11.02.2021

Brief aus dem Wald

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Brief aus dem Wald

von Eva von Redecker

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Ich habe lange gebraucht, um mich ans Spazierengehen zu gewöhnen. Wer in der Landwirtschaft aufwächst, ist ohnehin ständig draußen und in Bewegung. Da muss man, wenn mal Ruhe ist, nicht noch in der Gegend herumlaufen. Der Vorgang des Spazierengehens kommt mir immer noch komisch vor – besonders in Gesellschaft. Denn die Mit-­Spa­zier­gän­ger:innen wollen ununterbrochen reden. Über Politik, Arbeit, ihr Leben, mein Leben. Wo bleibt da der Wald?

Wenn ich allein spazieren gehe, versuche ich es als Pirsch zu gestalten. Eine reine Pirsch, bis auf Weiteres ohne Jagdabsicht: Man spitzt die Ohren, schärft den Blick und vertieft sich in den Wald. Der Ruf des Eichelhähers verhallt, es wird stiller. Ich sehe ein Rudel Rehwild, bevor die Tiere mich erspäht haben, und halte beobachtend den Atem an, bis sie doch Wind kriegen von der Anwesenheit meines unvertrauten Körpers.

Eigentlich sollte ich gar nicht mehr hier sein in Brandenburg, sondern in Verona, wo ich seit Ende letzten Jahres Forschungs-Fellow bin. Mein Stipendiengehalt beziehe ich auch in Abwesenheit und habe mir als Erstes ein im Gefängnis verfasstes Werk angeschafft: Antonio Gramscis Gefängnishefte. Italienische Theorie, auch wenn die italienische Praxis noch warten muss. Der Kommunist und Gründer der italienischen KP, der in den 1920ern das Aufkommen des Faschismus direkt erlitten und scharf beobachtet hat, ist unverzichtbare Lektüre für mein Forschungsprojekt zur Theorie des autoritären Charakters.

Ich schlage eine andere und größere Runde um den Wald ein als sonst – unser pandemiebedingter Shutdown ist wahrhaftig kein echter Arrest. Mein Blick schweift durch die Baumwipfel. Es gibt seit einigen Jahren deutlich mehr Sturmschäden. Die Bäume werden durch Trockenheit krankheitsanfälliger. Nach dem dritten Dürrejahr in Folge füllt sich auch im Winter der Grundwasserspiegel nicht mehr auf. Der Temperaturanstieg verlängert zudem die Brutperiode des Borkenkäfers um einen zusätzlichen Zyklus, so dass die Bäume stärkeren Angriffen ausgesetzt sind. Und es gibt durch die Klimaveränderungen heftigere Winde aus ungewohnten Richtungen. Gebrechliches Holz, das lange im Windschatten stand, wird plötzlich umgerissen.

Meist fallen die Bäume im übermäßig dicht gepflanzten Wald nicht, sondern verhaken sich im Geäst der Nachbarn. „Hängende Bäume“ sind der Albtraum jedes Forstwirts. Jeder, der eine Unterweisung zum Motorsägengebrauch bekommen hat, kennt das Lehrvideo, in dem so ein unter Spannung stehender Stamm, an der falschen Stelle angesägt, plötzlich birst, hochschnellt und hundert Meter weiter einen anderen Waldarbeiter erschlägt. Meine Pirsch gilt nicht nur Fährten auf dem Boden. Ich schaue auch immer wieder hoch, ob etwas bedrohlich über meinem Kopf hängt, und wenn ja, ob es leise knackt und so Bewegung verrät.

Gramsci hat den Begriff des „Interregnums“ benutzt, um das Einfallstor des Faschismus zu erklären. Eine Zeit der Krise, die darin bestehe, dass das Alte stirbt, aber das Neue nicht zur Welt kommen kann. Während der Glaube an alles Hergebrachte bröckelt, nähere sich der politische Diskurs immer offener dem zynischen Konkurrenzkampf an, der die Wirtschaft regiere. So würden Gesellschaften anfällig für faschistische Todesbejahung. Gramscis schonungslose Diagnose ist zugleich von großer Zukunftsgewissheit getragen.

Die Richtung steht fest, die Vergangenheit zieht sich bereits zurück, es stockt nur mit dem Neuanfang. Vielleicht bleibt diese Vorstellung zu sehr am menschlichen Generationenwechsel orientiert. Vom Wald aus betrachtet kann die Zukunft keine sein, in der das tote Holz einfach verschwunden ist. Und das ist auch gut so. Der Wald braucht das tote Holz. Es wird langsam verstoffwechselt und in wertvolle, weiter zirkulierende Bestandteile zerlegt. Zumindest wenn das Insektensterben nicht wäre, das dazu führt, dass Totholz lange unverdaut und trocken am Boden liegen bleibt. Das erhöht wiederum die Waldbrandgefahr. Die Zukunft hängt also nicht nur davon ab, ob ihre Geburtswehen pünktlich einsetzen, sondern auch davon, welche Form das tote Alte in ihr einnimmt: Humus oder Hindernis?

An meiner neuen Spazierroute gibt es eine knorrige Eiche, in deren Krone sich ein toter Baum verfangen hat, dessen Stamm auf halber Höhe abgebrochen ist. Der zersplitterte Rumpf hängt auf vier Meter Höhe. Sein Anblick jagt mir selbst aus sicherer Entfernung einen Schauer über den Rücken. Irgendwann wird dieser Holztorso herunterkrachen wie ein Damoklesschwert. Nicht dass das dem Wald sonderlich schadete. Aber seiner Bewohnbarkeit.

Ich frage mich manchmal, wie wohl die Pandemie verlaufen wäre, wenn jeder neben der Pflicht zur häuslichen Isolation auch ein Stück Wald bekommen hätte: mit Baumhaus, Platz zum Abstandhalten und der großen Dosis immunsystemstärkender Enzyme, die man neuerer Forschung zufolge mit jedem Atemzug Waldluft einnimmt. Ich selbst empfinde große Dankbarkeit für mein Wohnen in Waldrandlage, aber ich weiß natürlich, dass die meisten Leute ihre Städte zurückwollen und nicht Robin Hood spielen möchten. Das „Recht auf Wald“ ist im Gegensatz zum „Recht auf Stadt“ ein Schlachtruf vormoderner Kämpfe, es wurde in der englischen Magna Carta von 1215 formuliert und in deutschsprachigen Gebieten 1525 von den Bau­ern­krie­ge­r:in­nen verlangt. Damals war „Recht auf Wald“ keine romantische Fantasie. „Recht auf Wald“ hieß „Recht auf alles“, denn Wald bedeutete Energieträger, Baustoff, Weidegrund und Speisekammer.

Letztes Jahr ist die Avantgarde des politischen Aktivismus tatsächlich in Baumhäuser gezogen. Nicht um sich aus dem Wald zu versorgen, sondern um den Wald zu schützen. Der Energiegewinnung und Infrastruktur der Gegenwart ist Wald vielerorts nur noch ein lästiges Hindernis. Die Be­set­ze­r:in­nen im Dannenröder Forst hingegen halten die geplante Verlängerung der A 49 für unnütz: ein nostalgisches, der Emissionsschleuderei verhaftetes Projekt, das der Mobilitätswende den Weg verstellt. „Recht auf Wald“ mag kein Kampf um die materiellen Grundgüter der Gegenwart sein, aber es ist einer um die Lebensgrundlagen der Zukunft. Man kann den Wald als Technologie begreifen, die unsere Atmosphäre vom Treibhausgas befreit. Jeder Baum arbeitet den katastrophalen Folgen der letzten zweihundert fossilen Jahre entgegen und sorgt dafür, dass wir auch künftig werden atmen können.

Ob Gramsci sich das hätte vorstellen können? Dass hundert Jahre nachdem er die KPI gründete, der revolu­tio­näre Antrieb darauf reduziert wäre, das Überleben auf dem Planeten zu sichern? Keine Parteiorganisation, keine Absicht, die industrielle Produktion zu übernehmen – stattdessen in vielen Facetten die Anklage gegen eine lebenszerstörende Gegenwart. Die Transparente der Wald­be­set­ze­r:in­nen forderten das Ende der Festung Europa und des Cis-Patriarchats und solidarisierten sich mit „Black Lives Matter“.

In seinen Heften exzerpierte Grams­ci kurz vor den Überlegungen zum Interregnum eine Formulierung des katalanischen Autors Eugénio D’Ors: „Es gibt zwei Arten zu töten: eine, die man direkt durch das Verb töten ausdrückt; die andere, die gewöhnlich hinter jenem delikaten Euphemismus überhört wird: ‚das Leben unmöglich machen‘.“ Man müsse also auch die indirekte Tötungsart aufdecken, die sich hinter der Formulierung „das Leben unmöglich machen“ verberge. Darin wiederum besteht die Stärke des aktuellen Widerstands.

Diejenigen, die wie vor hundert Jahren ihr eigenes Überleben in der aktiven Vernichtung anderer Gruppen sehen wollen, brauchen ihr Programm indessen kaum anzupassen. Der Faschismus ist ein kruder Todeskult geblieben, der das kapitalistische Konkurrenzdenken auf die Natur überträgt. Rechte hassen, was ihnen ihre Überlegenheitsfantasien und Abwertungsroutinen madig macht. Sie hassen inzwischen sogar Bäume. „I love Klimawandel“ kann man sich als Sticker neben den Auspuff kleben. Solche gereizten Haltungen, die verbreiteter sind, als wir uns im Glückstaumel der Trump-Abwahl eingestehen, markieren einen Besitzanspruch. Dieser Anspruch ist jedoch gegenstandslos. Und er kann Leben unmöglich machen: diese Leute wegschicken, jenen den Mund verbieten, Wald abholzen und Benzin verbrennen (siehe Beitrag auf Seite 23).

Die Zukunft hängt davon ab, in welcher Form das Alte anwesend bleibt. Und dennoch ist der Blick, der gebannt auf den gefährlich in der Luft hängenden Baumrumpf starrt, der einer bloßen Spaziergängerin. Wenn man sich wirklich in den Wald vertieft, muss man ihn von den Wurzeln her verstehen: ein Ort, an den die Bäume die in Zuckerlösung umgesetzte Sonnenenergie bringen. Diesen Ort bilden nicht die Wurzeln der einzelnen Bäume. Diesen Ort bildet das Netz zwischen ihnen, das Biologen manchmal das „Wood Wide Web“ nennen: ein dichtes Gewirr von Pilzfäden. Über diese Kanäle unterhält der Wald seinen Stoffaustausch. Die gedeihenden Bäume verteilen Nährstoff an jüngere oder angegriffene. Sie selbst erschließen dank der Symbiose mit dem Wurzelwerk der Pilze die Bodensalze besser, die Pilze werden vom Baumsaft genährt.

Das sieht man natürlich mit bloßem Auge auch bei konzentrierter Pirsch nicht. Aber manchmal hilft dieses Wissen, den Wald anders wahrzunehmen: nicht als Ansammlung von Bäumen – manche bedroht, andere bedrohlich –, sondern als Zusammenhang. Als würde sich die Luft zwischen den Stämmen in etwas anderes als Leere verwandeln, nämlich die bereits anwesende Zukunft.

Eva von Redecker ist Philosophin und MSCA-Fellow an der Universität Verona. Zuletzt erschien von ihr „Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen“, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2020.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.02.2021, von Eva von Redecker