11.03.2021

Worte finden

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Worte finden

von Katharina Döbler

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Ich habe vermutlich Verwandte in der Südsee. Ich weiß nicht, wie sie heißen, ich weiß nur, dass vor hundert Jahren mein Großvater mit einer Einheimischen auf einer der Inseln im Bismarck-Archipel ein Kind zeugte. Weder die Frau noch das Kind haben für meine Familie existiert, sie haben keinen Namen.

Es ist eher erstaunlich, dass trotz der historiografischen Säuberungen durch Mission und Nachfahren überhaupt eine Spur ihrer Existenz erhalten blieb: einige wenige Sätze, in denen das „halbweiße Kind des Missionars S.“ als eine Art Ärgernis erwähnt wurde. Als ich im Missionsarchiv auf diese Spur stieß, war es wie die schockartige Bestätigung einer Diagnose, die man längst vermutet, aber lieber für ein Hirngespinst gehalten hat.

Gleichzeitig mit der Empörung über die Familienlüge stellte sich eine leise Verwunderung über das Adjektiv ein: halbweiß. Warum benutzten die deutsch-australischen Missionare der 1930er Jahre gerade dieses Wort? Ihr Vokabular war bestimmt zum einen von der Hierarchie der Pigmente (und der Körpergröße), wonach die Samoaner den Melanesiern, die Melanesier den Papua und die Weißen sowieso allen überlegen waren; und zum anderen von ihrem ent­wicklungs­linea­ren ­Weltbild, wonach diejenigen, die über die effizienteren Technologien verfügten, auf der höchsten Kulturstufe standen. Dass sie, die Kolonialisten, innerhalb dieses Koordinatensystems als bleiche Europäer mit Maschinengewehren besonders gut abschnitten, nahmen sie als Beweis ihrer Berufung zur Herrschaft: The white man’s burden.

Ich brauche diese sich selbst erzeugende Logik nicht weiter zu erklären – wir kennen sie allzu gut, sie ist uns, wie man so schön sagt, in Fleisch und Blut übergegangen, sie ist in unserer Geschichte, sie ist unsere Geschichte. Sie ist unserem Bild von uns selbst und von der Welt eingeschrieben. Dem Bild, das sich in der Sprache spiegelt, die wir benutzen.

Wir sind seit einer Weile dabei, diese Sprache des kolonialen Erbes genauer zu betrachten, die Verachtung, die Hierarchien darin aufzuspüren und nach Möglichkeit zu eliminieren. Halbweiß: bloß teilweise weiß. Nicht zugehörig. Pigment- und Zivilisations­status mangelhaft.

Wir sagen heute, dass solche Zuschreibungen rassistisch sind. Wir haben gelernt, dass es biologisch gesehen keine Menschenrassen gibt, auch wenn das Wort Rasse (immer noch) im Grundgesetz steht. Bringt uns dieses Wissen weiter?

Bei meinen Gesprächen mit Studierenden der Geisteswissenschaften sind viele Worte tabu, egal ob ich sie nur zitiere, Sprachgebrauch historisch beleuchte oder als Zuschreibung benutze. Sie glauben, dass, wenn die koloniale Sprache verschwindet, auch das zugehörige Denken verschwinde. Aber Sprache ist kreativ, wandelbar wie ein Flusslauf, und das Denken, das ihr zufließt und sie nährt, findet seinen Weg hinein, das emanzipatorische und das ausgrenzende gleichermaßen.

Ich erinnere mich, in welchem Tonfall und mit welchem Gesichtsausdruck der Tabakhändler in unserer Straße früher „unsere ausländischen Mitbürger“ zu sagen pflegte. Er sagte es dann, wenn jener Teil seiner Kundschaft im Laden war, dessen anerkennenden Gewiehers er sich sicher sein konnte. Sein Hohn und seine Verachtung galt nicht nur den so bezeichneten Menschen, sondern auch denen, die solche sprachlichen Wendungen implementiert hatten.

Die Debatte darüber, ob Sprachregelungen die Welt verbessern oder eher soziale Gräben vertiefen, wird inzwischen mit einer Erbitterung geführt, die etwas Religiöses hat. Man darf nicht sagen, kann nicht sagen, was man nicht denken darf. Aber da ist unsere Geschichte, die auch die Geschichte des Tabakhändlers und der Studierenden der Geisteswissenschaften ist, und keine sprachliche Zuschreibung kommt ohne Geschichte aus.

Ich als Arzt, sagte Frau P. aus Ostberlin.

Die Frauen im Osten sind so was von nicht emanzipiert, sagte meine Freundin M. aus Westberlin. Das war im Jahr 1990.

Ausländische Mitbürger gibt es nicht mehr.

Dafür: Deutsche mit Migrationshintergrund.

Ich wohne jetzt in einer anderen Straße, aber ich bin ziemlich sicher, dass der Tabakhändler und seine Kumpane auch das Wort Migrationshintergrund in einer Weise aussprechen, dass es klingt wie eine Peitsche.

Und dann ist da die Frage, ob Immanuel Kant Rassist war. Und ob man den Kategorischen Imperativ nun völlig anders bewerten müsse.

„Von allen Rassen“, sagte meine Großmutter „sind mir die Papua am liebsten.“ Rassen – das waren für sie die Anderen. Der Normalfall waren wir, die Weißen. Meine Großmutter wurde noch im 19. Jahrhundert geboren und lebte nacheinander in den USA, auf Neuguinea und in China.

Als angehende US-Amerikanerin (die Migrantin wollte sich einbürgern lassen) lernte sie einen Mann kennen, der so dunkelhäutig war, dass sie ihn für ein Halbblut hielt – bis unter seinem hochgerutschten Hosenbein ein Streifen weiße Haut zum Vorschein kam. Seine Dunkelheit war als Sonnenbräune entlarvt. Sie heiratete ihn. (Und half, dieses Halbblut-Kind in der Südsee, das nicht sein durfte, zu verschweigen, aber das ist eine andere Geschichte.) Sie war es, die mir erklärte, dass die korrekte Bezeichnung für alle außer „uns“, dem weißen Normalfall, Farbige laute. Das muss um 1970 herum gewesen sein, der Sprachgebrauch hatte sich gerade geändert, das N-Wort war fortan tabu.

Namen, Bezeichnungen sind es, die alles in der Welt in Beziehung zu uns selbst setzen. Die Bloggerin und Autorin Kübra Gümüşay schreibt in ihrem Buch „Sprache und Sein“, dass es in der Sprache zwei Kategorien von Menschen gebe: die Benannten und die Unbenannten. „Die Unbenannten sind Menschen, deren Existenz nicht hinterfragt wird. Sie sind der Standard. Die Norm. Der Maßstab. Unbeschwert und frei laufen die Unbenannten durch das Museum der Sprache. Denn es ist für Menschen wie sie gemacht.“

Die Benennungen, die Schildchen in den Museen haben sich seit den 1970er Jahren geändert, sie ändern sich immer wieder. Dabei hält sich hartnäckig der Glaube, dass die jeweils letzte Lösung Teil eines wie auch immer gearteten Fortschritts sei.

Als ich zum ersten Mal die Abkürzung PoC hörte, wusste ich zunächst nicht, was es bedeutete. Die meisten meiner Nachbarn und der Leute, mit denen ich an der Ladenkasse oder sonst wo anstehe, wissen es wahrscheinlich bis heute nicht. Als mir die Sprecherin, eine Geisteswissenschaftlerin auf der Höhe der aktuellen Diskurse, nicht ohne eine gewisse herablassende Nachsicht die Bedeutung buchstabierte, People of Color, Person of Color, fühlte ich mich für einen Moment zurückversetzt in die koloniale Sprachwelt meiner Großmutter. Und in die 1970er Jahre. Nur dass es jetzt eben ein englischer Begriff war, in der Sprache der Wissenschaft, dem Latein von heute. Der Sprache der USA, eines Landes mit postkolonialer Hybridkultur, wo christliche, rassistische, emanzipatorische, idealistische, libertäre und reaktionäre Weltentwürfe aufeinanderprallen wie nirgendwo sonst. Aber wir, hier, sprechen doch nicht so, wende ich ein.

Es sei, erklären mir Studierende der Geisteswissenschaften wiederholt und zunehmend ungeduldig, nun einmal die selbstgewählte Bezeichnung der PoC. Die deshalb nunmehr gültige, richtige Bezeichnung. Die Benannten, um es mit Kübra Gümüşay zu sagen, benennen sich damit selbst.

Allerdings mit alten Worten, den Worten der Geschichte.

Neue Worte gibt es nicht. Das ist vermutlich im Hinblick auf jede Art von Machtverhältnis so, ob es nun Herkunft, Klasse oder Geschlecht betrifft. Die Worte sind alt, hierarchisch, verletzend.

Also PoC: Selbstbenennung, ohne Hierarchie und Verletzung. Selbstbenennung für alle: BPoC (Black and ­People of Color) und BIPoC (Black, Indigenous and People of Color). Jede ­Gruppe mit ihrer eigenen Kategorie, ihrem Schildchen im Museum der Sprache, an den Schaukästen, den Schubladen.

Selbst manche Studierende der Geisteswissenschaften brauchen einen Internetzugang, um sich der Korrektheit ihres Sprachgebrauchs zu versichern. „Schwarz wird großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein konstruiertes Zuordnungsmuster handelt und keine reelle ‚Eigenschaft‘, die auf die Farbe der Haut zurückzuführen ist“, heißt es bei Amnesty International.

Alltagstauglich sind diese Bezeichnungen nicht oder zumindest noch nicht. Dabei findet Rassismus, findet schmerzliche Normalitätshierarchie jeglicher Art im Alltag statt, impulsiv, unüberlegt. Das Gesicht unseres Tabakhändlers.

Die Befreiung wäre das Heraustreten aus der Kategorie des Nichtnormalen.

Die Schwulenbewegung hat das tatsächlich geschafft. Schwul war einmal ein so schlimmes Wort, dass wir es als Kinder (in den 1970er Jahren mal wieder) nicht in den Mund nehmen durften. Andersrum war schon weniger schlimm. Heute ist es ein Wort, das auch ein hochrangiger Politiker als Selbstbezeichnung benutzen kann, ohne dass es der Karriere schadet. Also ja: Verhältnisse ändern sich und Worte ändern ihre Bedeutung.

Kübra Gümüşay plädiert für gemeinsames Nachdenken. Bloß, wie denkt man gemeinsam? Mit welchen Worten formulieren wir unsere Gedanken, und zwar gemeinsam? Und wie hören und lesen wir sie dann?

Katharina Döblers Roman „Dein ist das Reich“ über deutsche Missionare in der Südsee erscheint am 3. Mai im Claassen Verlag, Berlin.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.03.2021, von Katharina Döbler