash of Cultures, War of Cultures, in einer globalen Schlacht zwischen reli­giö­sem Terror und westlichen Werten. Eine billige Schwarz-Weiß-Malerei, Hobbits gegen Mordor. Und der berühmte Ring mit seiner Macht, zu binden und zu knechten: Man kann ihn als Symbol für Werte nehmen, diesen Wertgegenstand.

Die westlichen Werte. Am Hindukusch sollten sie dann durchgesetzt werden, gegen die islamischen Religionskrieger (die zuvor gegen die Sowjetunion bewaffnet und instrumentalisiert worden waren) mit ihrem grausamen und rückwärtsgewandten Moraldiktat, mit ihren falschen Werten. So war die Rhetorik damals, und so waren auch die Gefühle, die die Nachrichten von Steinigungen, von Kunstverbot und von Alltagsschrecken auslösten. Das musste ein Ende haben.

Nur dass wegen der Rechte von Frauen, wegen Kunstfreiheit und Ähnlichem – Gedöns, wie ein deutscher Bundeskanzler einst sagte – noch nie Kriege geführt wurden. Die geknechteten Frauen, die Sprengung der Buddhastatuen von Bamiyan lieferten die Bilder, die diesen Krieg legitimieren sollten: Es gelte westliche, gar universelle Werte zu verteidigen. Bloß den Ring nicht in die falschen Hände gelangen lassen.

Was aber in Wahrheit verteidigt wurde, war die westliche Dominanz und Unangreifbarkeit, war der Stolz, der nach dem 11. September gelitten hatte. Es ging um Angst und Schmach und die Gebärde der Überlegenheit. Wir wussten das, wussten es die ganze Zeit. Es wurde auch nie geleugnet, es wurde nur mit einer gleitfähigen und sanften Sprachschicht überzogen, die so eingängig und vertraut war, dass wir das Ganze am Stück schluckten. Mit ein bisschen Kritik und vielleicht doch ein wenig Befremden. Mit der Bundeswehr gegen das Patriarchat. Lacht da jemand? Nicht, wenn es um das Afghanistan der Taliban geht.

Die westliche Wertegemeinschaft, unterstützt von bezahlten Söldnertruppen, kämpfte für das Menschenrecht.

Als jedoch der Verursacher der Schmach vom 11. September, Osama bin Laden, erledigt war, die Schmach abgewaschen und die Welle großer Terroranschläge abebbte, lohnte sich der ganze militärische und militärisch-humanitäre Aufwand allmählich nicht mehr. Das alte Überlegenheitsgefühl stellte sich wieder ein. Die Taliban würden nicht siegen, jedenfalls nicht so schnell. Also wurde nach zwanzig Jahren langsam wieder eingepackt. Die westlichen Werte auch, Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte, alles.

Die Menschen, die diese Werte für garantierte und bare Münze genommen, und die, die den fremden Ar­meen und Firmen bloß gedient haben, sitzen immer noch in Kabul fest oder verstecken sich irgendwo, wenn sie Glück haben. (Wenn sie 6500 Dollar haben – pro Person –, können sie sich vielleicht noch schnell von einer US-Söldner­firma außer Landes bringen lassen). Die obersten Verwalter und Verfechter der westlichen Werte fühlen sich ansonsten nicht mehr zuständig für Afghanistan.

Dieses rückständige Land im tiefsten Globalen Süden sei eben noch nicht reif für eine westliche Demokratie, heißt es jetzt. Die altertümliche Stammesstruktur, die sie dort haben, damit ist kein Nationalstaat zu machen. Nein, die Afghanen müssen das erst mal unter sich ausmachen.

Nachdem man koloniale Grenzen gezogen, einen Retortenstaat geschaffen, mal von Norden, mal von Westen her eingefallen ist, einzelne Regime und Ethnien unterstützt und ihnen die Unterstützung wieder entzogen hat, nach zwanzig Jahren Krieg und Korruption durch ausländisches Geld.

Die neuen Machthaber steckten im Übrigen, so heißt es weiter, noch im tiefsten Mittelalter, wenn nicht gleich in der Steinzeit. Die hysterischen – und eurozentristischen – Schnellanalysen klingen wie ferne Echos aus der Kolonialzeit.

Damals, vor nicht viel mehr als hundert Jahren, galt es als gesichertes Wissen, dass die kolonisierten Völker noch ein paar Jahrhunderte brauchen würden, bis sie den für eine vernünftige Selbstregierung erforderlichen Stand erreicht hätten. Da die Kolonialmächte selber ein paar tausend Jahre gebraucht hätten, um von der Steinzeit über die Antike, das Mittelalter, die Neuzeit, die Aufklärung, die Industrialisierung und so weiter den Höhepunkt der Zivilisation zu erreichen – so das Argument –, könnten die Unzivilisierten, die Wilden, die Primitiven nur mit sehr viel Hilfe von außen frühestens in einigen Jahrhunderten so weit sein.

Nun, in der post- und neokolonialen Gegenwart, ist mit der Kom­bina­tion von Menschenrechten, parlamentarischer Demokratie und Nationalstaatlichkeit ein neuer zivilisatorischer Höhepunkt definiert, basierend auf dem Kodex des Fortschritts, der sowohl technisch als auch ethisch gedacht wird.

Westliche Werte.

Bitte, wir steinigen niemanden, wir sind tolerant. Wir schlagen niemandem den Schädel mit der Keule ein, wir haben Distanzwaffen. Wir lassen Frauen arbeiten, zwar für weniger Geld, aber immerhin. Nach unseren Völkermorden entschuldigen wir uns. Wir bauen Autos, Kraftwerke, Gasanstalten und Schulen. Wir ruinieren das Weltklima und bedauern es. Wir besitzen ganz offensichtlich eine klare moralische wie instrumentelle Überlegenheit.

Mit diesem kolonialistischen Bewusstsein brach der Westen, das heißt seine Armeen, seine bezahlten Söldner und seine NGOs vor zwanzig Jahren nach Afghanistan auf: mit der Gewissheit seiner effizienten Waffen und humanen Werte.

Übrigens haben die – aus europäischer Sicht – erfolgreichsten Kolo­nien von einst diese Intervention angeführt. Europas religiöse Eiferer, missratene Söhne, politisch Verfolgte und Wirtschaftsflüchtlinge zog es einst in diese klimatisch nicht allzu komplizierte Gegend mit sehr viel Platz. Mit der aufmüpfigen Urbevölkerung dort, die für die Soft Power der Missionare nicht zugänglich war und die gegen die technische Überlegenheit der Eindringlinge ankämpfte, wurde so gründlich aufgeräumt, dass das Land nach seiner – für den Kontinent recht späten – Unabhängigkeit schließlich zum Inbegriff der weißen christlich-abendländischen Zivilisation wurde. Es wurde gepriesen als Hort der Freiheit und der Menschenrechte. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind die größte Trophäe des Kolonialismus.

Dies ist die Vorgeschichte dessen, was in Afghanistan geschah, am 11. September, in Vietnam.

Heutzutage denken wir nicht mehr offen kolonial. Die Zweiteilung der Welt in Besitzer und Beute ist überwunden, in der Theorie. In der ökonomischen und politischen Praxis ist es anders. Im Denken, im Wertesystem auch. Die westlichen Werte, selbstverständliches Raster einer ethischen Globaltopografie, sind wahr und per se unwiderlegbar. Selbstbestimmung, Frauenrechte, Freiheit – was kann daran falsch sein?

Hohe Begriffe werfen gern den langen Schatten der Heuchelei. Es ist schwer, aus dem eigenen weißen (westlichen) Kopf hinaus zu denken. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass die Ablehnung unserer Werte nicht „Mittelalter“ bedeutet – einfach schon deswegen, weil das Mittelalter mit seiner Finsternis lediglich eine westliche Selbsterzählung ist. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass unsere Werte für den Krieg in Afghanistan nur des Kaisers neue Kleider sind, die das alte koloniale Überlegenheitsgefühl nicht kaschieren können.

Das Ende des Kolonialismus wäre vielleicht erreicht, wenn diese Werte nicht mehr mit Militärflugzeugen ein- und ausgeflogen würden. Dann würde die Welt herausfinden, wie universell sie wirklich ist. Das, was sich Menschen immer und am allermeisten wünschen, ist wahrscheinlich: Frieden.

Katharina Döblers neuer Roman „Dein ist das Reich“ über deutsche Missionare in der Südsee ist kürzlich im Claassen Verlag erschienen.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.09.2021, von Katharina Döbler