11.03.2021

Das Schweizer Modell

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Das Schweizer Modell

von Andreas Fagetti

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Die Schweiz mag ein sehr reiches Land sein, aber Patienten mit Zahnproblemen merken davon wenig – eine bezahlbare Versorgung ist im europäischen Vergleich bemerkenswert schlecht. Für Zahnärzte ist es allerdings ein lukrativer Markt.

Rund 4 Milliarden Franken geben Schweizer jährlich für Zahnbehandlungen aus. Sie müssen diese Kosten im Prinzip vollumfänglich selbst tragen. Denn es gibt keine allgemeine Pflichtversicherung. Seit den 1960er Jahren versuchte die Linke, zahnärztliche Leistungen kassenpflichtig zu machen. Die Schweizerische Zahnärzte-Gesellschaft (SSO) verteidigte aber erfolgreich die Tariffreiheit und damit ihre Pfründen mit Unterstützung der bürgerlichen Parteien. Die Stimmbevölkerung lehnte in den 1970er, 1980er und zuletzt Anfang der 1990er Jahre Volksinitiativen für eine Pflichtversicherung ab.

Die Zahnärzte-Gesellschaft verkaufte und verkauft immer noch ihre unternehmerische Freiheit als erzieherische Maßnahme: Prophylaxe und Eigenverantwortung der Patienten lautet ihr Credo. Jede Pflichtversicherung verhindere nur individuelle Prophylaxe. Worum es in Wirklichkeit geht, verrät eine andere Aussage: Eine Basisversicherung und festgelegte Behandlungstarife stünden im Widerspruch zu einem „Unternehmer, der Praxiseigentümer ist“.

Das Präventionsargument stach noch halbwegs, solange die öffentliche Hand Zahnklinken für Schulen aufbaute und in Prophylaxe investierte. Seit Anfang der 1990er Jahre kürzt sie allerdings diese Mittel. Karieserkrankungen sind wieder im Vormarsch.

Die teure Medizin hat fatale Folgen. Eine Erhebung des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2016 ergab, dass 3,4 Prozent der Bevölkerung aus Kostengründen auf eine notwendige Zahnbehandlung verzichten mussten. In den unteren Einkommensklassen waren es sogar 7,8 Prozent. Eine Erhebung der internationalen Stiftung Interna­tional Health Policy Survey kam zu dem Schluss, dass im selben Jahr 20,7 Prozent der Schweizer Bevölkerung aus Angst vor den Kosten auf Zahnbehandlungen oder -kontrollen verzichteten. Dieser Anteil entspricht etwa dem Resultat einer Umfrage der Zahnärzte-Gesellschaft zum „Zahntourismus“: Demnach hat sich mehr als ein Fünftel der Befragten schon einmal im Ausland behandeln lassen.

Diese Zahnpflege-Grenzgänger lassen sich in Deutschland, Italien oder Frankreich behandeln. Im Westschweizer Kanton Waadt gehen die Behörden davon aus, dass inzwischen beinahe die Hälfte der Patienten in Frankreich ihr Heil suchen. Bei sehr aufwendigen Zahnsanierungen locken Anbieter aus Thailand oder Ungarn mit Kosteneinsparungen, die einen für Normalverbraucher ansonsten ­unbezahlbaren Zahnersatz möglich machen sollen. Es geht um enorme Summen.

Einen vollständiger Zahnersatz mit Implantaten bekommt man in der Schweiz zum Preis einer Luxuskarosse. Das können 70 000 Franken und mehr sein. Eine ungarische Klinik, die seit 13 Jahren in Zürich eine Niederlassung führt, um dort ihre Kunden vor der Behandlung in Budapest zu untersuchen, wirbt mit Kosteneinsparungen von bis zu 70 Prozent. Sie verwende dabei dieselben hochwertigen Produkte wie in der Schweiz üblich. Und die ausländische Konkurrenz verbindet das Unangenehme mit dem Angenehmen – sie bietet ein Rundum­paket samt Flug, Hotel und touristischem Programm.⇥Andreas Fagetti

Andreas Fagetti ist Reporter der Wochenzeitung WOZ in Zürich.

© LMd, Berlin/Zürich

Le Monde diplomatique vom 11.03.2021, von Andreas Fagetti