Post-Corona-Kapitalismus
von Robert Boyer
Ökonomen interessieren sich nur selten für die Prozesse, die jene Spielregeln, Institutionen und Organisationen hervorbringen, die in ihrem Zusammenspiel ein widerstandsfähiges Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ausmachen. Das zeigte zum Beispiel ihre Unfähigkeit, die lange Depression nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu verstehen.
Eine ähnliche Frage stellt sich heute, da die Volkswirtschaften aus dem Pandemiekoma erwachen: Wie lässt sich ein funktionierendes Wirtschaftssystem wiederaufbauen, wenn man nur unverbundene Einzelbestandteile vorfindet?
Mangels historischer Präzedenzfälle suchen die ideologischen Kontrahenten die Antwort in ihrem jeweiligen Werkzeugkasten. Die Arbeitgeber fordern die Senkung der Unternehmenssteuern, um den Aufschwung anzukurbeln. Linke Ökonomen und Politiker verlangen mehr soziale Gerechtigkeit mittels progressiver Besteuerung. Das grün-alternative Lager sieht die Chance einer „Stunde null“: Angesichts der Gefahr eines ökologischen Crashs sollte der ökonomische Schrumpfungsprozess fortgesetzt werden.
Um die Zukunft einzuschätzen, ist ein Rückblick auf die letzten zwei Jahrzehnte nützlich. Als die Pandemie Anfang 2020 ausbrach, litt die Konjunktur insgesamt noch immer unter den Spätfolgen der Finanzkrise. Daher kam die Rückkehr zu einer restriktiveren Geldpolitik nicht infrage; viele Zentralbanken setzten vielmehr ihre Nullzinspolitik fort, um die Konjunktur anzukurbeln. Das begünstigte wilde Spekulationsgeschäfte im Öl- und Rohstoffsektor. Mit dem Ergebnis wachsender Ungleichheit, steigender Kapitalerträge und immer mehr prekärer Arbeitsverhältnisse.
Dass ein Virus diese starke Dynamik stoppen könnte, war zu Beginn der Pandemie noch undenkbar. Die Gesundheitsexperten wussten zwar seit der Sars-Epidemie und dem H1N1-Virus, wie schnell sich Viren angesichts der rapide zunehmenden internationalen Mobilität ausbreiten können. Doch die Botschaft wurde nur in Asien vernommen, nicht aber in den USA oder in Europa. Dort sparten die Regierungen, um den Anstieg der Gesundheitskosten zu dämpfen, auch bei den Investitionen in die elementare Ausstattung zur Seuchenbekämpfung.
Da man die Voraussetzungen für eine effektive Seuchenbekämpfung – mit Test-, Nachverfolgungs- und Isolierungsmaßnahmen – nicht rechtzeitig geschaffen hatte, blieb angesichts rapide steigender Infektionszahlen nur der Griff zur Notbremse – zum Lockdown.
Die Entscheidung vieler Regierungen, die Rettung von Menschenleben über die Erfordernisse „der Wirtschaft“ zu stellen, stellte die neoliberale Wertehierarchie auf den Kopf. Die plötzliche Wende löste Entwicklungen mit weitreichenden Konsequenzen aus: wilde Schwankungen der Aktien- und Devisenkurse, den Absturz der Ölpreise, eine Kreditklemme, einen Konsumeinbruch und auch das Ende der orthodoxen Haushaltsdisziplin.
Manche Politiker und laienhafte Kommentatoren glaubten zunächst daran, das Coronavirus ließe sich dank wissenschaftlicher Fortschritte rasch zähmen. Damit ignorierten sie die Warnungen der Virologen, dass jedes Virus seine eigenen Merkmale hat, die erst mit seiner Verbreitung erforschbar werden. Weitreichende Entscheidungen mussten also in einer Situation extremer Unsicherheit getroffen werden. Doch wie kann man heute entscheiden, wenn man weiß, dass man nicht weiß, was man erst übermorgen wissen wird?
So trat an die Stelle rationalen wirtschaftlichen Kalkulierens ein mimetischer Konformismus: Gemeinsam irren ist besser als allein recht haben. Die Regierungen kupfern voneinander ab – auf Basis desselben Modells einer mutmaßlichen Pandemie-Entwicklung. Die Investoren beschränken sich – mangels aussagekräftiger Informationen über einzelne Anlageobjekte – auf Beteiligungen an Fonds, die Börsenindizes nachbilden. Und die Regierungen müssen neue beispiellose Maßnahmen ergreifen, was weitere Unsicherheit schafft, weil niemand weiß, „wie es ausgeht“.
Überwachungsgesellschaft oder globales Gemeinwohl
Mit der Entscheidung, die Wirtschaft praktisch auf null herunterzufahren, drohte den anfälligsten Unternehmen der Konkurs und den einkommensschwächsten Bevölkerungsschichten der Abstieg in die Armut. Deshalb wurden flankierende Hilfsmaßnahmen notwendig. Damit wurden alle Pläne, zu ausgeglichenen Staatsfinanzen zurückzukehren, zumindest vorübergehend hinfällig. Selbst auf EU-Ebene wurde die alte „Schäuble-Doktrin“ durch die Pandemie und die darauffolgende Panik abgeschafft.
Allerdings könnte es, wenn die Covid-19-Angst anhält, auch zu einem dauerhaften Bewusstseinswandel kommen. Wenn es in der Welt vernünftig zuginge, müsste das Streben nach körperlichem Wohlergehen zur wichtigsten gesellschaftlichen Triebkraft werden. Das ist freilich sehr optimistisch gedacht, denn das Virus hat nicht wirklich Tabula rasa gemacht.
„Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern“, lautete das Lebensmotto des aristokratischen Helden in Lampedusas Roman „Der Leopard“. Die Aussage gilt zumal für die Machtverteilung innerhalb der Gesellschaften und zwischen den Ländern. Covid-19 hat schon viele Verhaltensweisen geändert: Die Abstandsregeln beeinflussen die Konsumgewohnheiten; die Digitalisierung der Arbeitswelt wird beschleunigt; der internationale Personenverkehr ist längerfristig eingeschränkt; globale Wertschöpfungsketten zerbrechen, weil bestimme Staaten eine stärkere Autarkie bei der Produktion von strategischen Gütern anstreben.
Das Virus beschleunigt aber auch zwei Trends, die sich schon seit zehn Jahren abzeichnen. Zum einen setzt der digitale Kapitalismus, der auf der Verwertung aller abgreifbaren Informationen beruht, seinen weltweiten Vormarsch beschleunigt fort. Er hat in der Gesundheitskrise seine Macht bewiesen und dem E-Commerce Kunden zugetrieben. Er hat Homeschooling und das Arbeiten im Homeoffice ermöglicht. Und er lotet die Zukunftstrends in neuen Bereichen aus: selbstfahrende Autos, kommerzielle Nutzung des Weltraums und Telemedizin. Dieser invasive transnationale Kapitalismus geht aus der Gesundheitskrise gestärkt hervor. Darauf setzen auch die Investoren, um den Niedergang der traditionellen Wirtschaft zu kompensieren.
Der transnationale Kapitalismus bringt aber auch sein dialektisches Gegenstück hervor. In vielen kapitalistischen Systemen fordern die Verlierer der Wirtschaftsöffnung, dass der Nationalstaat seine Macht behauptet und auch im wirtschaftlichen Bereich einsetzt. Je mehr die Segnungen der Globalisierung verblassen, desto mehr Regierungen setzen auf ein staatskapitalistisches Programm. Wobei ihnen die Pandemie in die Karten spielt, insofern sie die Schutzfunktion der Grenzen bewusst macht.
Wie können zwei so unterschiedliche Systeme koexistieren? Die naheliegende Frage ist bei genauerer Betrachtung falsch gestellt. Denn beide Systeme befördern sich gegenseitig. Der globale Vormarsch des digitalen Kapitalismus verschärft die gesellschaftliche Polarisierung entlang einer Bruchlinie zwischen den Gruppen und Berufen, die von ihm profitieren, und den Verlierern, deren Lebensstandard stagniert oder sinkt. Auf diesem Humus gedeihen wiederum nationale Bewegungen, die fordern, dass der Staat sie vor der harten internationalen Konkurrenz schützt.
Paradoxerweise profitieren beide Spielarten des Kapitalismus von der Pandemie. Der transnationale Informationskapitalismus hat, gestützt auf seine Logistik, den E-Commerce wie die Telearbeit hervorgebracht. Beide Geschäftsmodelle beruhen auf dem Prinzip physischer Distanz. Die Kontaktbeschränkungen helfen den Digitalunternehmen, neue Kunden zu gewinnen und innovative Anwendungen im Bereich Medizin, Fernunterricht und Onlinekonferenzen zu entwickeln. Damit zählen der IT-Sektor und die Medizinforschung zu den wenigen Bereichen, die aus der Pandemie gestärkt hervorgehen.
Aber auch die „populistischen“ Regierungen profitieren von der Pandemie. Sie verweisen auf die Bedrohung durch ein eingeschlepptes Virus, um schärfere Grenzkontrollen, die Verteidigung der nationalen Souveränität und eine stärkere wirtschaftliche Rolle des Staats zu rechtfertigen. Dabei will der Staatskapitalismus nicht etwa mit dem transnationalen Kapitalismus konkurrieren, sondern nur seine wirtschaftliche Souveränität behaupten, ungeachtet der Folgen für den Lebensstandard.
Wenn allerdings mehr Arbeitsplätze wegbrechen, als in den Zukunftssektoren entstehen, könnten ungelöste soziale Konflikte mit voller Wucht wieder aufbrechen. Im Kapitalismus ist eine Gesellschaft nur überlebensfähig, wenn sie drei zentrale Bereiche durch Kompromisse regelt: die institutionelle Architektur, die Rahmenbedingungen der Kapitalakkumulation und die Kanalisierung des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit. Diese drei Aufgaben werden durch eine Polarisierung der Gesellschaften extrem erschwert.
Dabei ist es eine illusorische Vorstellung, innovative technische Verfahren könnten die Rolle der Politik bei der Findung neuer Kompromisse ersetzen. Aber welche Kräfte, die sich in der Post-Corona-Gesellschaften herausbilden, könnten zur Herausbildung neuer tragfähiger Strukturen beitragen? Wagen wir zwei Zukunftsvisionen.
Vision eins: Die Kombination digitaler Technologien mit Fortschritten in der biologischen Forschung bringt eine Überwachungsgesellschaft hervor, in der eine kleine Elite über die große, aber völlig einflusslose gesellschaftliche Mehrheit herrscht.
Vision zwei: Eine solche Gesellschaft wird am Ende zusammenbrechen, was den Weg in eine neue Zukunft eröffnen könnte – in eine auf dem Fundament des Sozialstaats ruhende Demokratie, die sich auch auf die Wirtschaft erstreckt.
Mit der Herausbildung einer solchen Demokratie in mehreren Ländern könnte am Ende auch ein neues internationales System entstehen, das auf die Produktion öffentlicher Güter und ein globales „Gemeinwohl“ orientiert ist.
Aus dem Französischen von Markus Greiß
Robert Boyer ist Volkswirt und Autor des Buchs „Les Capitalismes à l’épreuve de la pandémie“, Paris (La Découverte) 2020, das als Vorlage zu diesem Artikel gedient hat.