Bern-out
Warum die Schweizer Regierung das Rahmenabkommen mit der EU scheitern ließ
von Anna Jikhareva
Sieben Jahre und vier Tage dauerten die Verhandlungen. Am 26. Mai kam das Ende: Mit wenigen knappen Worten beerdigte die Schweizer Landesregierung einseitig das Institutionelle Rahmenabkommen (kurz: Insta) mit der Europäischen Union. In den Medien war von „Bern-out“ und drohendem „Schwexit“ die Rede, vom „schwarzen Mittwoch“ in der „Durcheinanderschweiz“. Sieben Jahre und vier Tage voller Annäherungen und Enttäuschungen, verpasster Chancen und überschrittener roter Linien, Missverständnisse und Sackgassen. Und dann war alles umsonst. Und das Verhältnis zu den Nachbarländern war auf einem Tiefpunkt angelangt.
Um zu verstehen, warum Bern den Vertrag mit dem sperrigen Titel und dem bürokratischen Inhalt am Ende verwarf, ist ein Blick auf die lange Chronik komplizierter Beziehungen nötig – und auf das Selbstverständnis eines Landes, dem das Gefühl – oder der Mythos – der Souveränität über alles geht. Der Blick auf einen Staat, der zwar mitten in Europa liegt, seit dem Ende des Kalten Kriegs aber nie imstande war, sich über seinen Platz in Europa zu verständigen, und der nun die Früchte dieses Versäumnisses erntet.
Seit Anfang der 1990er Jahre hat die Schweizer Bevölkerung insgesamt zwölfmal über ihr Verhältnis zu Europa abgestimmt. Das erste Votum am 6. Dezember 1992 endete mit einem historisch folgenreichen Ergebnis: 50,3 Prozent erteilten dem Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) eine Absage. Lediglich 14 000 Stimmen machten damals den Unterschied.
Zuvor hatte der Bundesrat sich noch formell um eine Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft (EG) beworben, der Anschluss an den EWR sollte nur ein Zwischenschritt sein: „ein Trainingslager“, um die Schweiz für die EG fit zu machen, wie es der damalige SVP-Bundesrat Adolf Ogi formulierte.
Dass dieser Schritt überhaupt denkbar wurde, sei maßgeblich dem Engagement von Künstlerinnen und Wissenschaftlern zu verdanken gewesen, schreibt der Historiker Jakob Tanner in seiner „Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert“. So wurden immer mehr Forschungsprojekte zu aktuellen politischen Fragen in enger Kooperation mit europäischen Institutionen umgesetzt, später ernannte die European Science Foundation einen Schweizer zum Generalsekretär. Die Wissenschaft wurde so zum „Multiplikator einer mentalen Europafähigkeit der Schweiz“.
Mit dem Nein zum EWR hatte 1992 niemand gerechnet. Von dem Schock hat sich das Land bis heute nicht richtig erholt. „Das Ergebnis konnte angesichts einer über Jahre ausgebliebenen Europadebatte nicht erstaunen“, befindet der Jurist Thomas Cottier. Die Absage an die europäische Integration bedeutete zugleich den großen Durchbruch der rechtskonservativen SVP unter Christoph Blocher. Der milliardenschwere Industrielle hatte sich im Abstimmungskampf als „Mann aus dem Volk“ inszeniert – und die Wissenschaft zur Zielscheibe erkoren. Unvergessen ist sein Auftritt bei einer Anti-EWR-Kundgebung, mit Zigarre im Mund und über die Schultern gehängten Kuhglocken.
Blochers Lebensziel ist seitdem, jede Annäherung an die EU zu verhindern. Mit denselben demagogischen Mitteln: Die SVP stellt sich bis heute – trotz ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik – als Vertreterin des „kleinen Mannes“ dar. Und bis heute nutzt sie die Instrumente der direkten Demokratie, um ihre rassistische Politik mehrheitsfähig zu machen. Nachdem Blocher 2007 nicht mehr in den Bundesrat gewählt wurde, machte er als Verleger Karriere und trug damit wesentlich zum Rechtsruck des öffentlichen Diskurses bei. Mit dem Insta-Aus ist der Patron nun am Ziel seiner Wünsche.
Für die Schweiz hatte das EWR-Nein gravierende ökonomische Folgen. Um diese abzufedern, strebte Bern bilaterale Abkommen mit Brüssel an, die 1999 unterschrieben und von einer großen Mehrheit gutgeheißen wurden. Neben der Personenfreizügigkeit erhielt die Schweiz in wichtigen Bereichen – wie Verkehr und Landwirtschaft – Zugang zum EU-Binnenmarkt. Später folgten weitere Verträge, etwa über die Einbeziehung der Schweiz in den Schengenraum. In den 1990er Jahren entwickelte sich der Bilateralismus „von einer Notlösung zur Routine“, bilanziert der Historiker Tanner, und wurde schließlich sogar „als spezifisch schweizerischer Königsweg zwischen einem erweiterten Freihandelsabkommen und einer Vollmitgliedschaft gefeiert“.
Die Linke begrüßte die Einführung der Personenfreizügigkeit als „eine kopernikanische Wende“, wie es der ehemalige Gewerkschaftsführer und SP-Ständerat Paul Rechsteiner nannte. Denn damit war auch das sogenannte Saisonnierstatut beseitigt, das ausländische Beschäftigte jahrzehntelang entrechtet hatte.
Der innenpolitische Konsens wurde verspielt
Hinzu kamen „flankierende Maßnahmen“ zur Lohnkontrolle, die sicherstellten, dass alle Beschäftigten in der Schweiz – ob Einheimische oder EU-Ausländer – zu den gleichen Bedingungen arbeiten: nach dem Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“, das heute EU-weit gilt. Der Kompromiss gelang einer Allianz aus Linken und Bürgerlichen, die jahrelang hielt, bevor sie während der Verhandlungen über das Insta zerbrach.
Heute ist das Nicht-EU-Mitglied Schweiz über mehr als 100 Verträge in den europäischen Binnenmarkt eingebunden. Der Handel mit der Union macht 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus; umgekehrt ist die Schweiz für die EU nach den USA, China und Großbritannien der viertgrößte Handelspartner. 430 000 Schweizer Staatsangehörige leben in einem EU-Land und rund 1,4 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger in der Schweiz.
Um die Beziehung zur EU zu intensivieren, drängte das Schweizer Parlament Anfang der 2000er Jahre auf die Entwicklung eines Rahmenabkommens, das später aber vor allem von Brüssel gefordert wurde. Ende 2013 stellte FDP-Außenminister Didier Burkhalter das Verhandlungsmandat vor. Mit dem Insta sollte ein Mechanismus entstehen, um Streitigkeiten über die Auslegung der bilateralen Abkommen beilegen zu können.
Nicht zur Verhandlung standen die flankierenden Maßnahmen, die Unionsbürgerrichtlinie, die EU-Angehörigen den Anspruch auf Sozialleistungen zubilligt, sowie staatliche Subventionen oder Zuschüsse an Unternehmen oder Branchen. Mit diesen drei „roten Linien“ waren die Interessen der wichtigsten innenpolitischen Fraktionen gewahrt, ohne deren Zustimmung kein Abkommen denkbar war.
Als im Mai 2014 die Verhandlungen begannen, stand das Verhältnis zur EU unter keinem guten Stern: Kurz zuvor war die „Masseneinwanderungsinitiative“ der SVP, die die Zuwanderung wieder durch Kontingente begrenzen wollte, in einem Plebiszit knapp durchgekommen. Damit war die Personenfreizügigkeit erneut infrage gestellt. Weil die Schweiz mit der Umsetzung der Initiative beschäftigt war, kamen die Verhandlungen mit der EU für einige Jahre zum Stillstand.
Nachdem im Oktober 2017 der zuständige Außenminister Didier Burkhalter zurückgetreten war, kündigte sein Nachfolger Ignazio Cassis an, die „Reset“-Taste zu drücken. Was dann geschah, kann im Rückblick als Fundamentalfehler bezeichnet werden: Im Juni 2018 stellte Cassis den Lohnschutz zur Disposition. Damit brüskierte er die Gewerkschaften – und gab eine der selbst gezogenen roten Linien auf. Seitdem war das Insta im Grunde nicht mehr zu retten, denn zumindest die Gewerkschaften waren damit nicht mehr mit im Boot. Im Dezember erklärte EU-Kommissar Johannes Hahn in Zürich die Verhandlungen für abgeschlossen. Cassis befürwortete den Vertrag – und merkte zu spät, dass er innenpolitisch keine Mehrheiten mehr hatte.
In den Jahren danach blieben Nachverhandlungen und weitere Klärungsversuche ohne Erfolg. Ein letzter Besuch von Bundespräsident Guy Parmelin bei Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am 23. April endete mit der Feststellung „fundamentalen Differenzen“. Auch innenpolitisch gab es für den Vertrag keine Mehrheit. Und was der Bundesrat selbst wollte, war nach wie vor unklar. Dass er das Projekt jemals leidenschaftlich verteidigt hätte, lässt sich beim besten Willen nicht sagen. Am 26. Mai zog die Landesregierung schließlich die Reißleine. Die Beziehung zum so wichtigen Partner ist nur noch ein Scherbenhaufen.
Welche Folgen der Verhandlungsabbruch hat, ist schwer abzusehen, die Schweizer Exportwirtschaft befürchtet gravierende Einbußen. Die bilateralen Verträge bleiben zwar in Kraft, ob sie in Zukunft noch angepasst oder neue abgeschlossen werden, ist jedoch unklar. Brüssel hat die Schweiz vorerst aus dem Forschungsprogramm Horizon 2020 ausgeschlossen und ein Abkommen über Medizinprodukte nicht erneuert. Die Schweiz wiederum will der EU nun auch ohne Abkommen entgegenkommen. Sie will prüfen, welche Gesetze sich freiwillig an EU-Regeln anpassen lassen; zudem sollen 1,3 Milliarden Franken Kohäsionsgelder an die EU fließen, und man will „im politischen Dialog bleiben“.
Nach sieben Jahren und vier Tagen bleibt am Ende nur der Wille zum Dialog. Und ein Land, das zwar beim Binnenmarkt mitmachen will, aber jegliche Leidenschaft für das Projekt Europa vermissen lässt. So gesehen ist das gescheiterte Abkommen nur das angemessene Symbol für die Beziehung zu den Nachbarn. Auch danach ist in Bern kein Plan für die Zukunft zu erkennen. Damit scheint die Zeit gekommen, die richtige „Reset“-Taste zu drücken und endlich die gesellschaftliche Debatte um den eigenen Platz in Europa zu beginnen. Denn während sich die EU seit Jahrzehnten laufend weiterentwickelt, hat sich in der Schweiz seit dem EWR-Debakel niemand getraut, eine europapolitische Vision zu entwerfen.
Anna Jikhareva ist Redakteurin bei der Wochenzeitung WOZ in Zürich.
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