Brief aus Budapest
von Gábor Papp
Du meinst, je mehr Du von Ungarn weißt, desto weniger verstehst Du, was hier abläuft. Das ist verständlich. Im Großen und Ganzen geht es uns auch so. Beziehungsweise ging es uns so.
Zwei Jahre hat mein Freundes- und Bekanntenkreis gebraucht, um zu erkennen, dass der Amoklauf, der als Regierungspolitik bezeichnet wird, tatsächlich keine durch Sendungswahn inspirierte und wie auch immer geartete gesellschaftliche Veränderung beabsichtigt, sondern allein die unbegrenzte Konzentration der Macht Orbáns – das heißt seiner wirtschaftlichen Macht. Dabei – und beim Mästen der Vasallen – assistiert ihm die Hierarchie der Parteisoldaten und der durch enge Fesseln disziplinierte Verwaltungsapparat. Und das Fußvolk bildet der konservative Mittelstand, der ein besseres Schicksal verdient hat und der eine Vision von der Zukunft hegt, deren Verwirklichung er sich mangels Alternative, und Gott weiß wie lange noch, von Orbáns Partei Fidesz zu erhoffen beschlossen hat.
Du willst wissen, was wir mit dieser Erkenntnis anfangen? Nichts – außer dass ich darüber schreibe. Eine so primitive Wahrheit kann ein Fischverkäufer der Gemüsefrau hinüberbrüllen, aber besseren Herrschaften kannst Du sie nicht erzählen, weil jeder beleidigt ist: Die der Fidesz Nahestehenden verbitten sich, dass Du sie für willenlose Erfüllungsgehilfen oder dumme Irregeleitete hältst; und die Minderheit, die den Orbánismus ablehnt, fühlt sich zutiefst gedemütigt, wenn du sie mit dem ganzen Ausmaß ihrer Ohnmacht konfrontierst.
Nicht die Funktionsweise des Systems ist schwer zu begreifen, sondern die Tatsache, dass im 21.Jahrhundert in der Europäischen Union ein autoritäres System existieren kann, in dem Entscheidungen einzig nach dem Willen einer Person oder in vorauseilendem Gehorsam getroffen werden – ob es sich nun um die Ernennung eines Theaterdirektors oder um eine Kleinigkeit wie den offiziellen Namen des Landes handelt. (Ich nehme an, Du weißt nicht, dass unsere omnipotente Regierungspartei – sie sagt, es war der Volkswille – im großen Verfassungskuddelmuddel der Republik Ungarn mit einem Federstrich ihre Staatsform geraubt und sie zu einem bloßen „Ungarn“ degradiert hat.)
Die großen politischen Einheiten der Welt begnügen sich damit, an ihren Institutionen zu feilen, an Grundbegriffe rühren sie selten. Naturwissenschaften und angewandte Wissenschaften sind gezwungen, ihre Axiome ständig zu überprüfen, die Politische Wissenschaft anscheinend nicht. Wo freie Wahlen abgehalten werden und die Staatsmacht innerhalb der Grenzen der Gesetzlichkeit bleibt, dort herrscht Demokratie: So lautet die zum Dogma erstarrte jahrhundertealte Definition. Viktor Orbán ist durch absolut saubere Wahlen in seine Position gelangt, mit einem überwältigenden Sieg über die erbärmlich schwache, korrupte Linkskoalition, die acht Jahre erbärmlich schwach regiert und nichts als Schulden gemacht hat, und sein Rückhalt in der Bevölkerung ist nach zwei Jahren nur geschmolzen, aber noch immer vorhanden. Mit seiner parlamentarischen Mehrheit werden sämtliche den Gebräuchen westlicher Demokratien zuwiderlaufende Vorhaben durch Gesetzesänderungen im Wochentakt legitimiert. Es herrscht also Demokratie, und was sich innerhalb derselben abspielt, dafür fühlt sich Europa mit seiner Volkspartei-Mehrheit nicht zuständig. Allenfalls bei Notenbankgesetz und Medienpolitik wird ein wenig nachgebohrt, was die Autokratie nicht im Geringsten ankratzt.
Ich äußere mich hier nicht weiter über das, was sowieso in der europäischen Presse über Ungarn nachzulesen ist: die schlechtesten Wirtschaftsdaten der Region, die Abwanderung der Jungen in nie dagewesenem Ausmaß, die konfrontative Politik gegenüber Rumänien und der Slowakei, die antisemitischen und romafeindlichen Reden der Parlamentspartei Jobbik, der offene Kult des nationalistischen Staatschefs Horthy (1920 bis 1944), die Doppelzüngigkeit Orbáns – im Ausland sagt er regelmäßig das Gegenteil wie im Inland – und die Installation seiner Vasallen auf ihren Posten für alle Ewigkeit … die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Betrachten wir diese Dinge als vorübergehende Erscheinungen, die in bestenfalls einem Jahrzehnt verblassen werden.
Das Problem – lass mich es niederschreiben: die nationale Tragödie – hat tiefere Wurzeln und ist viel größer. Die entsetzlichen Versäumnisse der politischen Klasse und der geistigen Eliten über zwei Jahrzehnte haben die antimodernistischen, selbstgenügsamen Traditionen Ungarns in einem Maße konserviert, dass das Land auf Kurs in die Vergangenheit geraten ist.
Sternstunden, wie es das Jahr 1989 für eine Vielzahl von Nationen war, sind erlesene Geschenke der Geschichte. Wir hätten größten Nutzen daraus ziehen können. Im Zusammenhang mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs besaßen wir internationales Prestige, was unser Selbstbewusstsein beflügelte. Auch wirtschaftlich gab es Grund, sich selbstzufrieden in der Region umzuschauen: Wir hatten funktionierende Wirtschaftsbeziehungen zum Westen und eine bereits während des vergleichsweise liberalen Kádár-Regimes entstandene Unternehmerschicht, was Ungarn im Wettbewerb um Investitionen einen solchen Vorteil verschaffte, dass wir bis zur zweiten Hälfte der 1990er Jahre das Musterland der europäischen Assimilation waren.
Vielleicht liegt hier der Ursprung der Probleme. Die Bequemlichkeit. Die Suche nach einer Position in der Welt haben wir nicht nötig, dachte ein Großteil der geistigen und politischen Eliten und überließ das nationale Selbstbild sich selbst. Der Druck, „sich selbst zu erfinden“, war für andere Nationen, die in die Welt der Demokratie traten, unvergleichlich größer, und sie alle wandten – wenn auch mit manchmal erschreckenden Ideen, wie die Kaczynskis in Polen – den Blick in eine mögliche Zukunft. Wir räkelten uns zufrieden in der lauen Wärme der Auserwähltheit.
Das Wirtschaftswachstum – meinte man – würde die Unterschiede im Lebensstandard wegwischen, und uns europäische Gepflogenheiten anzueignen, sei nicht nötig: Wir mit unserem tausendjährigen Christentum sind Gründungsmitglied Europas, nur der barbarische Kommunismus des Ostens hat uns eine Zeit lang abgeschnitten, doch mittels unserer Werte und unserer Kultur blieben wir Teil Europas, da braucht also nichts erfunden zu werden. Der seit einem halben Jahrhundert im Schrank schlummernde nationale Anzug muss nur entstaubt und angelegt werden! Siehe da, auch der Westen dachte so: Wie ein Tsunami strömte das Kapital ins Land, während es bei unseren bemitleideten Nachbarn nur rieselte. Ja, bei den einstigen Schicksalsgefährten gingen die Dinge belächelnswert schwerfällig voran. Wir waren die Lieblinge. Zwar wurden gemeinsam mit uns auch die anderen in die Nato aufgenommen – aber so ist Diplomatie eben, in Wirklichkeit, das wusste jeder, waren nur wir reif genug für die Mitgliedschaft in diesem Klub, doch die Tschechen und Slowaken wären beleidigt gewesen, hätte man sie ausgeschlossen.
Doch sie blieben nicht ausgeschlossen. Weder von der Nato noch von der Union und schon gar nicht von einer sprunghaften wirtschaftlichen Entwicklung. Wie auch die Balten und die Polen nicht, die sogar unter den Kaczynskis hübsche Wachstumsraten verzeichneten. Dieser Umstand schuf eine völlig neue Lage für den öffentlichen Diskurs: Nach der Jahrtausendwende kippte ein Grundpfeiler des nationalen Alltagsbewusstseins: das Überlegenheitsgefühl gegenüber den Völkern Mittel- und Osteuropas. Das Erbe des über viele Nationen gebietenden sogenannten historischen Ungarn, die ungarische Suprematie, war auch eine starke Stütze des Kádár-Systems gewesen, zusätzlich genährt von etwas abwechslungsreicher gefüllten Läden und ab den 1970ern von erleichterten Reisegenehmigungen.
Der vergleichende und überhebliche Blick auf die Nachbarn relativierte noch Ende der 1990er Jahre die eigene Trägheit bei der Erneuerung. Man berief sich auf die Übergangsphase und die Weltwirtschaft – so ließ sich bemänteln, dass wir beim fröhlichen Herumtappen in der Welt auf eine Rutschbahn geraten waren, auf der wir seither nicht mal mehr zum Atemholen Halt finden.
Unser Ruf in der Welt ist bestürzend schlecht. Nicht selten schlechter, als gerechtfertigt wäre – und die reichliche und harte Kritik vertieft noch den Graben, der uns vom Mainstream des Westens trennt: Sie erzeugt keine Selbstkritik, sondern beleidigte Verstimmung, und verstärkt noch das Beharren auf dem ewigen Sonderweg ungarischer Tradition, der das Land regelmäßig in die Irre führt. Auch heute sucht das Regime, anstatt einen Platz in der Zukunft, eine Identität in der Zeit zwischen den Weltkriegen, die zu einer nationalen Tragödie geführt hat. Die historische Situation ist beispiellos: In einer kooperativen Welt trifft es auf seinem hochmütigen Sonderweg nur Komitglieder, aber keinen einzigen Bundesgenossen.
Zum Abschluss möchte ich Antonio Gramsci zitieren. Der schrieb irgendwo: Die Attitüde der Intellektuellen ist der heroische Pessimismus. Und obwohl ich keinerlei Heldentum in mir kribbeln spüre, habe ich mich noch nie so sehr als Intellektueller gefühlt.
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer Gábor Papp ist Journalist in Budapest. © Le Monde diplomatique, Berlin