12.11.2020

Brief aus Bogotá

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Brief aus Bogotá

von Sofía Cevallos

Proteste in Bogotá, 10. September LUISA GONZALEZ/reuters
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Es ist dunkle Nacht, die Uhr zeigt elf, an diesem 11. September. Ein gewaltiger Lärm, der die Fensterscheiben zum Zittern gebracht hat, hat mich am Einschlafen gehindert. In Panik liege ich da und versuche herauszufinden, was draußen los ist. Allmählich unterscheide ich Einzelheiten: Motorräder, viele, die beschleunigen, so dass die Motoren aufheulen. Und dumpf, wie im Hintergrund, Hilferufe.

Der Krawall der Motoren geht weiter, und auch die Schreie hören nicht auf. Meine Mitbewohnerin ist ebenfalls aufgewacht und steht neben mir im Zimmer, wir sehen uns an und fragen uns, was da draußen vor sich geht, wir müssten den Vorhang zurückziehen, um das herauszufinden, mit dem Risiko, dass sie uns sehen und wir am Ende eine zerbrochene Scheibe haben, wenn nicht Schlimmeres. Trotz unserer Angst öffnen wir den Vorhang.

Das Licht der Straßenlaternen fällt auf eine Gruppe junger Leute, die von Motorrädern eingekreist werden, fünfzehn oder mehr Maschinen sind es mit je zwei Polizisten darauf. Derjenige auf dem Sozius gehört zum Escuadrón Antidisturbios (Esmad). Diese gefürchtete Spezialeinheit zur Aufstandsbekämpfung der kolumbianischen Polizei war schon an mehreren Vorfällen beteiligt, bei denen Demonstranten ums Leben kamen.

Die Jugendlichen widersetzen sich ihrer Festnahme; das Aufbrüllen der Motoren und die Schreie der Bedrängten haben die gesamte Nachbarschaft geweckt, überall in den Wohnungen brennt jetzt Licht, alle Vorhänge sind aufgezogen. Mit lauten Rufen fordern die Leute an den Fenstern die Polizisten auf, die Jugendlichen zu verschonen. Die schreien immer wieder, dass sie nichts getan haben – nur demons­triert vor der kleinen mobilen Polizeistation der Comandos de Atención Imediata (CAI), die sich ein paar Kreuzungen entfernt befindet.

Die spontane Solidarität der Nachbarn trägt Früchte, die Motorradfahrer wagen es nicht, auf ihre „Gefangenen“ einzuprügeln oder ihnen Handschellen anzulegen, unter lauten Rufen aus den Wohnungen ziehen sie endlich ab. Erleichtert gehen wir wieder ins Bett.

Im Einschlafen rufe ich mir die jüngsten Vorfälle in Bogotá in Erinnerung. Zwei Tage zuvor, am 9. September, sind Tausende zu den über das ganze Stadtgebiet verteilten Standorten der CAI gezogen, haben „Mörder, Mörder!“ geschrien und Gerechtigkeit verlangt. Die Demonstrationen waren die Antwort auf die Ermordung des Familienvaters, Luftfahrtingenieurs und Jurastudenten Javier Ordoñez, der am späten Abend des 8. September ohne ersichtlichen Grund festgenommen und bis in die frühen Morgenstunden im Polizeigewahrsam so brutal geprügelt worden war, dass er an inneren Blutungen starb.

In dem Sturm, der daraufhin gegen die Polizeigewalt losbrach, entlud sich die jahrelang aufgestaute Wut angesichts Dutzender von Polizisten begangener Morde und Verbrechen. Plötzlich standen die Leute auf: gegen die sexuelle Gewalt gegen festgenommene Frauen auf Polizeirevieren, gegen die Komplizenschaft der Uniformierten mit den kriminellen Banden in den Armenvierteln, gegen die Ermordung eines jungen Sprayers, der mit Farbe seine Träume kundgetan hatte, oder eines anderen jungen Mannes, der mit Schüssen niedergestreckt wurde, weil er ohne Fahrschein gefahren war.

Den Kopf auf dem Kissen, kommt das alles zurück, und wieder packt mich das Grauen, als ich mich an die Schüsse in die Menge erinnere. Zwölf Demonstranten sind dabei gestorben und nicht weniger als 70 wurden verletzt; über hundert weitere erlitten Verletzungen von Schlagstöcken. In ihrer Wut zerstörte die zornige Menge mindestens 40 der CAI-Stationen und beschädigten 30 weitere. Die Bilder gingen noch während der Auseinandersetzungen durch die sozialen Netzwerke, was die Stadt zusätzlich in Aufruhr versetzte.

Der Schlaf überwältigt mich beinahe, aber die jüngste Gegenwart zieht immer noch an mir vorüber wie ein Film.

Kolumbien ist ein Land der Widersprüche, geprägt von wiederkehrenden Zyklen der Gewalt. Wir dachten, nach dem Friedensabkommen von Havanna im Juni 2016 würde die Gewalt abflauen, aber wir erlebten das Gegenteil: Bei der Volksbefragung über das Abkommen stimmte eine Mehrheit mit Nein, so dass im Laufe der folgenden Verhandlungen die Vereinbarung massiv beschnitten wurde. 236 Ex-Guerilleros der Farc, die sich wieder in die Gesellschaft hatten eingliedern wollen, wurden seither umgebracht. Schließlich hat sich ein Teil der am längsten bestehenden Guerilla der Welt wieder bewaffnet – obwohl es in dem nun wieder aufgenommenen Krieg keinen Sieg für sie geben kann.

Es ist das Gegenteil dessen, was wir gehofft hatten. Aber nicht nur das, die derzeitige Regierung hat die von ihrer Vorgängerin begonnenen Verhandlungen mit der anderen historisch verwurzelten und landesweit agierenden bewaffneten Gruppe, der ELN, abgebrochen. Die meint wieder mehr bewaffnete Operationen durchführen und Stärke demonstrieren zu müssen, um ihre Position für die Zukunft zu verbessern. In der Folge trauen sich nun auch wieder kleinere bewaffnete Gruppierungen, von Drogenhändlern bis zu hin zu Paramilitärs, aus der Deckung und werden in vielen Regionen aktiv. So nimmt das Blutvergießen im ganzen Land nie ein Ende.

Die neue Welle der Gewalt trifft vor allem die, die sich für eine humanere Gesellschaft einsetzen: Allein im Jahr 2020 wurden schon 47 Menschenrechtsaktivisten ermordet. Das sind jetzt unsere Friedenszeiten. Kolumbien verblutet, die Massaker werden immer brutaler, jeden Tag sterben Menschen aus politischen Gründen. Wenn Gewalt herrscht, wird Straflosigkeit zur Regel, Ermittlungen kommen nicht in Gang, Festnahmen erfolgen kaum; kurz: Gerechtigkeit gibt es nicht mehr.

Die Bilder ziehen durch meinen Kopf, als säße ich im Kino, sie lassen mich einfach nicht schlafen. Jetzt bin ich beim Drogenhandel, dem anderen gewichtigen Faktor für die Krise in meinem Land. Der Staat hat den Drogen den Krieg erklärt und zielt auf das schwächste Glied in diesem Geschäft: Die Kokabauern werden kriminalisiert, ihre Felder zerstört. Dem Drogenanbau fallen nach und nach tausende Hektar Wald und Dschungel zum Opfer, auch die Flüsse, durch Abholzung, um Platz für die Felder zu machen, und durch die Chemikalien, die bei der Weiterverarbeitung des Rohstoffs eingesetzt werden.

Es gibt immer mehr Festnahmen, weil immer mehr Kleinbauern an der Drogenproduktion beteiligt sind, und immer mehr Tote, die bei bewaffneten Einsätzen umkommen. Die Gesellschaft wird immer martialischer. Und die Korruption wächst, das geht so weit, dass in einigen Departements die Regierungen vollkommen unter der Kontrolle der Drogenkartelle sind.

Dieser seit 40 Jahren andauernde Krieg hat eine neue Schicht hervorgebracht, deren Einfluss wächst: die Lumpenbourgeoisie. Verbündet – jedenfalls zeitweilig – mit ihrer Vorgängerin, der alten Oligarchie, bringt sie Kleinbauern mit Waffengewalt dazu, ihre kleinen Ländereien aufzugeben, und genauso geht es den indigenen Gemeinschaften mit ihrem Land in Kollektiveigentum. Das bedeutet, dass inzwischen nicht nur 6 Millionen Hektar Land enteignet wurden, sondern auch fast 7 Millionen Menschen ihr Zuhause verloren haben. Sie leben heute in den Vorstädten von Cali, Medellín, Barranquilla und ­Bogotá.

Und dann: Kolumbien ist der wichtigste Verbündete der USA in unserem Teil der Welt. Hier ist die Basis für eine Vielzahl von Programmen, lokalen Programmen, aber die Absichten dahinter reichen sehr viel weiter. Früher war es der „Plan Colombia“, heute heißt er „Columbia crece“ („Kolumbien wächst“, auch bekannt als „Plan Colombia 3“), es ist ein Ableger von „América crece“.

Hinter diesen Plänen, die vordergründig Kolumbien im Kampf gegen den Drogenhandel unterstützen sollen, steht das Ziel der USA, die Zügel im eigenen Hinterhof wieder in die Hand zu bekommen, um wieder Boden zu gewinnen gegenüber China und Russland, die womöglich die Kontrolle in unserer Weltgegend übernehmen.

Es ist ein unschöner Traum, der mich da in den Morgenstunden dieses 12. September heimsucht. Ich wache irgendwann schweißgebadet auf, ich fühle mich, als hätte ich Fieber, und gleite zurück in einen Dämmerschlaf, wo der Film von Kolumbien und seinem fragwürdigen Frieden weiterläuft.

Ich sehe, wie die Vereinigten Staaten Soldaten nach Kolumbien verlegen, um ihre Waffenbrüder vor Ort zu unterstützen. Ich sehe die Konflikte, überall im Land, und den kleinen Funken, der sie wie trockenes Holz auflodern lässt, ich sehe die Flammen hochschlagen, ich sehe Menschen, die nach Frieden schreien, ihre Stimmen dringen an mein Ohr, und ich spüre ihre Angst. Und wache endlich auf aus diesem Albtraum.

Aus dem Spanischen von Stefanie Gerhold

Sofía Cevallos ist Grafikerin bei der kolumbianischen Ausgabe von Le Monde diplomatique.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.11.2020, von Sofía Cevallos