07.01.2021

Brief aus Kiew

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Brief aus Kiew

von Yevgenia Belorusets

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Kiew in der Dämmerung an einem der vorweihnachtlichen Wochenenden. Die Quarantänemaßnahmen sind fast vollständig aufgehoben, der nächste harte Lockdown steht erst am 8. Januar bevor. Im Zentrum von Kiew sind nachts erste Knaller zu hören und, genauso laut, unbeholfen knallendes Gelächter, als würde ein vertrautes Feiertagsszenario unter den neuen Bedingungen wie ein auswendig gelerntes Gedicht wiederholt.

Die Jolka, der wichtigste Tannenbaum der Hauptstadt und sogar des ganzen Landes, soll an diesem Wochenende eingeweiht werden. In der postsowjetischen Tradition ist nicht mehr klar, wohin der Baum eigentlich gehört, zum früher atheistischen Neujahrsfeier am 31. Dezember oder zum orthodoxen Weihnachten am 7. Januar oder gleich zur westlichen Adventszeit. Trotzdem ein Ereignis, zu dem sich bis zur Revolution 2014 regelmäßig eine große Menschenmenge auf dem Maidan versammelte.

Nach der tragischen Eskalation der Proteste im Februar 2014 mit über 100 Toten zog die Jolka auf den nahegelegenen Sophienplatz um. Die Einweihung der Jolka ist auch ein Kinderfest, zu dem bis vor einigen Jahren auch Djed Moros, Väterchen Frost, und Snegurotschka, das Schneemädchen, auftraten. Sie erschienen auf einer Bühne, veranstalteten einige Spiele und verschwanden wieder, um sich in der Neujahrsnacht erneut zu zeigen.

Ihre zahlreichen Klone aber streunten wochenlang mit Fläschchen wärmenden Wodkas in den Taschen ihrer schmucken Gewänder über den Unabhängigkeitsplatz, auf der Suche nach Willfährigen, die sich mit ihnen für ein Paar Hrywnia fotografieren ließen. Manchmal veranstalteten diese Väterchen Frost kleine Streitigkeiten un­ter­ein­ander, im Geiste der Revierverteidigung, und die Szenen solcher epischen Straßenkämpfe, bei denen auch die weißen Bärte und roten Mützchen mitunter gelitten haben, konnten zufällige Zeugen in tiefes Erstaunen versetzen.

Die Proteste von 2014, die auch „Revolution der Würde“ genannt wurden, haben dann den Blick auf diese für jeden von Kindheit an so vertrauten Gestalten nüchtern werden lassen. In ihnen wurden fremde, vielleicht gar feindliche Einflüsse des kriegerischen Nachbarstaats erkannt. Im Lärm weitaus bedeutsamerer Ereignisse bemerkte niemand, wie Väterchen Frost und Snegurotschka nach und nach die Verkleidung wechselten. Sie wurden zu riesenköpfigen Tigern, Wölfen und Katzen und setzten als politisch neutrale Vertreter der Tierwelt ihre Betätigung fort.

Auch an diesem Wochenende scheint es, als würden die Menschenmengen „wie früher“ aus der Unterstadt vom Maidan durch die engen Straßen hinauf zum Sophienplatz strömen. Eine optische Täuschung: Es ist längst nicht so belebt wie sonst.

Die Anwesenden trinken Glühwein, fahren Karussell. Hinter mir höre ich kritische Bemerkungen. „Wie das Jahr, so die Tanne!“ und das rhetorische „Langsam reicht’s mal, das Volk zu betrügen?!“. Der Ausruf stammt von einem Mann mittleren Alters, er wendet sich an seine Begleiterinnen, zwei Frauen und ein kleines Mädchen, und deutet mit seiner dicklichen Hand in Richtung der leuchtenden Tanne und den Glühweinständen. Die Frauen nicken verständnisvoll und nippen am Glühwein. Das Mädchen betrachtet neugierig den Baum, auf der Suche nach Spuren des Betrugs.

Eigentlich entsteht in Kiew in den Tagen vor Silvester ein flüchtiges Gefühl der Gemeinschaftlichkeit auf den riesigen leeren Flächen im Stadt­zen­trum. Die Einsamen verbringen hier die Silvesternacht in einer bunten Menge, die sich wellenförmig bewegt. Es ist angenehm, darin zu schwimmen. Denn in gewissem Maß sind diese Wellen noch angereichert mit dem solidarischen Geist der Protestbewegungen, die in der Ukraine gewöhnlich in der kältesten Jahreszeit stattfinden. Man fühlt sich beschützt und sicher.

Doch in diesem Jahr spürt man inmitten der Menge Phantomschmerz. Etwas fehlt. Große Lücken klaffen auf dem Platz.

Die Nachrichtenlage dieser Tage ist eher melancholischer Natur. Streng wird Buch geführt über Korruptionsskandale. Über die jüngsten, aber auch über längst vergangene, die in ihrer Systematik wie hart gewordenes Brot im Zustand rätselhafter Unauflösbarkeit verharren.

Unter den beunruhigendsten Nachrichten: die zerstörte Reputation des ukrainischen Verfassungsgerichts und der Staatsanwaltschaft sowie verschiedener Präsidentenberater. In diesem Herbst hat das Verfassungsgericht den Antikorruptionsgesetzen widersprochen.

Die ursprüngliche Idee, einen Fernsehkomiker zum Präsidenten zu wählen, war mit der utopischen Hoffnung verbunden, den ernsten und traurigen Verlauf der Geschichte mit einer Komödie zu überspielen. So ein ungewöhnlicher und unberechenbarer Schritt würde die festen Pfade der Korruption zerstören. Jetzt, am Ende dieses besonders schweren Jahres, wird die Naivität dieser Erwartungen sichtbar, ein Gefühl der Hilflosigkeit macht sich breit.

Misstrauen, Ohnmacht und ungläubiges Staunen sind in der Ukraine erprobte Helfer bei der Geburt revolu­tio­närer Pläne. Ein halbes Jahr vor den ersten Maidan-Protesten, im Frühjahr 2013, als Präsidenten Janukowitsch sein Machtgefüge bereits zementiert hatte, hatten die Taxifahrer schon die Revolution vorausgesagt. Fahrgästen wie mir hatten sie ihre Bereitschaft mitgeteilt, das väterliche Gewehr zu nehmen, um endlich für Ordnung im ­Parlament zu sorgen: „Die Klugscheißer stellen wir an die Wand. Eine andere Sprache verstehen die nicht.“ Jetzt, einige Jahre später, höre ich im Taxi ähnlich vielversprechende Äußerungen.

Seit Anfang Dezember protestieren die Kleinunternehmer rund um die Uhr auf dem Maidan. Sie kommen aus der ganzen Ukraine und wechseln sich in Tag- und Nachtschicht ab, damit der Protest zu keiner Stunde abreißt. Ihre Forderungen richten sich gegen eine neue Steuerpolitik, die ab Dezember gelten sollte und die Kleinunternehmen, die es in der Quarantäne ohnehin schwer hatten, zusätzlich bedrohte. Es geht dabei auch um die Einführung von Kassen, die den ganzen Warenfluss bis ins kleinste Detail kontrollieren sollen und damit den Alltagsgegebenheiten der Ukraine überhaupt nicht gerecht werden.

Fast alle der Protestierenden sagen, dass sie kurz vor der Pleite stehen oder schon pleite sind. Bereits im Herbst hatten sie zu Tausenden demonstriert. Ohne Erfolg. Nun steht man in Wind und Regen zu ein paar Dutzend wie bei einen Mahnwache. Zahlreiche Medien stellten den Protest dar, als würden die Kleinunternehmer gegen den Lockdown protestieren – das eigentliche Thema, nämlich die neuen Steuergesetze, die Oligarchen und Großunternehmen bevorteilen, wird dabei ausgespart.

Zwei Männer mit Teleskopstange am Handy interviewen einen Mann mit Gehstock, einen der Organisatoren: „Und nun zu unserer wichtigsten Frage, sind Sie für oder gegen Impfungen?“ Mit solchen Mitteln werden heute die Proteste in der Ukraine diskreditiert.

Eine Frau aus Slowjansk, einem ehemaligen Kurort im Donbass, zieht ihre Kreise über den Platz. Eine OP-Maske im Gesicht, hält sie eine Fahne in die Höhe. Sie ist für eine 24-Stunden-Schicht zum Protest nach Kiew gereist, am frühen Morgen wird sie zurückfahren. Um nicht zu sehr zu frieren, bleibt sie immer in Bewegung, sogar ihr Mittagsessen hat sie im Gehen eingenommen.

Sie berichtet, dass sie ihren kleinen Laden in Slowjansk wird schließen müssen, dann beginnt sie plötzlich vom Krieg zu erzählen, vom Artilleriefeuer. „Mit dem Krieg konnten sie uns nicht kleinkriegen, jetzt wollen sie uns mit Armut bezwingen! Nein! Nein! Das schaffen sie nicht. Ich bleibe, ich gehe nicht weg, wir werden siegen, ganz sicher werden wir siegen!“

Unser Gespräch wird von einem Protestlied aus einem Lautsprecher übertönt, vermutlich speziell für diesen Anlass geschrieben. Ein erfrischender Chor singt im Erweckungsstil, dass Kleinunternehmer „das Salz der Erde“ seien, sie haben für die Maidan-Revolution gekämpft, für die Freiheit der Ukraine, und jetzt bleibe ihnen nur noch der Aufstand. Das nächste Lied, nicht weniger klangvoll, ist eine kurze Nacherzählung der ukrainischen Geschichte – auf Russisch mit vielen ukrainischen Zitaten.

Im Takt beginnen die Protestierenden zu hüpfen und zu tanzen, einige singen sogar laut mit, aber wegen der dicht ans Gesicht gedrückten Masken klingt es eher wie das rhythmische Geräusch alter Hupen.

Der Gesang wird von einem Redebeitrag des Mannes mit dem Stock unterbrochen. Eine kleine Gruppe soll sich als Abgesandte der Demo zur Einweihung des Weihnachtsbaums auf dem Sophienplatz auf den Weg machen. Sie soll Optimismus verbreiten und die Kiewer zur Solidarität mit ihrem Protest ermuntern. Die Politikerinnen und Politiker dort sollen aufgefordert werden, endlich die Kompromissvorschläge der Kleinunternehmer zu berücksichtigen. „Wir erwarten Geschenke unter dieser Jolka! Wir glauben daran!“, mit diesem optimistischen Schlusswort endet die Rede.

Ein Grüppchen beginnt sich zu formieren, hauptsächlich Frauen. Mir werden Tee und eine wärmende Decke angeboten. Die kleinen Hocker stehen im Kreis so dicht, dass man Schulter an Schulter sitzen kann. Dieser einsame Protest kämpft nicht nur gegen eine taube politische Maschine, sondern auch gegen die eigene plötzlich empfundene Marginalität. Die Marginalität, die in der globalen Pandemie jedes lokale politische Bestreben trifft.

Aus dem Russischen von Elke Bredereck

Yevgenia Belorusets ist Fotografin, Künstlerin und Schriftstellerin. Sie lebt in Kiew und Berlin.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.01.2021, von Yevgenia Belorusets