Schachspiel um Nordmazedonien
von Norbert Mappes-Niediek
Mehr als hundert Jahre ist es her, dass ein britischer Forschungsreisender sich einmal sehr wundern musste. Der Mann war in Mazedonien unterwegs, in den Dörfern rund um die osmanische Stadt Manastir, und fragte überall die Leute, was sie denn wären. „Wir sind Griechen“, erfuhr er in einem Ort.
Der Forscher verzeichnete das Ergebnis in seinem Reisetagebuch. Ein Jahr später kam er wieder vorbei und wunderte sich über die bulgarische Fahne über dem Haus des Ortsvorstehers. „Ja, wir sind Bulgaren“, verkündete ihm derselbe Mann, der sein Dorf noch vor einem Jahr als griechisch ausgegeben hatte. „Letztes Jahr waren wir Griechen, jetzt sind wir Bulgaren.“
Die Sache war ganz einfach: Der alte Priester war gestorben, jetzt war ein neuer da. Beide kamen aus verschiedenen Bistümern. Im Osmanischen Reich, zu welchem Manastir (auf Griechisch Monastir), das heutige Bitola, damals noch gehörte, war nicht „Ethnizität“, „Volkszugehörigkeit“, nicht einmal Muttersprache ein Kriterium von Bedeutung. „Schwebendes Volkstum“ nannte man es in der Sprache des Nationalismus jener Zeit.
Gerade weil es so schwebte, unternahmen die Politiker in den umliegenden Hauptstädten der neuen Balkanstaaten alles Mögliche, das „Volkstum“ zu erden und damit das beherrschte Territorium zu vergrößern. Ein probates Mittel waren die Geschichten berühmter Vorfahren – vom Zaren Samuil, vom Heiligen Sava, vom Helden Skanderbeg oder von Alexander dem Großen. Auf die Abstammung kommt es an: Die Weisheit leuchtete gerade viehzüchtenden Bauern spontan ein.
Wo die Zugehörigkeit „schwebt“, fluide ist, muss ihre jahrhundertealte Geschichte umso eindringlicher beschworen werden. Eine mazedonische Nation gibt es amtlich seit 77 Jahren, im allgemeinen Bewusstsein ist sie noch jünger. Nach einem turbulenten 20. Jahrhundert, in dessen Verlauf sich auf dem Territorium des historischen Mazedonien nicht weniger als neun Reiche, Staaten und Parastaaten tummelten, nimmt das Spiel mit den Identitäten gerade wieder Fahrt auf.
Seit einem Dreivierteljahr blockiert das EU-Mitgliedsland Bulgarien die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien, dem mit Abstand reformfreudigsten und proeuropäischsten Balkanland.
Begonnen hat die neue Runde im alten Machtspiel im Sommer 2020 im stattlichen Gebäude einer kleinen Partei an der Sofioter Pirotska-Straße. Eine Neuwahl drohte. Die rechtsradikale Partei mit dem traditionsreichen Namen „Innere mazedonische revolutionäre Organisation“ (VMRO) nutzte ihr Erpressungspotenzial als Teil einer wackligen Regierungsmehrheit, um mit ihrem Kernthema zu punkten: Das viermal kleinere Nachbarland Nordmazedonien – wie es seit der glücklichen Beilegung des jahrzehntelangen Streits mit Griechenland heißt – sollte nach dem Willen der bulgarischen Nationalisten zwar nicht mehr auf seinen Staatsnamen, aber immerhin auf den Namen seiner Sprache verzichten und sich als ein Staat der bulgarischen Nation deklarieren. Der konservative Regierungschef Boris Borissow spielte notgedrungen mit, desgleichen die sozialistische Opposition. Wenn es um nationale Fragen ging, hatte sich schon ihre kommunistische Vorgängerpartei nie rechts überholen lassen.
Die Partei, die den Anstoß gegeben hatte, flog bei den Neuwahlen dennoch aus dem Parlament. Aber die Kugel rollt seither weiter. Bulgariens Regierung legte im vorigen November offiziell ihr Veto gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Skopje ein. Die EU-Kommission musste eine schon angesetzte Regierungskonferenz absagen. Auch Albanien war blockiert: Nach dem Willen der EU hätten beide Länder die Verhandlungen gemeinsam beginnen sollen. Die Bremser der Südosterweiterung, wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, konnten sich entspannt zurücklehnen.
Kein Land in Osteuropa wurde von der Europäischen Union so böse hingehalten wie Nordmazedonien. Aber gerade deshalb ist kein Land so sehr auf die EU fixiert – ein fataler Zusammenhang. Schon vor 30 Jahren wollte die Union die ehemalige jugoslawische Republik nicht anerkennen, obwohl sie nach dem Urteil der EU-Experten die Kriterien klarer erfüllte als das dann doch anerkannte Kroatien.
Zehn Jahre später stand das isolierte Land mit seinen 2 Millionen Einwohnern am Rand eines Bürgerkriegs. Die EU vermittelte, konnte aber nicht mit Beitrittshoffnungen locken, weil Griechenland jeden Erweiterungsschritt blockierte.
Als Athen dann 2008 sein Veto sogar gegen die Nato-Mitgliedschaft einlegte, fiel Mazedonien in eine selbstzerstörerische Trotzphase. Unter Premier Nikola Gruevski steuerte das Land nach außen in Richtung Russland und nach innen in Richtung Diktatur. Gleichzeitig startete das Regime einen großen nationalen Relaunch und überzog die Hauptstadt Skopje mit unzähligen Skulpturen, Palästen und klassizistischen Tempeln aus Gips, mal im Stil der Prager Karlsbrücke, mal à la Champs-Élysées. Die Botschaft lautete: Seht her, wir sind auch Europa!
Seit das Regime Gruevski 2016 fiel, strebt das Land wieder mit Riesenschritten in Richtung Westen. Die neue Führung mit einem energischen Außenminister, Nikola Dimitrov, sprang über ihren Schatten und ließ sich nötigen, den Staatsnamen zu ändern. Ein Vierteljahrhundert lang hatten wechselnde griechische Regierungen die Angst geschürt, der Name „Mazedonien“ könnte territoriale Ansprüche auf die gleichnamige griechische Provinz beinhalten.
Die großen EU-Staaten wollten keinen Druck auf Athen ausüben. Dabei hatte für frühere Erweiterungskandidaten noch die Formel gegolten, rein bilaterale Probleme hätten in Beitrittsverhandlungen nicht zu suchen. Für Mazedonien galt die Formel nicht. Und kaum war die griechische Mauer gefallen, errichtete Bulgarien die nächste. Europa belohnt nur Länder, die sich ihm nicht fügen.
Hinter der Kulisse des aktuellen Identitätsstreits wird Schach gespielt – wie vor 120 Jahren. Aktueller Großmeister ist der ungarische Autokrat Viktor Orbán. Zug um Zug baut er seine Optionen aus. Befreundete Oligarchen kaufen Zeitungshäuser in den Nachbarländern. Orbáns Amtskollege Janez Janša in Slowenien, das am 1. Juli in der EU die Ratspräsidentschaft übernimmt, ist sein treuer Anhänger. Einen Parteifreund, Olivér Várhelyi, brachte Orbán als Erweiterungskommissar in der neuen EU-Kommission unter. Zum Entsetzen der Brüsseler Beamten schönt der Ungar eigenhändig kritische Berichte über das autoritär regierte Serbien. In Nordmazedonien setzt Orbán auf den abgelösten Ex-Autokraten Gruevski. Als der 2018 wegen Korruption ins Gefängnis sollte, flüchtete er nach Budapest und bekam dort Asyl.
Im Mai nun schlug Kommissar Várhelyi vor, die EU solle zwar mit Albanien, aber nicht mit Nordmazedonien über den Beitritt verhandeln. Ein tückischer Schachzug: Wird die Regierung in Skopje mit ihrem Demokratisierungskurs ein weiteres Mal frustriert, könnte die Bevölkerung in einer Trotzreaktion wieder auf Nationalismus und auf Russland setzen.
Hilfe ist nicht in Sicht. Seit die EU die Erweiterungspolitik an Orbán und seine Freunde überantwortet hat, sitzen die Balkanstaaten in der Falle: Je besser sie sich mit Ungarn und dessen EU-Kommissar stellen, desto größer wird die Erweiterungsskepsis in Frankreich oder den Niederlanden. Gardez!
Der formale Streitgegenstand passt weniger ins 21. Jahrhundert als vielmehr in die Epoche des britischen Forschungsreisenden – in der sich Franzosen und Deutsche noch stritten, ob Karl der Große ein Deutscher oder ein Franzose war. Ein dicker Stein des Anstoßes ist zum Beispiel die Wahrnehmung des schnurrbärtigen Doppel-Nationalhelden Goze Deltschew (1872–1903), der in Sofia als großer Bulgare und in Skopje als großer Mazedonier verehrt wird.
Deltschew selbst, der im heutigen Griechenland geboren wurde, eine bulgarische Schule besuchte und im heutigen Nordmazedonien Lehrer war, hätte die Frage nicht interessiert. Er war Sozialist, kämpfte gegen die Osmanen und „wollte gewiss nicht die Herrschaft Istanbuls durch jene Sofias ersetzen“, wie der Regensburger Historiker und Bulgarien-Spezialist Ulf Brunnbauer sagt.
Prinzipiell unlösbar ist auch der Streit über die mazedonische Sprache und die wechselseitigen Minderheiten. Ob Mazedonisch tatsächlich eine Sprache ist oder ein „westbulgarischer Dialekt“, wie Sofia behauptet, ist Ansichtssache. „Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine“, hat der Linguist Max Weinreich die müßige Streitfrage auf den Punkt gebracht. Auch ob es in Nordmazedonien eine bulgarische und ob es in Bulgarien eine mazedonische Minderheit gibt, sei politischen Entscheidungen entzogen, meint Brunnbauer. „Da es in beiden Ländern Personen gibt, die sich als Angehörige einer solchen Minderheit bezeichnen, gibt es sie.“
Am 11. Juli wird in Bulgarien wieder gewählt. Gestritten wird über Mafia, direkte Demokratie, eine Abhöraffäre. Von Goze Deltschew und dem „westbulgarischen Dialekt“ redet niemand. Die Partei, die die Kugel ins Rollen brachte, liegt in den Umfragen bei 3 Prozent.
Norbert Mappes-Niediek ist Korrespondent für Österreich und Südosteuropa. Zuletzt erschien von ihm „Europas geteilter Himmel. Warum der Westen den Osten nicht versteht“, Berlin (Ch. Links Verlag) 2021.
© LMd, Berlin