12.08.2021

Digitale ­Diktatur

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Digitale ­Diktatur

von Serge Halimi

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Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, die Menschen vom unbestreitbaren Nutzen einer Covid-19-Impfung zu überzeugen, anstatt Zwang auszuüben. Doch Emmanuel Macron hat sich anders entschieden. Für den französischen Präsidenten, der rastlos den „Illiberalismus“ anprangert, sind die öffentlichen Freiheiten offenbar nur beliebige Variablen, auf die man bei einem Notstand – ­Epidemie, terroristische Bedrohung, Krieg – getrost verzichten kann.

Wenn Millionen Menschen nicht mehr Zug fahren, auf einer Restaurantterrasse sitzen oder ins Kino gehen dürfen, ohne einen negativen Coronatest und ihren Ausweis vorlegen zu müssen, sind wir in einer anderen Welt gelandet. In einer Welt, die anderswo bereits existiert. Um es präzise zu benennen: in China, wo die Polizei bereit mit Augmented-Reality-Brillen ausgestattet ist und mittels einer Wärme­kamera eine Person mit Fieber in einer Menschenmenge erkennen kann. Wollen wir das wirklich?

Jedenfalls nehmen wir es hin, dass die digitale Technologie immer stärker unser Leben durchdringt. Wir dulden die Überwachung unseres Privat- und Berufslebens, unserer Kommunikation und unserer politischen Einstellungen. Auf die Frage, wie wir verhindern können, dass die durch Hacken unserer Mobiltelefone gewonnenen Daten gegen uns verwendet werden, hat Edward Snowden entgegnet: „Was können die Menschen tun, um sich vor Atomwaffen zu schützen? Vor chemischen oder biologischen Waffen? Es gibt Industriezweige und Bedrohungen, vor denen es keinen Schutz gibt; deshalb versuchen wir, die Verbreitung dieser Technologien zu begrenzen.“

Macron fördert genau das Gegenteil. Er beschleunigt einen Prozess, der die Interaktion von Menschen durch einen Wust von amtlichen Websites, Robotern, Voicemails, QR-Codes und Apps ersetzt. Künftig müssen wir, wenn wir ein Ticket buchen oder online etwas kaufen, nicht nur über eine Kreditkarte verfügen, wir müssen auch eine Handynummer angeben und womöglich weitere persönliche Daten.

Vor gar nicht so langer Zeit konnte man noch ganz anonym Zug fahren, durch die Straßen gehen, ohne gefilmt zu werden, sich um so mehr als freier Mensch fühlen, weil man keine Spuren hinterlassen hatte. Und auch damals gab es schon Kindesentführungen, Terroranschläge und Epidemien – ja sogar Kriege.

In Zukunft wird man die Vorsichtsmaßnahmen grenzenlos ausweiten. Ist es zum Beispiel ratsam, mit einer Person in einem Restaurant zu sitzen, die irgendwann in den Nahen Osten gereist ist, auf einer verbotenen Demonstration gewesen ist oder einen anarchistische Buchladen besucht hat? Das Risiko, dass dein Essen durch eine Bombe, eine Kalaschnikow-Salve oder einen Faustschlag beendet wird, ist zwar nicht sonderlich groß, aber auch nicht null. Müssen wir also demnächst einen „Bürgerpass“ vorlegen, um uns als „nicht vorbestraft“ auszuweisen? Um ganz unbesorgt durch ein Museum der öffentlichen Freiheiten wandeln zu können?⇥Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 12.08.2021, von Serge Halimi