08.04.2021

Brief aus Brno

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Brief aus Brno

von Michal Chmela

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Wer das Pech hat, in ­Brno zu stranden, wird alsbald auf eine der wenigen Sehenswürdigkeiten dieser Stadt stoßen: ein weit verzweigtes System unterirdischer Gänge und Verliese, das im Mittelalter angelegt wurde. Das Labyrinth bildet den nicht unbedingt soliden Unterbau für den Zelný trh, den zentralen Krautmarkt, und diente den Einheimischen in Kriegszeiten immer wieder als sicherer Zufluchtsort.

Wenn die unterirdischen Mauern reden könnten, würden ihre Geschichten von Angst und Verzweiflung handeln. Heute fühlt man sich schon in den Untergrund versetzt, wenn man oberirdisch durch die Straßen wandelt. Die beklemmende Atmosphäre in dem mittelalterlichen Labyrinth, für die die Touristen früher Eintrittsgeld bezahlt haben, ist nunmehr gratis zu haben – als allgegenwärtiger Schatten der Ungewissheit.

Noch vor einem Jahr, als die tschechische Bevölkerung merkte, dass irgendetwas in der Welt furchtbar schieflief, war die Gefühlslage noch eine ganz andere. Nicht dass wir uns etwas von der Regierung erhofft hätten, oder von ihren lahmen Bemühungen, das Virus mit sporadischen Verboten und immer neuen Maßnahmen einzudämmen, die uns mit wirren und irreführenden Verlautbarungen übermittelt wurden, und das oft zu völlig unmöglichen Zeiten. In einem besonders denkwürdigen Fall wurde ein Bündel von Restriktionen 13 Minuten nach ihrem mitternächtlichen Inkrafttreten bekannt gegeben.

Nein, es war immer klar, dass die Regierung außerstande war, die Gesichtsmasken und damit das wichtigste Instrument zum Schutz gegen Corona zu organisieren. Worauf sich viele Bürgerinnen und wenige Bürger an ihre Nähmaschinen setzten, um die kostbaren Masken für Freunde und Nachbarn anzufertigen oder sie sogar kostenlos über die sozialen Medien anzubieten. Damals kapierten alle – oder glaubten zu kapieren –, wie groß das Risiko war, und akzeptierten die Schließung von Geschäften, Kneipen, Fitnessstudios, Theatern und Konzertsälen als notwendiges Übel.

Kurzum: Tschechien war ein Land, das zusammenhielt. Das fühlte sich gut an, und es hielt auch eine Weile vor. Ende März 2020 hatten wir nicht einmal 30 Todesfälle. Ein Jahr und 26 036 Tote später verzeichnen wir mit 2445 Todesfällen pro 1 Million Einwohner die höchste Coronasterblichkeit weltweit.

Wie konnte es so weit kommen? Zunächst hatte die Regierung einen zweimonatigen Lockdown verordnet. Daraufhin ging die Zahl der täglichen Infektions- und Todesfälle zurück, und wir sahen einer nicht unbedingt glänzenden, aber einigermaßen lichten Zukunft entgegen. Und so beschloss die Regierung, den Menschen ihre Sommerferien zu gönnen.

An dieser Stelle muss ich kurz die politische Landschaft skizzieren. Die stärkste Kraft im Land ist die populistische Bewegung ANO (ein Akronym, das auf Tschechisch auch „ja“ bedeutet). Die ANO ist eine Einmannshow des Milliardärs Andrej Babiš, der zugleich als Regierungschef fungiert. Die Bewegung hat keine Ideologie und keine Werte jenseits derer, die Babiš für wünschenswert hält. Und die Regierung diente zwei Amtsperioden lang einzig und allein dem Ziel, den Reichtum von Babiš zu mehren. Sei es durch Abgreifen von EU-Subventionen für sein Firmenimperium, sei es durch die Vereinnahmung von staatlichen Institutionen, die sich für den Kampf gegen seine Konkurrenten einspannen ließen.

Babiš hatte bereits im Wahlkampf versprochen, er werde „den Staat wie eine Firma betreiben“. Das hätte Warnung genug sein müssen, den Schurken nicht zu wählen. Aber leider wurde die Warnung nicht beherzigt. Freilich kann die Regierung den Staat nur so lange auspressen, wie sie an der Macht bleibt. Im Fall der ANO sind die politischen Entscheidungen jedoch so inhaltsleer und inkonsistent, dass sie über keine Stammwählerbasis verfügt. Ihre Taktik beschränkt sich darauf, zu tun, was gerade populär erscheint.

Das war im vorigen Sommer die Beendigung des Lockdowns. Über den freuten sich die Leute und machten sich umgehend auf in die nächste Kneipe. Und Babiš versprach, die Sommermonate zu nutzen, um den Kampf gegen die Pandemie besser zu organisieren. Die Rede war von digitaler „Kontaktverfolgung“, von „intelligenter Quarantäne“ und anderen schönen Dingen.

Doch all das stand nur auf dem ­Papier. Als die Regierung den Lockdown aufhob, hatte sie offensichtlich nur die Regionalwahlen vom Oktober im Sinn. Wollte man die Leute bei Laune halten, musste alles normal aussehen. Und die Toten sollten sie möglichst vergessen.

Und so machte die Regierung im September die Schulen wieder auf – und einen Monat später wieder zu. Prompt folgte im Oktober die „zweite Welle“. Die Zahl der Coronafälle und der Toten schoss erneut in die Höhe, weil die Regierung in ihrer unendlichen Weisheit versäumt hatte, rechtzeitig einen neuen Lockdown anzuordnen. Schlimmer noch: Während der kurzen Atempause im Sommer war es ihr gelungen, nichts, aber auch gar nichts zustande zu bringen. Ja, sie hatte noch nicht einmal einen Plan. Statt einen Lockdown zu organisieren, flüchtete sie sich wieder in konfuse Verlautbarungen und willkürlich aus dem Hut gezauberte Anordnungen.

Nach demselben Szenario lief es Weihnachten ab. Babiš wollte nicht der Landesvater sein, der dem Volk die Feiertagsfreuden stiehlt. Auch in ­Brno wurde der Weihnachtsbaum wie jedes Jahr auf dem Freiheitsplatz aufgestellt. Die Pandemie war damit nicht aufzuhalten, aber zugleich wurde es immer schwerer, für einen härteren Lockdown einzutreten. Die Regierung nährte vielmehr eine allgemeine Unzufriedenheit, zu der zwei Faktoren beitrugen: ihre eigene offensichtliche Unfähigkeit und die Unterschätzung der Gefahren seitens der Bevölkerung.

Einige Kneipen- und Hotelbesitzer missachteten die gesetzlichen Bestimmungen, um sich irgendwie durch die Wintersaison zu retten. Die Polizei schritt ein, unternahm aber nichts gegen illegale Kneipentreffen und Privatpartys, auf denen auch Prominente aus der Politik auftauchten. Das Messen mit zweierlei Maß stachelte die Empörung der Normalbürger und -bürgerinnen nur noch weiter an. Das Misstrauen gegenüber der Regierung produzierte ein Misstrauen gegen die von ihr angeordneten Maßnahmen.

Normalerweise ist Brno eine lebendige und dank ihrer sechs Universitäten auch junge Stadt. Das Straßenbild ist geprägt von Studierenden: Tagsüber sitzen sie in den Straßencafés und lesen oder quatschen, abends treffen sie sich in Bars und Kneipen. Der Puls der Stadt ist eher träge und gelassen; in der Altstadt bleiben die Passanten stehen, um Straßenkünstlern zuzugucken, am Kiosk in Zeitungen herumzublättern oder Touristengruppen zu beobachten, wie sie ratlos vor der phallischen Uhr auf dem Freiheitsplatz oder vor anderen seltsamen Skulpturen stehen.

Die Pandemie hat alles auf den Kopf gestellt: Die wenigen Menschen, die man sieht, bewegen sich hektisch und sichtlich entschlossen, so schnell wie möglich wieder nach Hause zu kommen. Viele von ihnen tragen keine Gesichtsmasken. Vor einem Jahr hätte man es auf den Mangel an Schutzmaterial zurückgeführt, heute muss man es als politische Aussage verstehen. Die Maske hat ihre symbolische Funktion verändert. Anfangs signalisierte sie Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft, heute ist sie für viele das Symbol der Unterdrückung.

Warum, ist nicht schwer zu ergründen. Die Maßnahmen gegen Corona muten zwar verwirrend und willkürlich an, aber dahinter verbirgt sich ein verzweigtes System von Korruption und krummen Geschäften. Schlagende Beispiele sind die Anschaffung von medizinischem Material zu exorbitanten Preisen oder der Kauf von zwei Millionen chinesischen Impfspritzen, die sich dafür aber als völlig ungeeignet erwiesen.

Ein Riesenproblem ist auch die Wirtschaft. Im März 2021 gab es den bislang härtesten Lockdown mit nächtlicher Ausgangssperre, radikaler Einschränkung von Lieferdiensten und der Vorschrift, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Geschäften und an den meisten Arbeitsplätzen (selbst beschaffte) Atemmasken zu tragen. Das Alltagsleben ist heruntergefahren – aber die Fabriken tuckern weiter. Inzwischen fordern die Epidemiologen wie die Gewerkschaften einen zeitlich begrenzten Lockdown auch für die Betriebe.

Während die Regierung verzweifelt versucht, die Infektionszahlen zu drücken, dominieren in den Medien die mahnenden Stimmen der Milliardäre, die meinen, dass ihre Geschäfte unbedingt weitergehen müssen, egal was das für die Arbeitskräfte bedeutet. Dabei beträgt die finanzielle Entschädigung für die Angestellten der geschlossenen Geschäftszweige jämmerliche 60 Prozent des Normallohns. Das bedeutet, dass positiv getestete Leute versuchen werden, ihren Befund möglichst lange zu verheimlichen.

Wem all diese Schreckensnachrichten noch nicht reichen, möge Folgendes bedenken: Obwohl die letzten zwölf Monate kein Spaziergang waren und wir uns mitten im Frühjahrslockdown befinden, wird es eher noch schlimmer kommen. Schon regen sich Stimmen, die auf die Beendigung der jetzigen Maßnahmen drängen – und im Oktober steht uns eine weitere Wahl bevor, diesmal für das Parlament. Da Babiš auf dem Tiefpunkt seiner Popularität angekommen ist, sieht es ganz so aus, als könnte es eine neue Regierung geben. Die Frage ist allerdings, was von dem Land, das sie regieren würde, dann noch übrig geblieben ist.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Michal Chmela ist freier Journalist und Übersetzer.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.04.2021, von Michal Chmela