12.11.2020

Tiefe Gräben

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Tiefe Gräben

von Serge Halimi

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Die französische Gesellschaft, die bereits mit einer Gesundheitskrise, mit ökologischen, ökonomischen und sozialen Problemen zu kämpfen hat, muss jetzt auch noch ein Trommelfeuer terroristischer Angriffe einstecken. Darum will man für den „Krieg“ mobilmachen. Wieder einmal. Aber weil der Feind häufig unauffindbar bleibt, erfordert seine Vernichtung jedes Mal noch mächtigere Waffen als beim Mal davor. Noch sind es keine Kanonen und Fallschirmjäger, aber weitere Einschränkungen der öffentlichen Freiheiten.

Uns wird gesagt, das alles sei nur vorübergehend; man werde die Einschränkungen wieder aufheben, sobald das Virus oder der Terrorismus besiegt ist, und dann kämen die glücklichen Tage zurück. Aber die glücklichen Tage kommen nicht zurück. Und unter einem solchen Regiment kann eine Gesellschaft zerbrechen.

In dieser Situation hat das Verbrechen eines fanatischen Islamisten, der im Glauben an eine in den so­zia­len Medien verbreitete Lüge einen ihm unbekannten Lehrer enthauptet hat, ein ganzes Volk entsetzt und erschüttert. Ein Tschetschene ohne enge Verbindung zu einer terroristischen Organisation, kaum Mitwisser, praktisch keine Unterstützung im Land: Zu anderen Zeiten wäre die Ermordung von Samuel Paty ­eine durch die Tat eines Geistesgestörten hervorgerufene Tragödie gewesen. Aber so ist sie ein Glied in einer Kette von islamistischen Terrorakten: 11. September, Bali, Madrid, Charlie Hebdo, Bataclan, und nun wieder Nizza …

Kaum dass die Nachricht vom Mord an Samuel Paty publik wurde, posaunten einige hinaus, in Sachen Überwachung und Repres­sion habe man „seit 30 Jahren nichts unternommen“. Um dann sogleich zu fordern, der Staat müsse außerordentliche Maßnahmen gegen Migranten und Muslime ergreifen.

Die Rechte spricht davon, die Verfassung zu ändern; der Innenminister sorgt sich wegen „Halal-Regalen“ in Supermärkten; Journalisten fordern, den Staatsrat, den Verfassungsrat, den Europäischen Gerichtshof zu entmachten, damit Festnahmen allein auf der Grundlage polizeilichen Ermessens nichts mehr im Wege steht. Dieselben Leute wollen „Hassreden“ in den sozia­len Netzen verbieten, ohne zu merken, dass sie genauso giftige Botschaften verbreiten, nur eben über die Nachrichtensender.

Das Entsetzen über den Mord an Samuel Paty hätte bewirken können, dass die Bevölkerung sich endlich geschlossen hinter die Lehrerinnen und Lehrer stellt, die eine Regierung nach der anderen zu einer haushaltspolitischen Manövriermasse degradiert und dem Druck der Eltern ausgeliefert hat. Stattdessen wird wieder vom „Kampf der Kulturen“ schwadroniert. Wenn man die verschiedenen Teile der französischen Gesellschaft – und zwar nicht nur die muslimischen Fundamentalisten oder die extreme Rechte – systematisch auf ihre „Community“ reduziert, auf ihre Familie, auf ihren Gott, dann werden die Gräben unvermeidlich noch tiefer. Gegen diesen teuflischen Mechanismus wurde tatsächlich seit 30 Jahren nichts unternommen.

⇥Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 12.11.2020, von Serge Halimi