08.10.2020

Brief aus Jericho

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Brief aus Jericho

von Agnes Fazekas

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Es ist ein Klischee, dass Journalisten sich auf Taxifahrer berufen, wenn sie keine Protagonisten finden. Zu meiner Entschuldigung: Mahmud wollte mich partout nicht ziehen lassen. Kein Wunder, ich bin seit Tagen seine einzige Kundin, ja vielleicht die einzige Ausländerin in dieser Stadt.

Deswegen sitzen wir nun bei Orangenlimonade in seinem Wohnzimmer auf Plastikstühlen, und er herzt stolz seinen jüngsten Sohn. „Wie hell seine Haut ist!“, sagt er: „Wir anderen sind alle dunkel.“ Er meint seine Zwillinge, die in Schuluniform fernsehen, und seine Frau, die schüchtern „Hallo“ gesagt hat, um sich dann wieder in die Küche zurückzuziehen.

Die Palästinenser von Jericho seien ein eigener Schlag, heißt es im Westjordanland. Und das liege nicht nur an der Wüstensonne. Oder an dem beruhigenden Bromid, das vom Toten Meer herüberwabere. Die Uhren gingen hier einfach anders, 250 Meter unter dem Meeresspiegel.

50 Grad hatte es noch letzte Woche. Das halte man nur mit Klimaanlage aus, sagt Mahmud. Aber die jage die Stromrechnung schon mal auf 200 Euro hoch. Ein Grund, wieso er mit seiner Familie hierher ins Flüchtlingscamp vor der Stadt gezogen sei: In den Lagern werden Wasser und Strom gestellt.

Das Flüchtlingslager Akbar Dscha­ber, drei Kilometer südwestlich von Jericho, wurde für die Flüchtlinge von 1948 errichtet. Es ist längst ein Stadtteil, aber die Straßen sind staubiger, die Häuser nur provisorisch mit Lehm verputzt. Einzige Farbtupfer sind die pinkfarbenen Kaskaden der Bougainvilleen. Dafür zahlt man nur halb so viel Miete wie anderswo.

Die Arbeitslosigkeit ist hoch in Jericho. Wer nicht vom Tourismus lebt, arbeitet in den umliegenden israelischen Siedlungen. Wie Mahmuds Freund Murat. Der ist Bademeister am Strand des Toten Meers vor Jericho, der eigentlich den Palästinensern gehört, aber vom Kibbuz Kalya betrieben wird. Murat kann zwischen den Lockdowns, die mal auf israelischer, mal auf palästinensischer Seite gelten, immerhin Teilzeit arbeiten. Außerdem unterstützt ihn seine Frau, eine Jüdin aus Jerusalem, bei der er lebt. Die beiden haben sich am Strand verliebt.

Die Hoffnung auf die Welt da draußen und das Gefühl, von ihr vergessen zu sein liegen, nah beieinander in Jericho. Und das nicht nur in Zeiten der Pandemie. Was sich draußen abspielt, kommt im toten Winkel des West­jor­dan­lands nur zeitverzögert an – aber dann mit Wucht. Wie 1994, als Arafat ausgerechnet im verschlafenen „Ariha“ – so der arabische Name Jerichos – das erste Büro der Palästinensischen Autonomiebehörde eröffnete. Und die am tiefsten gelegene Stadt der Welt plötzlich träumen durfte, zum Nabel eines souveränen Palästinenserstaats zu werden.

Und wie im Juni dieses Jahres, als sich die Pandemie anfühlte wie ein Vorgeschmack auf die Apokalypse. Als selbst die gelassenen Einwohner Jerichos auf die Straße gingen, gegen Trumps sogenannten Peace-Plan. Mit der Annexion des Jordantals läge Jericho als Enklave in einem neuen Israel, vollends abgeschnitten von dem „souveränen“ Palästinenserstaat, den der Plan im Gegenzug verspricht.

Zwar hat Netanjahu die Annexionspläne vorerst aufgegeben, für den Frieden mit den Arabischen Emiraten. Aber wer weiß? „Netanjahu tut viel für gute Presse“, sagt Mahmud, als er mich in die Stadt fährt.

Die Straße vom Toten Meer in die Wüstenoase Jericho mit ihren 27 000 Einwohnern gleicht einem amerikanischen Highway. Vor der Stadt grüßt das übliche rote Schild. Es warnt jüdische Israelis, dass es nun nach Area A geht, in das der Palästinensischen Autonomiebehörde unterstehende Gebiet: „The Entrance For Israeli / Citizens Is Forbidden / Dangerous To Your Lives / And Is Against The Israeli Law.“ Stadtauswärts verabschiedet ein mehrspuriges rotes Coca-Cola-Banner die Besucherin.

Der palästinensische Traum setzt sich rechts der Straße fort, mit einem Luxushotel-Turm, der über Palmen trutzt. Und neuerdings einem gigantischen Wasserfreizeitpark. 13 Euro kostet der Eintritt, ein Zehntel von Mahmuds Miete. Links der Straße blickt man auf die tristen Fassaden des Flüchtlingslagers, gegenüber blitzen in der Sonne goldene Lettern: „Oasis“.

Das pompöse Schild des stillgelegten Kasinos erinnert schmerzhaft an die Hoffnung auf Autonomie – und Frieden. 92 Millionen US-Dollar soll das Kasino gekostet haben. Ein wahnwitziges erstes Projekt unter Beteiligung Israels, Jordaniens, der Palästinenser – und eines österreichischen Investors. In Israel ist Glücksspiel per Gesetz verboten. Im Westjordanland ist es nur für Muslime tabu. Zwei Jahre lang kamen täglich 2800 Besucher. Bis am 28. September 2000 die Zweite Intifada ausbrach und palästinensische Milizen aus dem Kasino auf israelische Soldaten feuerten, woraufhin diese ein Loch in die Fassade schossen. Später hieß es, dass Arafat das Kasino zur Geldwäsche genutzt habe.

Im selben Jahr wie das Oasis wurde auch die Seilbahn gebaut. Weil man der israelischen Seilbahn bei Masada am Toten Meer nicht durch mehr Steigung den Rang ablaufen konnte, wurde sie besonders flach gezogen und hält nun den Weltrekord für die längste Seilbahn unter dem Meeresspiegel.

Einst zog gerade Jerichos Weltvergessenheit Touristen an, zumindest im Winter: Hier hatten wohlhabende Palästinenser aus Jerusalem und Ramallah ihre Ferienhäuser. Der letzte Kaiser von Äthiopien machte hier Urlaub, der König von Jordanien und der Präsident von Ägypten. Die Offiziere der britischen Mandatstruppen wärmten sich in Jericho, und bis zu den Intifadas besuchten auch jüdische Ausflügler die Restaurants unter Palmen und Orangenbäumen.

Der palästinensische Schriftsteller Raja Shehadeh schrieb: „Essen, trinken und rauchen, die Besatzung und die Gerichtshöfe und die Gefahren des Alltags in den besetzen Gebieten weit hinter uns lassen, in den Bergen von Ramallah und Jerusalem. Hier in dieser flachen Oase spielte sich alles in einem anderen Tempo ab, und keine Soldaten belästigten uns oder kamen, um uns die Laune zu verderben.“

Doch als Mahmud mich ins Zen­trum kutschiert, fühlt es sich nicht an, als ob die Uhren anders tickten. Sie stehen still. Kein Feilschen an Obstständen. Nur ein alter Mann balanciert einen Beutel mit Kaktusfeigen auf dem Kopf. Dabei sollen Bananen aus Jericho süßer sein als anderswo, und die Datteln sowieso.

Bei meinem letzten Besuch wimmelte es von Bussen, die Christen aus aller Welt zum Berg der Versuchung karrten und palästinensischen Schulklassen, die durch die Ausgrabungsstätte des Hischam-Palasts geschleust wurden, bis sie endlich mit der Seilbahn auf den Berg fahren durften.

Das Einzige, was sich bewegt, sind die kirschroten Gondeln, die zum Kloster Qarantal hinaufschweben, das wie ein Wespennest im Berg hängt. Die Angestellten an der Kasse überschlagen sich fast, als ich eine Karte kaufe. Ob das Kloster geöffnet sei? Das müsse ich selber gucken.

„Privatfahrt“, grinst der Mann an der Gondel. Es trägt nicht gerade zu meinem Wohlbefinden bei. Bei meinem letzten Besuch fehlte eine Gondel, Resultat eines misslungenen Gags fürs palästinensische Fernsehen. Das Filmteam hatte einen Feuerwerkskörper an der Kabine gezündet und rechnete nicht damit, dass die Gondel in Flammen aufgehen würde. Die Insassen konnten sich nur retten, indem sie auf die benachbarte Seilbahnstütze kletterten.

Mir bricht der Schweiß aus, als die Seilbahn auf halbem Weg über Bananenplantagen und Zitronenhainen stehenbleibt. Erst als sie wieder losruckelt, wird mir klar, dass es sich um ­einen dramaturgischen Stopp handelt. Unter mir liegt die Grabungsstätte Tell es-Sultan. Dort wurde die älteste Steintreppe der Menschheit gefunden.

Oben im Restaurant zwitschern Kanarienvögel aus einem Käfig im Fels, ein Brunnen plätschert, die Stimme der libanesischen Sängerin Fairouz tropft schmelzend aus den Lautsprechern – und drei junge Kellner sitzen am Tresen, über ihre Smartphones gebeugt. Ob das Kloster geöffnet sei? Da müsse ich selber gucken … Ein paar Meter den Weg hinunter erreiche ich das Tor. Auf einem Schild steht: „Wir übernehmen keine Verantwortung für die Öffnungszeiten des Klosters.“ Das Tor ist verbarrikadiert.

Auf dem Rückweg ruft mich ein älterer Mann zu sich. Naman betreibt in den Höhlen neben dem Kloster einen Souvenirladen. „Der Mönch ist etwas eigenartig“, sagt er. Vater Gerasimus, der letzte Bewohner des Klosters, heißt es, sei immer noch nicht versöhnt mit dem Bau der Seilbahn.

Als einzige Besucherin in der Pflicht bewundere ich Namans Waren und kaufe ihm zwei Paar Ohrringe ab. Zum ersten Mal in seinem Leben wisse er nicht, wie es weitergehen soll, seufzt er. Die Lockdowns. Vor ein paar Wochen war es besonders absurd, als Israel die Checkpoints öffnete und die Autonomiebehörde gerade einen Lockdown ausgerufen hatte. 200 000 Palästinenser nutzten die seltene Chance und fuhren ans Meer nach Jaffa. „Israel kann sich das alles leisten“, sagt Naman. „Aber wir sind arm – und immer noch unter Besatzung.“

Als die Seilbahn auf halbem Weg nach unten wieder stoppt, sind die Gondeln bergauf besetzt. Frauen in Hidschabs mit großen Sonnenbrillen. Sie scheinen entzückt über die Aussicht. Vielleicht sind es arabische Israelinnen aus Galiläa, auf die Naman hofft, weil sie die Einzigen sind, die noch etwas Geld bei ihm lassen. Und die er fürchtet: weil sie, wie ich, das Virus aus Is­rael einschleppen könnten.

Die Hoffnung auf die Welt da draußen und das Gefühl, von ihr vergessen zu sein, sie liegen nah beieinander in Jericho.

Agnes Fazekas ist freie Journalistin in Tel Aviv.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.10.2020, von Agnes Fazekas