10.12.2020

Die schluchzende Supermacht

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Die schluchzende Supermacht

von Thomas Frank

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Für die USA ist das Zeitalter der Tränen angebrochen. Unsere Politiker weinen. Unsere Richter weinen. Unsere Fernsehkommentatorinnen weinen. Die Anhänger unterlegener Präsidentschaftskandidaten weinen. Die Anhängerinnen siegreicher Präsidentschaftskandidaten weinen. Sie twittern von Heulkrämpfen und schreiben Leitartikel über ihre Tränenorgien, die ihnen ein Politiker bereitet hat. Und hoffen, damit moralisch zu punkten.

Wenn’s passt, stellt man die Heulsusen aber auch mal bloß. Wer weint, ist schwach, meinen viele in dieser toughen Nation der Pioniere und Unternehmer und wenden sich angesichts solcher Infantilitäten mit Grausen ab. Videos vom Wahlabend 2016, die schluchzende Fans der geschlagenen Hillary Clinton zeigen, hatten in den Monaten danach auf Youtube Hochkonjunktur; Konservative ergötzten sich am Anblick von Idealisten mit College-Abschluss, deren Träume zerstoben waren. Die „Liberal tears“ wurden zu einem der großen Memes der Trump-Jahre. Der Slogan „Make Liberals cry again“ stand im Wahlkampf 2020 auf Plakaten vieler Trump-Wähler. Ein Hersteller von Waffenöl warb mit dem Spruch „I lube my rifles with li­beral tears“ (Ich schmiere meine Gewehre mit den Tränen der Liberalen).

Die Liberalen hatten natürlich nichts Besseres zu tun, als die schadenfrohen Angriffe zu theoretisieren und den Konservativen ein Persönlichkeitsdefizit zu bescheinigen. Der Slogan „Bringt sie zum Weinen“ würde gezielt „als Narrativ der Macht eingesetzt“, belehrte uns die Kolumnistin Monica Hesse in der Washington Post vom 5. November. Die Starken würden die vermeintlich Schwachen demütigen – „zum Spaß, und weil sie es können“.

Da stellt man sich doch lieber schützend vor eine politische Partei, die, alles andere als schwach, für den Wahlkampf viele, viele Millionen Dollar mehr als die so gemeinen Republikaner eingeworben und ausgegeben hat.

Damit nicht genug: Zehn Tage nach Hesses Kolumne prangte auf der Titelseite der Washington Post eine Karikatur von Donald Trump als Riesenbaby, das wegen seiner Niederlage gegen Joe Biden einen Tobsuchtsanfall kriegt. Die Post kümmerte es nicht, dass sie ihrer eigenen Kolumnistin widersprach; schließlich ist das Lachen über den Gegner parteiübergreifend ein beliebtes Hobby.

2012 gingen die Klicks für eine Webseite namens „Weiße trauern um [Mitt] Romney“ für kurze Zeit durch die Decke. Zu sehen waren dort Fotos von betrübten Republikanern, die am Wahlabend erleben mussten, wie ihr Spitzenmann gegen Barack Obama den Kürzeren zog.

In Wahrheit lachen beide Seiten gern über Loser; die Tränen ihrer eigenen Leute halten sie jedoch für handfeste Bekundungen echter politischer Gefühlsaufwallungen – und für schlagende Beweise weltanschaulicher Rechtschaffenheit. Präsident Trump erzählte bei öffentlichen Auftritten gern, wie eine Delegation Arbeiter (mal waren es Kohlenkumpel, mal Stahlarbeiter) in seiner Gegenwart hatte weinen müssen. Wenn das nicht zeigte, was für ein hammermäßiger Präsident er war!

Tränen der Wut, Tränen des Glücks

Diese republikanischen Gefühlsausbrüche waren aber nichts gegen den Strom an Glückstränen, die die landesweite Presse in den Nachwehen von Trumps Abwahl penibelst dokumentierte. In der New York Times erzählte die Schauspielerin Padma Lakshmi, bei der Wahl von Kamala Harris zur Vizepräsidentin habe sie eine mysteriöse „innere Hitze“ verspürt, die „in einer unkontrollierbaren Tränenflut“ aus ihr hervorbrach. Als sie Harris’ Siegesrede lauschte, habe sie „erneut geweint“, weil die Vizepräsidentin in spe vielen schwarzen und Frauen of Color „ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittle“.

Besonders beliebt, um die Tränen der Rechtschaffenheit zum Laufen zu bringen, ist es, inmitten der schmutzigen US-amerikanischen Mainstream-Politik kindliche Unschuld zu beschwören. Hier gebührt der Preis dem konservativen Richter Brett Kavanaugh, dessen Nominierung für den Obersten Gerichtshof vom Vorwurf sexueller Übergriffe überschattet wurde. Er begegnete den Vorwürfen unter anderem damit, dass er erzählte, seine Tochter, „die kleine Liza, gerade zehn Jahre alt“, wolle für die Anklägerin ihres Vaters beten. Zutiefst gerührt von seiner eigenen Schnurre heulte er los – unter den aufmerksamen Blicken der Nation.

Unvergesslich auch der Anblick des armen Van Jones, Ex-Revolutionär, nun CNN-Kommentator, der nach der Bekanntgabe von Joe Bidens Sieg in einer Livesendung fast zwei Minuten lang mit den Tränen kämpfte. Jones’ Gefühle waren verständlich („Es ist leichter, Eltern zu sein an diesem Morgen. Es ist leichter, seinen Kindern zu erklären, Charakter ist wichtig“), aber die Kamera schwenkte nicht woandershin, als er zu sprechen versuchte, sondern zog den peinlichen Moment mit Absicht in die Länge.

Weinen signalisiert in solchen Situationen eben Ehrlichkeit und Offenheit – der Körper selbst bezeugt es. Niemand würde es wagen, die Authentizität der Empfindungen eines weinenden Menschen infrage zu stellen, und nur darum geht es. Deshalb hält die Kamera drauf, wenn der Mascara zerfließt. Deshalb müssen die Amerikaner aber auch ab und zu daran erinnert werden, wie oft sie sich von der bloßen Zurschaustellung von Emotionen schon haben täuschen lassen.

In den 1980er und 1990er Jahren wurden Fernsehprediger, die theatralisch dicke, verlogene Tränen vergossen, zur Schande der Nation. Mit Tränen führten sie uns an der Nase herum. Bill Clinton, der sentimentalste Präsidenten unserer jüngsten Geschichte, konnte nach Belieben losflennen. Taktisches Weinen war eines der Werkzeuge aus seiner Trickkiste.

Fazit: Amerikanische Politiker weinen, weil weinen funktioniert. Tränen überzeugen. Man festigt damit seine moralische Position als Opfer, beweist seine Integrität, und besser noch, seine edle Gesinnung. Hillary Clinton, berühmt für ihre eiserne Konstitution, ist meines Wissens nur einmal vor Kameras weich geworden. Das war 2008, als sie nach einem langen Wahlkampftag gefragt wurde: „Wie machen Sie das? Wie bleiben Sie so optimistisch und so wunderbar?“ Erfahrene Clinton-Beobachter halten diesen für einen ihrer besten Momente.

Auch der herrische Trump ist keiner, der in der Öffentlichkeit weint. Dafür ist er schnell eingeschnappt, meckert und schmollt und gibt sogar zu, der „fantastischste Quengler der Na­tion“ zu sein: „Ich quengle so lange, bis ich gewinne“, brüstete er sich einmal bei CNN. Seine Klagen sind bodenlos, erbärmlich und endlos.

Donald Trump, Quengler der Nation

Bis spät in die Nacht twittert er, wie unfair die Medien ihn behandeln, wie böse Menschen ihm seine Wiederwahl stehlen und sogar seine eigene Regierung nicht versteht, dass er absolut im Recht ist. Es ist das Quengeln und Beschweren selbst, das Trump derart weit gebracht hat – und insofern ist er der mustergültige Vertreter einer konservativen Strömung, die die Doktrin vom Überleben des Stärkeren predigt, während sie heiße Zähren vergießt, weil die hinterhältigen Demokraten angeblich Weihnachten kaputtmachen wollen und das Fernsehen sich über die Werte der gottesfürchtigen einfachen Leute lustig mache.

Tränen stehen so sehr im Zentrum der US-amerikanischen Politik, dass sie das schlagendste aller Argumente in der politischen Auseinandersetzung sind. Sie machen ganz von selbst Schlagzeilen. Joe Biden, ein wohlbekannter Gefühlsdusel, gewann die Präsidentschaft nicht, weil er großartige Ideen gehabt hätte, sondern weil der Widerwille gegen den verhassten Donald Trump so stark war.

Die Republikaner machten derweil weiter mit ihren sinnlosen Kulturkriegen und ihrem rückwärtsgewandten Appell „Make America great again“. Keine der beiden Parteien hat vor, die Wall Street und Silicon Valley an die Kandare zu nehmen oder wieder eine Industrie in Pennsylvania und Michigan anzusiedeln. Der politische Diskurs ist zu gegenseitigen moralischen Schuldzuweisungen verkommen, und jeder darf mitmachen.

Männer mit geschulterten Sturmgewehren stilisieren sich als Opfer, und selbsternannte Ermittler fahnden im Internet, wer alles Privilegien genießt und respektlose Adjektive benutzt. Andere lächerlich zu machen und sich selbst zu beklagen, ist zum Kern unserer politischen Auseinandersetzung geworden, und das ist natürlich ein Grund zum Weinen. Wir weinen, weil wir das edelste und weil wir das schlechteste Volk sind; wir weinen, weil wir ausgeschlossen werden, und gleichzeitig, weil wir verfolgt werden; wir weinen, weil man uns schlecht behandelt, wir weinen, weil wir gewinnen, und schließlich weinen wir, weil wir nie das bekommen, was wir wollen.

Der polnische Dichter Tadeusz Ró­że­wicz, der Europas viele Katastrophen überlebt hat, nannte die USA einmal die „schluchzende Supermacht“. In seinem ironischen Gedicht mit diesem Titel beschreibt er die Amtseinführung George W. Bushs 2001. Die Bush-Jahre sollten Katastrophenjahre werden, aber die Eröffnungsszene war ein Fest zur Schau gestellter Gefühle – alle Anwesenden vergossen moralisch hochkarätige Tränen – und dann warfen sie sich in Schale und Cowboystiefel und begaben sich zu einer Weltklassevöllerei an einem üppigen Bankett.

Von außen mutet es wahrscheinlich seltsam an, dass die reichste und mächtigste Nation der Welt sich so sehr auf moralisches Gezeter und scheinheiliges Getue verlegt, beides in Millionen Liter Tränen mit hoher Oktanzahl getränkt. Besonders schmerzhaft ist das, wenn man bedenkt, dass jegliches Tun und Lassen der Vereinigten Staaten zwar enorme Konsequenzen für den Rest der Welt hat, aber die Tränen der anderen – also Ihre Tränen – nichts zählen. Ich empfinde Ihren Schmerz. Ehrlich. Ich weine.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Thomas Frank ist Journalist und Autor. Zuletzt erschienen: „The People, No. A Brief History of Anti-Populism“, New York (Metropolitan Books) 2020.

Le Monde diplomatique vom 10.12.2020, von Thomas Frank