Zorn und Waffen
von Benjamin Kunkel
Ich bin in Glenwood Springs geboren und am Stadtrand von Eagle aufgewachsen, am Western Slope von Colorado, wo Waffen immer Teil des Lebens waren und sind. Solange ich mich erinnern kann (und natürlich auch schon vorher), schoss mein Vater mit einem 22er Gewehr auf die Packratten, die sich in unserer Jagdhütte oben am Salt Creek breitmachten. In einer meiner frühesten Erinnerungen geht er zum Wüstenbeifuß auf dem Feld unterhalb der Hütte und verpasst einem tödlich verwundeten Hirsch den Gnadenschuss.
Dabei spielten Waffen in meiner Familie eine für lokale Verhältnisse geringe Rolle. Andere Jungs gingen mit ihren Vätern auf Elchjagd, während meine Familie und ich signalorange gekleidet in den Wäldern wanderten. Ich selbst schoss nur auf Papierzielscheiben, die mein Vater an einen Baum heftete, oder auf Erdhörnchen, wenn sie aus ihren Höhlen kamen, in denen Pferde sich die Beine brechen konnten.
Als wir in der Stadt wohnten, verspottete mich ein Junge. Ich folgte ihm nach der Schule und verprügelte ihn in seinem Garten; ich glaube, seine Schwester schaute zu. Da muss ich zehn gewesen sein. Er lauerte mir dann auf einem Parkplatz auf und verpasste mir vor seinen Freunden eine blutige Nase. (Ich log später, die ganze Bande hätte mich attackiert.)
Einige Jahre später – ich war wieder umgezogen – verballhornte ein Junge namens David Silva meinen Nachnamen zu „cunthole“. Ihn stellte ich auf dem Schulflur, sagte ihm, er solle damit aufhören. Als er weitermachte, versetzte ich ihm einen Kinnhaken. Der Sportlehrer schleppte uns zum Direktor. Auf die Frage, was passiert sei, schrie ich: „Er hat mich ‚cunthole‘ genannt!“, während David (der später mein Freund wurde) wenig überzeugend behauptete: „Ich dachte, er heißt so.“
Wenn ich mich richtig erinnere, wurde David bestraft und ich nicht. Vielleicht, weil er mit dem Streit angefangen hatte, vielleicht auch, weil ich blond und blauäugig war und er Mexikaner, wie wir damals sagten. (Ich glaube nicht, dass ich das Wort Latino schon einmal gehört hatte.)
Warum diese Reminiszenen? Weil es in den Vereinigten Staaten und besonders im Westen ebenso massenhaft Schusswaffen wie massenhaft männliche Gewaltbereitschaft gab und gibt. Massenmorde waren damals noch selten. Sicher, es hatte Amokläufe 1966 in Austin und 1984 in San Diego gegeben und man konnte, wie ich heute weiß, ein AR-15-Sturmgewehr mit der Post bestellen; aber Massaker waren noch nicht an der Tagesordnung.
Inzwischen datiert man den Beginn der Ära von Massakern in den USA auf den 20. April 1999. Die Amokschützen an der Columbine High School in Denver hatten Hitlers Geburtstag für das Ereignis gewählt. Ich war gerade auf Wandertour mit einem Freund aus Denver, der plötzlich eine E-Mail bekam: „Wie schrecklich, was bei euch in Colorado passiert ist.“ Auf dem Computer in unserem Hostel lasen wir entsetzt von 13 Todesopfern.
Heute, nach fast 200 weiteren Massenmorden in den USA, kann man immer noch entsetzt, aber nicht mehr überrascht sein. Vor allem wenn man in Colorado lebt. Seit Columbine hat es hier so viele Massaker mit Schusswaffen gegeben wie kaum irgendwo sonst. Nur vier andere Bundesstaaten, alle im Westen, haben mehr solcher Katastrophen pro Kopf zu verzeichnen.
Am Montag, den 22. März 2021, sahen meine Partnerin und ich auf dem Rückweg aus den Bergen am Highway 93 eine große Ansammlung von Polizei- und Rettungswagen vor dem Shoppingcenter in Table Mesa, im Süden von Boulder. Ein Amoklauf?, fragten wir uns bang.
Ein 21-jähriger Mann aus Arvada, einem Vorort von Denver, war mit dem schwarzen Mercedes seines Bruders die 25 Meilen nach Boulder gefahren und hatte in einem Supermarkt zehn Menschen erschossen. Die Polizei schoss ihm schließlich ins Bein und bis auf die Unterhose entkleidet, ergab er sich. Bei seiner Festnahme fragte er nach seiner Mutter.
In E. M. Forsters „Zimmer mit Aussicht“ beklagt eine Figur „die schaurige Art, wie ehrenwerte Leute nach Blut lechzen“. Das Zeitalter der mass shootings in den USA fällt mit dem Aufkommen der sozialen Medien zusammen, und die ehrenwerte Art und Weise, nach Blut zu lechzen, besteht heute darin, die Opfer als ideologisches Argument auf Facebook oder Twitter zu missbrauchen.
Es genügt anscheinend nicht, die simple Wahrheit zu wiederholen, dass Sturmgewehre verboten und beschlagnahmt gehören. Stattdessen ist jede neue Gräueltat Anlass, noch einmal die eigene bevorzugte Interpretation des Zustands unserer Gesellschaft kundzutun.
Viele Linke, die den weißen Suprematismus als gültige Erklärung der gesamten Weltgeschichte entdeckt haben, waren wie berauscht von der Bestätigung dessen, was sie ohnehin glaubten. Sie ritten nun darauf herum, dass der halbnackte Schütze von Boulder hellhäutig war und lebend festgenommen wurde – bis bekannt wurde, dass er in Syrien geboren war und einen arabischen Namen trug.
Im Handumdrehen wechselte der ideologische Knüppel die Seite, und die Rechten erklärten den Mörder zum Agenten des IS. Pech für sie, dass der Mann im November 2015 sein Facebook-Profil mit der Trikolore geschmückt hatte, offenbar aus Solidarität mit den Opfern der Terroranschläge in Paris, und dass für ihn der Islam die Gläubigen vor allem zur Güte verpflichtete.
Der Reiz einer Religion des Friedens für jemanden, der paranoid ist und Aggressionsprobleme hat, ist leicht vorstellbar. Ein früherer Mitschüler des Todesschützen erinnerte sich, dass der nach einem verlorenen Ringkampf einmal geschrien habe: „Ich bring euch alle um!“
Aus der Tatsache, dass nichts gefunden wurde, das man Tatmotiv hätte nennen können, sollte man schlussfolgern, dass es die bei solchen Verbrechen eingesetzten Mittel sind, die nicht außer Kontrolle geraten dürfen. Aber nein, der Senator von Louisiana, John Kennedy, belehrte seine Kollegen am Tag nach dem Massaker: „Eine Menge betrunkener Autofahrer bringen in Amerika eine Menge Menschen um. Die Antwort darauf kann nicht sein, den Nüchternen das Autofahren zu verbieten.“
Diese Analogie unterschlägt allerdings, dass Alkoholfahrten mit tödlichem Ausgang in den USA um die Hälfte zurückgegangen sind, seit strengere Strafen dafür drohen und die Promillegrenze am Steuer herabgesetzt worden ist – ganz zu schweigen davon, dass angehende Autofahrer im Gegensatz zu angehenden Benutzern von Schusswaffen eine Fahrprüfung machen und eine Probezeit absolvieren müssen, bevor sie legal eine potenziell tödliche Maschine steuern dürfen.
Die in den letzten Jahren entstandene Socialist Rifle Association (SRA) linker Waffennarren ist im Grunde nur ein Spiegelbild der National Rifle Association (NRA). „Wenn Sie glauben“, twitterte die SRA nach dem Massaker von Boulder, „dass der Besitz von Schusswaffen oder ‚Sturmgewehren‘ reguliert oder verboten werden sollte, glauben Sie dann auch, dass die (bewaffnete) amerikanische Polizei diesen Gesetzen ohne Ansehen der Person hinsichtlich Rasse, Geschlecht und politischer Überzeugung Geltung verschaffen wird?“
Diesen eloquenten, progressiv posierenden Freunden des Schießgewehrs scheint da etwas nicht klar zu sein: Es gibt Gesetze gegen Vergewaltigung und Mord, und, ja, Schwarze, die solcher Verbrechen beschuldigt werden, werden keineswegs ohne Ansehen ihrer Hautfarbe und fair behandelt; aber daraus folgt noch nicht, dass Vergewaltigung und Mord legalisiert werden sollten.
Es scheint diese Leute auch nicht zu kümmern, dass die Opfer von Waffengewalt in den USA, Amokläufe eingeschlossen, überproportional People of Color sind. Und im Übermaß ihrer Einfalt behaupten sie allen Ernstes, für eine eventuell stattfindende sozialistische Revolution auf amerikanischem Boden sei ihr eigener bewaffneter Beitrag zu dem ganzen Krawall entscheidend.
Wann immer in den USA über die unzähligen Massenmorde diskutiert wird, werden die ewig gleichen Thesen wiedergekäut. Öffentliche Kommentare zu diesen regelmäßig verübten Gewalttaten sind in ihrer Vereinfachung mehr ein Ersatz für Debatten als ein Teil davon. Es geht darum, die eigene ideologische Nische zu verteidigen, nicht darum, das Leben von Menschen zu schützen.
Ich glaube nicht, dass es die Hinterbliebenen der Opfer von Boulder sehr interessiert, was den Mörder antrieb. Der bisherige Champion im amerikanischen Massenerschießen ist ein 64-jähriger weißer Buchhalter, der sich 2017 mit 22 Schnellfeuergewehren, einem Ruger-Repetiergewehr und einem Smith-&-Wesson-Revolver in einem Hotelzimmer in Las Vegas verschanzte und – ohne jedes „klare oder eindeutig festzumachende Motiv“ (so das FBI) – 60 Menschen erschoss und fast 900 verletzte. Es waren Menschen, die zum weißesten aller Kulturevents gekommen waren, einem Country-Konzert.
Rassisten wollen manchmal eine große Zahl von Menschen töten. Islamisten auch. Frauenfeinde auch. Und wirre Irre. Und totale Nihilisten. Und ich, immer dann, wenn ich das ganze Morden so satthabe, dass ich am liebsten kurz im NRA-Hauptquartier vorbeischauen und alle dort kaltmachen würde.
Vielleicht ist es langweilig, das Offensichtliche zu sagen: Keiner von uns zornigen Männern sollte eine halbautomatische Waffe haben, diese Waffen müssten längst verboten sein. Aber Entsetzen und Leid können, wie es aussieht, ebenfalls langweilig werden. Langeweile, gepaart mit Entsetzen: Das ist die Hölle.
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier
Benjamin Kunkel ist Autor unter anderem von „Utopie oder Untergang. Ein Wegweiser für die gegenwärtige Krise“, Berlin (Suhrkamp) 2014.
© London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin