Ciao, Atomstrom!
von Manfred Kriener
Am 20. Dezember 1951. Vier Glühbirnen lassen sechzehn Wissenschaftler jubeln. Als das Licht angeht, fallen sie einander in die Arme. Es leuchtet in einem kleinen Labor und strahlt doch weit in die Zukunft. Im „Experimental Breeder 1“ bei Arco im US-Bundesstaat Idaho ist soeben zum ersten Mal Atomstrom in einem Reaktor erzeugt worden: der Beginn eines neuen Zeitalters.
Am 30. Juni 2011. Der deutsche Bundestag verabschiedet mit 513 Ja-Stimmen und 79 Nein-Stimmen das Atomausstiegsgesetz. Dreieinhalb Monate nach der Katastrophe in Fukushima hat die schwarz-gelbe Koalition ihr Energiekonzept der verlängerten Atomlaufzeiten aufgegeben und stattdessen beschlossen, „die Nutzung der Kernenergie zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu beenden“. Enddatum: 31. Dezember 2022.
70 Jahre Atomenergie, 10 Jahre Atomausstieg. Zwei Jubiläen, die im Nachrichtengewitter kaum Beachtung fanden. Das Datum des ersten Atomstroms ist ohnehin weitgehend unbekannt. Und der Atomausstieg ist längst vom Streit über den Kohleausstieg und den Ausbau erneuerbarer Energien überlagert. Die alten Schützengräben sind also noch intakt, auch wenn die energiepolitischen Kämpfe nicht mehr zu bürgerkriegsähnlichen Tumulten führen wie in Brokdorf oder Wackersdorf.
Die Atomlobby selbst hat sich mit dem Ausstieg abgefunden. Das Deutsche Atomforum, über Jahrzehnte eine nukleare Festung, hat sich aufgelöst und ist mit dem neuen Wirtschaftsverband KernD (Kerntechnik in Deutschland) verschmolzen. Fast flehentlich klingen dessen Forderungen, die Konkursmasse der Atomenergie nicht noch weiter zu reduzieren.
Deutschland müsse Lieferant für ausländische Anlagen bleiben, unsere Sicherheitstechnik stehe international an der Spitze, sagt Joachim Ohnemus, Vorsitzender von KernD, „deshalb darf es eben nicht um den vollständigen Ausstieg gehen“. Vor allem die Urananreicherungsanlage der Urenco in Gronau, die Brennelementefabrik in Lingen und die kerntechnische Forschung sollen gerettet werden.
„Deutsche Firmen mischen weiter mit im Atomgeschäft“, sagt Jochen Stay, Sprecher der Antiatom-Initiative „ausgestrahlt“. „Wir sind aktuell nach Frankreich immer noch zweitgrößter Produzent von Atomstrom und Atommüll in der EU.“ Sechs große Reaktorblöcke sind noch in Betrieb, von denen drei am Ende dieses und drei Ende nächsten Jahres abgeschaltet werden. Jetzt wird das „dicke Ende“ des Atomabenteuers sichtbar: die strahlenden Hinterlassenschaften, die seit Inbetriebnahme des ersten deutschen Atommeilers 1960 angefallen sind. Noch immer ist kein Endlager für hunderttausende Tonnen Atommüll betriebsbereit. Das ehemalige Eisenerz-Bergwerk Schacht Konrad in Salzgitter soll ab 2027 in 850 Metern Tiefe rund die Hälfte des schwach- und mittelaktiven Mülls aufnehmen, 303 000 Kubikmeter.
Für die auf 1 Million Jahre ausgelegte Endlagerung des hochradioaktiven Mülls ist die neue Standortsuche noch in der Frühphase. Die Bundesgesellschaft für Endlagerung hofft auf eine Standortfestlegung im Jahr 2031 und Betriebsbeginn ab 2050. Doch zu diesen eher hemdsärmelig ausgerufenen Jahreszahlen gibt es keinen belastbaren Fahrplan. Atomexperte Bruno Thomauske, Inhaber des Aachener Lehrstuhls für Endlagersicherheit, hat in einem Gutachten „bei realistischer Zeitplanung“ den Beginn der Endlagerung auf 2117 terminiert.
Auch Jochen Stay rechnet „in diesem Jahrhundert nicht mehr“ mit einem betriebsbereiten Endlager für hochaktiven Müll. Das hätte Folgen: Die Castorbehälter, in denen der tödlich strahlende Brennelemente-Schrott aufbewahrt wird, sind nur für 40 Jahre genehmigt. Und auch die übers ganze Land verteilten 16 Zwischenlager, in denen nach dem Ausstieg 1900 Castorbehälter mit abgebrannten Brennelementen ruhen werden, haben keine Genehmigungen für so lange Zeiträume – und in der Regel auch nicht die Sicherheitsvorkehrungen gegen Flugzeugabstürze oder Terrorangriffe.
Auch die Kostenseite ist brisant. Stilllegung und Rückbau der 46 Forschungsreaktoren gehen zulasten des Staats. Die Demontage der kommerziellen Reaktoren müssen die Betreiber bezahlen, bislang sind erst zwei Reaktorblöcke – Würgassen und Gundremmingen A – weitgehend abgebaut. Kosten allein in Gundremmingen: 2,2 Milliarden Euro. Von der Endlagerung haben sich die Atombetreiber mit der Einzahlung von 24,1 Milliarden Euro in den „Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung“ (Kenfo) freigekauft. Damit muss der Staat die Rechnung für diesen kostspieligsten und aufwendigsten Part bezahlen. Und er musste den Atomkonzernen 2,3 Milliarden Euro Entschädigung für den Ausstieg überweisen. Das Kenfo-Kapital soll nun mit einem Anlagehorizont bis zum Ende des Jahrhunderts durch Aktien und Anleihen verdoppelt und verdreifacht werden, um die horrenden Entsorgungskosten, deren Höhe noch niemand kennt, zu decken.
Wie unberechenbar sie sind, zeigt die geplante Bergung der wild abgekippten Atomabfälle im abgesoffenen Salzstock-Endlager Asse bei Wolfenbüttel. Sie könnte bis zu 4 Milliarden Euro kosten, schlimmstenfalls auch deutlich mehr. Asse wurde in den 1960er Jahren zum Endlager für schwachaktiven Müll auserkoren. Wegen Wassereinbrüchen muss es geräumt werden; die Rückholung von 125 787 Fässern ist ein weltweit einmaliges Projekt.
Wie teuer Entsorgung ist, bewies schon der kleine Versuchsreaktor Niederaichbach bei Landshut, das erste vollständig abgerissene Atomkraftwerk Europas. Die Baukosten lagen vor 50 Jahren bei 230 000 D-Mark. Demontage und Abriss kosteten 500 Millionen Euro. Ein Vielfaches verschlingt der Rückbau der fünf Reaktorinvaliden des Atomkraftwerks Bruno Leuschner in Greifswald und des Versuchsreaktors Rheinsberg, beides ein Erbe der DDR.
Greifswald ist das größte Demontageprojekt weltweit und Prototyp für die Wandlung großer Atomstandorte zur berühmten grünen Wiese. Die Kosten für Greifswald und Rheinsberg wurden zuletzt auf 6,6 Milliarden Euro taxiert. „Wir wissen, dass es nicht reicht“, heißt es beim Entsorgungswerk für Nuklearanlagen. Im März 2022 kommt eine neue Kostenschätzung, es könnten am Ende 10 oder 12 Milliarden werden.
Explodierende Kosten fallen auch bei den wenigen europäischen AKW-Neubauten ins Auge, ganz extrem in Frankreich und Finnland. Der Berliner Energieprofessor Lutz Mez macht die Rechnung am Beispiel des britischen Neubaus Hinkley Point-C auf. Dort koste die Kilowattstunde mehr als 10 Cent, Wind- oder Solarstrom an guten Standorten dagegen unter 3 Cent.
Entsprechend ernüchternd fällt die Atomstrombilanz aus. Weltweit wird dessen Anteil an erzeugter Elektrizität dieses Jahr erstmals unter 10 Prozent fallen. Investitionen für Solar- und Windkraft kletterten schon 2019 auf das Zehnfache des Nuklearinvestments. Nach Angaben des Status-Reports 2020 zur Lage der Atomindustrie sind die Produktionskosten für Solar- und Windstrom in den letzten zehn Jahren um 89 beziehungsweise 70 Prozent gefallen, die für Atomstrom um 26 Prozent gestiegen. Auch die als Geheimwaffe diskutierten modular aufgebauten Minireaktoren konnten den Niedergang nicht bremsen.
Hinzu kommt die Überalterung der derzeit betriebenen 408 Reaktoren – 30 weniger als beim Peak 2002. Sie sind im Schnitt 31 Jahre alt. 81 Meiler kommen auf mehr als 40 Jahre und damit ans Ende der Betriebsdauer. Doch mit Laufzeitverlängerungen auf 60 Jahre, in den USA neuerdings sogar 80 Jahre, versuchen die Firmen ihre Investments so lange wie möglich am Netz zu halten. Mit hohen Risiken: Versprödungen und kleine Risse im Reaktordruckbehälter sind typische Alterssymptome.
Überaltert sind auch die Atomwerker selbst. Der Nachwuchs fehlt, denn wer will heute noch Kerntechniker werden? Energiefachmann Mez erinnert daran, dass während der Coronawelle vergangenes Jahr heikle Engpässe entstanden: „Die Anlagenbetreiber bekamen zum Teil keine Betriebsmannschaften mehr zusammen.“ Die britische Wiederaufarbeitungsanlage Sellafield musste zeitweise schließen, mehr als 1000 Mitarbeiter waren in Quarantäne.
Trotz allem versucht die Branche ein Atom-Comeback herbeizureden. Ihr Erfolgserlebnis: In Barakah in den Vereinigten Arabischen Emiraten hat im August 2020 erstmals ein arabisches Land einen Atomreaktor in Betrieb genommen. Dies allerdings mit drei Jahren Verspätung und verheerenden ökonomischen Daten. In den sonnenverwöhnten Emiraten wird Solarstrom mit Entstehungskosten von 1,7 Cent je Kilowattstunde produziert. Der Atomstrom aus Barakah ist mit 7,2 Cent mehr als viermal so teuer.
Im Nahen Osten, wo auch Saudi-Arabien „Interesse“ an der Atomkraft bekundet, bestätigt sich der globale Trend: Neben den Atomwaffenstaaten treiben vor allem autokratisch regierte Staaten und Diktaturen neue Atomprojekte voran und sichern sich damit Know-how, das auch für militärische Interessen nutzbar ist.
Den stärksten Ausbau der Atomenergie verzeichnete in diesem Jahrhundert China, wo jetzt 47 Reaktoren laufen, die aber nur 4,9 Prozent der Elektrizität des Landes liefern. In den letzten Verlautbarungen der Regierung und der Nationalen Energie-Administration ist kein Wort mehr von ehrgeizigen Atomplänen zu lesen, Wind- und Solarenergie dominieren die Investitionen. Der sich abzeichnende Slowdown des chinesischen Atomprogramms wäre der bitterste Rückschlag für die globale Atomgemeinde.
Manfred Kriener ist Umweltjournalist und Autor. Zuletzt erschien von ihm: „Lecker-Land ist abgebrannt. Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur“, Stuttgart (S. Hirzel) 2020.
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