Wählerstreik in Frankreich
von Serge Halimi
Was wird das politische Leben in Frankreich in den kommenden Monaten prägen? Eine Serie nicht enden wollender Medienberichte, die Panik vor einer Bedrohung der öffentlichen Sicherheit schüren? Und im selben Atemzug dramatische Aufrufe, den Rechtsextremen Einhalt zu gebieten, denen dieses Klima der Angst Aufwind verschafft?
Dieses Szenario ist nicht unabwendbar, und der Ausgang der französischen Präsidentschaftswahl 2022 ist alles andere als gewiss. Die als Finalisten gehandelten Kandidat:innen Marine Le Pen und Emmanuel Macron gehen beide schwer gebeutelt aus den jüngsten Regionalwahlen hervor. Die Meinungsforschungsinstitute lagen so kolossal daneben, dass wir ihren Vorhersagen in den kommenden Wochen misstrauen sollten.
Sicher dürfte die außerordentlich hohe Quote an Enthaltungen (66,72 Prozent im ersten Wahlgang) als Ohrfeige für die sowohl willkürliche als auch unverständliche territoriale Neuordnung gelten: 2015 wurden aus 22 Regionen 13. Aber der Streik der Wähler ist auch ein Ausdruck der Abscheu gegenüber einer politischen Kampagne, die in die demagogischen Niederungen der extremen Rechten abgeglitten ist und allen Wählern vorgaukeln wollte, die großen Probleme unserer Zeit seien Sicherheit, Kriminalität und Immigration. Drei Themenfelder, die im Übrigen nur selten in den Kompetenzbereich der Regionen fallen.
Mit dieser Stimmungsmache gaben die Medien Wasser auf die Mühlen des Rassemblement National. Und trotzdem hat die Partei von Marine Le Pen im Vergleich zu den letzten Regionalwahlen mehr als die Hälfte an Stimmen verloren (2 743 000 Stimmen gegenüber 6 019 000 im Dezember 2015). Ein solches Ergebnis zeugt nicht gerade von einem faschistischen Aufwind in Frankreich, der die Bürger veranlasst, sich wie verängstigte Schafe schutzsuchend um den guten Hirten im Élysée zu drängen.
Das – vorerst? – gescheiterte Manöver Emmanuel Macrons hat umso schwerere Folgen, als mehrere seiner wichtigen Minister, die bei den Regionalwahlen angetreten waren, eine Schlappe einstecken mussten und der Wahlausgang für die Kräfte, die ihn unterstützen (11 Prozent im Durchschnitt, das heißt 3,66 Prozent der Wahlberechtigten), an ein Debakel grenzt. Der Präsident, der seine Macht gern im Alleingang ausübt, wird dadurch hart abgestraft.
Die hohe Zahl an Nichtwählern und die Gleichgültigkeit, die in dem Ergebnis für Politikerinnen und Politiker jeglicher Couleur zum Ausdruck kommt, lassen keinen anderen Schluss zu. Im Übrigen war diese Wahl geprägt von willkürlichen Bündnissen, die jede Einheitlichkeit auf nationaler Ebene vermissen ließen. Es bleibt viel zu tun. Doch allein der Gedanke, nicht von vorneherein dazu verdammt zu sein, auch das nächste Mal nur zwischen dem kleineren und dem größeren Übel wählen zu können, fühlt sich trotz allem wie ein kleiner Lichtblick an.
⇥Serge Halimi