Karges Land und reicher Nutzen
Mobile Hirtenvölker ziehen mit ihren Nutztieren auch über die abgelegensten Weiden. Diese Wirtschaftsform, der Pastoralismus, ist ökonomisch bedeutend und klimafreundlich, aber auch stark bedroht.
von Ilse Köhler-Rollefson
Die Anfänge des Pastoralismus lassen sich über mehr als zehn Jahrtausende zurückverfolgen. Er entstand am Rande der frühesten festen Siedlungen im Nahen Osten. Vermutlich waren es Frauen, die zuerst Ziegen und Schafe domestizierten, indem sie mutterlose Jungtiere aufzogen. Später begannen Teile der Bevölkerung, den Herden zu saisonalen Weidegebieten in der Wüste zu folgen. Sie bildeten den Ursprung zahlreicher Hirtenkulturen, die seither mit ihren Nutztieren Produkte wie Fleisch, Milch, Wolle, Häute, Dünger und Brennstoff erzeugen.
Der Begriff Pastoralismus beschreibt eine ökonomische Tätigkeit und eine kulturelle Identität. Gemeint ist die häufig mobile und extensive Haltung von lokal angepassten Tieren auf natürlich gewachsenem Busch- und Grasland. Auf jedem Kontinent der Welt – vor allem in den trockensten, steilsten, kältesten und heißesten Gebieten – gibt es Hirtenvölker, die mit Herden von Alpakas, Kamelen, Rentieren, Rindern, Schafen, Wasserbüffeln, Yaks und Ziegen Gegenden der Erde bewirtschaften, die kaum anders genutzt werden können. Es handelt sich um mehr als 26 Millionen Quadratkilometer, das ist mehr als die summierte Fläche der USA, Chinas und der EU.
Trotz der häufig randständigen Produktionsflächen spielt Pastoralismus in vielen Ländern auch ökonomisch eine zentrale Rolle. In Burkina Faso werden mehr als 70 Prozent der Tiere in pastoralen Systemen gehalten, in Niger und im Tschad mehr als 80 Prozent, und im Sudan, in Tansania und in Somalia sogar über 90 Prozent. In Indien, dem Land mit der größten Zahl armer Nutztierhalterinnen und -halter, stammen mehr als die Hälfte der Milch und mehr als 70 Prozent des Fleisches aus pastoralen Systemen.
Geschätzt leben weltweit mehr als 200 Millionen Menschen als Pastoralistinnen und Pastoralisten. Die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) geht davon aus, dass etwa eine Milliarde Tiere in pastoralen Gesellschaften leben. In den ganzjährig trockenen und den von jährlichen Trockenzeiten geprägten Gebieten Afrikas und Asiens, aber auch in den Anden Südamerikas und der Arktis sind sie für die Ernährung und das Einkommen vieler Menschen von großer Bedeutung. Im nördlichen Sahel etwa ist Beides, Ernährung und Einkommen, bei den pastoralistisch Wirtschaftenden sicherer als bei den sesshaften Bäuerinnen und Bauern derselben Region.
Viele Pastoralistinnen und Pastoralisten nehmen für das Wohlergehen der Herden große Mühen und eine mobile Lebensweise mit wenigen materiellen Besitztümern auf sich. Entscheidungen über die Weideflächen und Wege basieren auf traditionellem Wissen und Erfahrungen mit Tierverhalten, Wetterverhältnissen und dem Nährwert der Vegetation. Wichtig sind auch soziale Netzwerke, die über viele Generationen aufgebaut wurden und Zugang zu bestimmten Weidegebieten ermöglichen.
Pastoralismus ist auch ökologisch von besonderer Bedeutung. So spielt der von Weidetieren in der Landschaft verteilte Dünger eine wichtige Rolle. Er erhält Insekten, die wiederum die Nahrung für Vögel, Amphibien und Reptilien sind. Außerdem ist das beweidete Grasland als natürlicher CO2-Speicher bedeutsam.
Bedroht wird die pastorale Lebensweise vor allem durch die zunehmende Fragmentierung ihrer Weidegründe. Mit steigender Nachfrage nach Agrarprodukten wurde seit etwa 2005 auf den wertvollsten Weideflächen viel in die industrielle Landwirtschaft investiert. In den seltensten Fällen haben Pastoralistinnen und Pastoralisten selbst ein Mitspracherecht, was mit ihren über viele Generationen genutzten Weideflächen passiert. Häufig reklamiert der Staat den Besitz der Ländereien für sich und entscheidet über Investitionen und Nutzung.
Dabei bräuchten die pastoralistisch Wirtschaftenden in Zeiten des Klimawandels möglichst vielfältige und zusätzliche Möglichkeiten, ihre Mobilität und ihre Weidekonzepte den sich verändernden Futter-, Wasser- und Wetterbedingungen anzupassen. Einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gehen davon aus, dass pastoralistisch lebende Bevölkerungsgruppen weltweit mit am stärksten durch den Klimawandel bedroht sind.
Neue Temperatur- und Niederschlagsverhältnisse verändern Futter und Wasservorräte, sie beeinflussen das Aufkommen von Krankheiten und die Reproduktionsleistung der Tiere und damit letztlich die Herdengröße. Der Rückgang der Tierzahlen wiederum wirkt sich auf die Ernährungssicherheit und das Einkommen der Menschen aus. Andere Fachleute halten ihre mobile Wirtschafts- und Lebensweise für besonders geeignet, um auf die Folgen des Klimawandels zu reagieren.
Pastoralismus erhält sowohl vonseiten der Wissenschaft als auch von UN-Organisationen wie der FAO immer mehr Zuspruch. Doch die politischen Rahmenbedingungen sind in vielen Ländern der Welt unzulänglich. Wenige Staaten erkennen pastoralistisch genutzte Weidegründe formell an und integrieren sie in ihre Politik zur ländlichen Entwicklung. Für Pastoralistinnen und Pastoralisten aber wären Landrechte, die eine gemeinschaftliche Nutzung stärken, und eine Förderung des Wissensaustausches zwischen den Beteiligten die besten Rezepte, um in Zeiten des Klimawandels weiter nachhaltig leben zu können.
Ilse Köhler-Rollefson ist Tierärztin und erforscht Pastoralismus und traditionelle Wurzeln der Tiermedizin in Indien, besonders die Kamelwirtschaft der Rabari.
Dieser Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem „Fleischatlas 2021“ (Hg. Heinrich-Böll-Stiftung, BUND und Le Monde diplomatique), der am 7. Januar 2021 erscheint. Texte und Grafiken stehen unter der freien Commons-Lizenz CC BY 4.0.
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