13.05.2021

Der Sud der Freundschaft

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Der Sud der Freundschaft

von José Natanson

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Im 16. Jahrhundert brachen die spanischen Konquistadoren aus Buenos Aires auf, das später einmal die Hauptstadt des bescheidenen Vizekönigreichs am Río de la Pla­ta werden sollte, und folgten den wilden grünen Wassern des Río Paraná flussaufwärts. Sie suchten Gold und Silber, doch stattdessen fanden sie die Guaraní, die seit Jahrhunderten in der Gegend lebten und in deren Ernährung ein merkwürdiges Getränk eine wichtige Rolle spielte. Sie stellten es aus einem getrockneten Kraut her. Zermahlen und in Wasser gelöst tranken sie es durch ein Röhrchen aus getrockneten Flaschenkürbissen. Sie sagten „mati“ dazu.

Die Wirkung dieses bitteren Getränks ist mehrfach wohltuend: Es reguliert den Cholesterinspiegel und hat eine entwässernde Wirkung auf den Körper. Aber die Jesuiten, die im 17. Jahrhundert ihre Missionsstationen entlang des Paraná errichteten, förderten den Anbau des Krauts vor allem, weil sie seine aufputschende Wirkung nützlich fanden: Die Guaraní, die man in die Halbsklaverei gezwungen hatte, arbeiteten effektiver, wenn sie Mate bekamen.

Im Lauf der Zeit verbreitete sich der Mate den Paraná abwärts in der Pampa und wurde zur entwässernden Nahrungsergänzung für die Gauchos mit ihrer reinen Fleischdiät, die die riesigen Ebenen Argentiniens bewohnten. Mate wurde zum Nationalgetränk.

Der Staat Argentinien hat seinen Ursprung nicht in einer Zentralmacht, die ihr Einflussgebiet nach und nach ausweitete, wie es bei den meisten Staaten Lateinamerikas der Fall war, sondern ist ein Zusammenschluss von kleinen Einzelstaaten, den provincias, wie in den USA oder Deutschland. Über fast 3 Millionen Quadratkilometer erstreckt er sich von den einst spanischen Nordprovinzen des 16. Jahrhunderts bis zu den patagonischen Südprovinzen, die erst später dazukamen; von den Tropenwäldern an der brasilianischen Grenze zur Eiseskälte des Südens, von der kosmopolitischen Riesenstadt Bue­nos Aires zu abgelegenen, in uralter Zeit schlummernden Gegenden.

Argentinien besitzt – abgesehen von der Sprache – kaum Symbole einer na­tio­nalen Identität, seit der Katholizismus sich auf dem Rückzug befindet. Als Zeichen der „Argentinität“ lassen sich vielleicht die asados ausmachen, die Grillfeste mit großen Mengen Fleisch, Wochenendtradition in allen Winkeln des Landes; dann der Fußball mit Maradona als tragischem Nationalhelden; und eben der Mate, allgegenwärtiges Getränk in Wohnungen, Büros, Läden, Straßen, öffentlichen Verkehrsmitteln und im Kongress, wo die Abgeordneten lange nächtliche Sitzungen mit seiner Hilfe durchstehen.

Mate hat die Globalisierung nicht mitgemacht: Außer in Argentinien und seinen Nachbarländern Uruguay und Paraguay wird nirgendwo auf der Welt Mate getrunken, mit Ausnahme Syriens, wohin ihn argentinische Emigranten mitbrachten. Obwohl er alle Voraussetzungen für ein Weltgetränk hätte – sein mythischer Ursprung, seine natürlichen Eigenschaften, sein unverwechselbarer Geschmack –, sind alle Versuche, ihn in anderen Ländern einzuführen, gescheitert.

Der Journalist und Autor Martín Caparrós schrieb kürzlich, dass zu einer Zeit kultureller Einförmigkeit, in der wir alle die gleichen Softdrinks und die gleichen Fruchtsäfte trinken, der Mate seine Einzigartigkeit behalten hat und dennoch nicht untergeht. „Er ist eines der wenigen Konsumgüter, die der kapitalistischen Logik widersprechen: Weder expandiert er noch verschwindet er“, stellt Caparrós fest. Nach offiziellen Angaben werden in Argentinien 6,4 Kilo des Krauts pro Person und Jahr verbraucht, das entspricht etwa 100 Litern Tee.

Mate hat eine identitätsstiftende Funktion (er ist eben durch und durch argentinisch), aber auch eine soziale: Alle trinken ihn, egal welcher Gesellschaftsschicht sie angehören. Fami­lien der Oberschicht aus dem schicken Palermo-Viertel von Buenos Aires führen bei Poloturnieren gern ihre teuren Mategefäße aus Silber vor, in den Vorstädten trinkt man ihn hingegen aus schlichten Holz- oder Blechgefäße. Arme Familien trinken Mate, um ihre hungrigen Mägen auszutricksen, wenn sie ohne Abendessen schlafen gehen müssen.

Es kann kein Zufall sein, dass in einem Land, in dem Juan und Evita Perón vor einem halben Jahrhundert die egalitärste Gesellschaft Lateinamerikas schufen, die drei Nationalsymbole – Asado, Fußball, Mate – klassenübergreifend und von allen sozialen Gruppen akzeptiert sind. Obwohl die Ungleichheit in Argentinien seit der Militärdiktatur der 1970er Jahre stetig zugenommen hat: Der Mate erinnert an die egalitäre Vergangenheit.

Mate ist ein Mittel des Dialogs und der Freundschaft, eine Inszenierung. Man kann ihn zwar auch allein trinken, aber gewöhnlich teilt man ihn in einer Runde: Eine Person („el cebador“) gießt das heiße Wasser in die Kalebasse und reicht sie dann der Reihe nach rum. Alle schlürfen den Tee durch dasselbe Röhrchen, die Bombilla. Es ist ein Vertrauens­beweis, ein Zeichen von Nähe.

Covid-19 hat uns gezwungen, diese Sitte zu ändern, die Ansteckungsgefahr ist zu groß. Eine der wichtigsten Empfehlungen der Regierung war neben sozialer Distanz (bis hin zum neuesten Vorschlag, virtuellen Sex zu praktizieren) die Warnung vor dem Risiko des gemeinsamen Matetrinkens: „Teilt das Wasser, nicht die Bombilla!“

Schwierigkeiten, sich an die Pandemierestriktionen zu halten, gibt es in allen Ländern, aber in Argentinien ist soziale Distanz besonders problematisch. Gesellschaften zeigen Zuneigung, Liebe, Gefühle nicht auf dieselbe Weise, und Untersuchungen legen nahe, dass die argentinische zu jenen gehört, in denen physische Kontakte (Umarmungen, Küsse und dergleichen) sehr wichtig sind. Eine Studie von 2017, für die Menschen in 42 Ländern befragt wurden, ergab, dass die Argentinier die geringste körperliche Distanz mit Unbekannten hielten.

Diese Tendenz spiegelt sich in unserer Kultur: Beim Tango zum Beispiel sind die Beine ineinander verschränkt und die Körper kleben quasi aneinander, weshalb der Tanz im 19. Jahrhundert wegen Unsittlichkeit verboten wurde. Und die New Yorker Punkband Ramones fand in Argentinien ihr größtes Publikum, weil der Massenpogo extrem beliebt war: Ihre Konzerte füllten in den 1970er Jahren bei uns ganze Stadien.

Auch Argentiniens politische Geschichte ist eine Geschichte physischer Kontakte. Die emblematischen Fotos der Politikerpaare des 20. Jahrhunderts (Juan und Evita Perón, Néstor und Cristina Kirchner) sind Bilder von Umarmungen, so liebevoll wie tragisch – sowohl Evita als auch Néstor Kirchner starben, kurz nachdem sie in einer solchen Pose aufgenommen wurden.

Der Peronismus selbst entstand am 17. Oktober 1945, als die Arbeiter aus den Vorstädten zur Plaza de Mayo marschierten, dem Zentrum der Nation, und ihren Anführer verlangten. Es war eine Manifestation zusammengeballter Körper, die – wie ein laizistisches Ritual – jedes Jahr wiederholt wird.

Jorge Luis Borges wird der Satz zugeschrieben: „Ein Argentinier ist ein Italiener, der Spanisch spricht und sich für einen Franzosen hält.“ Argentinien ist jedenfalls das Land mit den weltweit meisten Italienern und Ita­lie­nischstämmigen, ausgenommen natürlich Italien selbst. Das italienische Erbe – vor allem das süditalienische – manifestiert sich in der Art, wie wir sprechen, gestikulieren und einander berühren: Küsse und Umarmungen gehören zur normalen Begrüßung, man gibt sich hier eigentlich nie die Hand.

In dieser emotionalen Kultur ist die Materunde eine Art, Freundschaft zu zeigen. Gibt es schließlich einen größeren Vertrauensbeweis, als die Spucke miteinander zu teilen? Und deshalb gingen die „mateadas“ im Lockdown weiter, trotz der gesetzlichen Verbote und Warnungen der Regierung: Ein bis zwei Monate nach Ausbruch der Pandemie sah man in den Parks von Buenos Aires oft Gruppen von Leuten, die ihren Mate miteinander teilten, als sei nichts geschehen.

Die Gesundheitsämter gehen davon aus, dass der Mate bei der Übertragung des Virus eine große Rolle gespielt hat. Es gibt das Beispiel ganzer Städte, die die schlimmste Phase der Ausbreitung hinter sich hatten und die Wiederkehr der mateada feierten. Mit dem Ergebnis, dass die Fallzahlen wieder rasant stiegen – und der nächste strikte Lockdown kam. Tatsächlich haben einige Provinzen angesichts der Unmöglichkeit, die Materunden zu kontrollieren, beschlossen, seinen Konsum zu verbieten.

Wir dickschädeligen Argentinier sind nicht bereit, unsere Sitten aufzugeben: Nach wenigen Monaten unschöner Begrüßungen mit dem Ellenbogen kehrten wir zu unseren Küssen und Umarmungen zurück. Und was den Mate betrifft: Er ist wieder in den Büros, auf öffentlichen Plätzen und bei privaten Treffen dabei. Der mateada lebt weiter, ungeachtet aller Empfehlungen und wissenschaftlichen Beweise.

Der Ursprung dieses Materituals, heißt es in den kolonialen Chroniken, geht auf die Guaraní zurück: Wenn ein Mitglied des Stamms starb, wurde sein Leichnam im Dorf begraben und genau an dieser Stelle wurde Matekraut gepflanzt. Es wurde gehegt und gepflegt, zu Tee aufgegossen und in der Runde der Hinterbliebenen getrunken – im Glauben, so bleibe der Geist der Toten unter ihnen. Auch wenn das heute keiner mehr glaubt, der den heißen, bitteren Mate aus den Händen des cebador entgegennimmt, der Brauch bleibt am Leben. Wir Argentinier haben bislang 65 000 Covid-19-Tote zu beklagen – aber wir weigern uns, mit dem Teilen des Mates aufzuhören.

Aus dem Spanischen von Katharina Döbler

José Natanson ist Leiter von El Dipló Cono Sur, der argentinischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.

Le Monde diplomatique vom 13.05.2021, von José Natanson