10.09.2020

Die Motoren des Stillstands

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Die Motoren des Stillstands

von Katharina Döbler

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Kurz vor dem Ersten Weltkrieg siedelte mein Großvater in die Kolonien der Deutschen Südsee über, wo er alsbald auf einem kleinen Archipel nahe Neupommern den Beruf des Missionars auszuüben begann. Die Einheimischen dort bewegten sich in Kanus mit Ausleger und Segel von Insel zu Insel, ihre Kinder erkannten Winde mit dem Atem und Wellen mit den Ohren, sie lernten gleichzeitig, die Füße zum Laufen und die Arme zum Paddeln zu benutzen.

Man kann diese ohne Metall gefertigten hochseetüchtigen Boote heute in ethnologischen Museen bestaunen. Zu den Booten gehörten Lieder, die zum Schlag der Ruder passten, zu bestimmten Wetterlagen, zum jeweiligen Seegang und Grund der Fahrt.

Mein Großvater hatte keinen Sinn für Gesang als Antriebsart; er stellte vor allem fest, dass diese Bootsreisen sehr lange dauerten. Zu lange für seine Zwecke. Er hatte schließlich sein Gebiet zu bearbeiten, und bei ungünstiger Witterung dauerte die Reise von der Missionsstation zur entferntesten Insel über eine Woche. Es kostete zu viel Zeit. Es kostete zu viel Kraft. Es kostete zu viel.

Nach ein paar Monaten schickte er einen Brief an seine Vorgesetzten in Deutschland mit der Bitte um ein Motorboot: In nur wenigen Stunden könne er damit jede Insel seines Missionsgebiets erreichen. An einem Sonntag wären dann statt einem zwei Gottesdienste möglich. Und überhaupt würde alles schneller gehen mit der Mis­sionsarbeit, bei der es explizit nicht nur um die Bekehrung der Heiden ging, sondern auch um das, was er und seine Kollegen die kulturelle Hebung der Eingeborenen nannten. Dass diese Hebung am besten mit Motoren bewerkstelligt wurde, schien nur folgerichtig.

Mein Großvater bekam sein Motorboot nicht, denn es war Krieg, der erste große motorisierte Krieg der Geschichte. Wie die anderen Weißen, wie die Kolonialbeamten, Pflanzer, Händler und Goldsucher raufte er sich die Haare angesichts der Langsamkeit, mit der sich die Einheimischen dieser Weltregion fortbewegten. Beziehungsweise eben nicht fortbewegten. Bei schlechtem Wetter, während größerer Regenperioden, fuhren sie nämlich nirgendwohin.

Für die Weißen war klar: Mit einer solchen Einstellung kann es nicht voran­gehen. Und vorangehen musste es. Oder, noch besser, aufwärtsgehen, es sollte ja die höhere Kulturstufe erklommen werden. Vorwärts, aufwärts, schneller: Fortschritt. Leute, die tagelang vor sich hin paddeln, und Boote, die wochenlang auf dem Stand liegen, bewirken das Gegenteil: Stillstand, und das seit mehreren tausend Jahren. Sie dagegen, die Kolonialisten, waren gekommen, um ihn zu beenden.

Die Triebfeder des Kolonialismus war der Aufbruch. Das Erste, was die Weißen nach der Unterwerfung der Einwohner in ihren Kolonien taten, war, das eroberte Gebiet zu „erschließen“. Das bedeutete Wege, Straßen, Häfen, Schiffe. Eisenbahnen. Motorfahrzeuge. Später Flugzeuge. Landnahme und Mobilität gehörten zusammen, aus wirtschaftlichen und militärischen Gründen, und so ist es noch.

Auch heute denkt niemand an Entwicklung, ohne Infrastruktur mitzudenken, Transportwege und effiziente Transportmittel für Waffen, Waren und Menschen.

Warum eigentlich lassen sich Menschen transportieren? Warum bewegen sie sich von Ort zu Ort? Was die Südseeinsulaner betraf, war die Sache klar, sie fuhren aufs Meer, um zu fischen, und sie reisten von Insel zu Insel, um so­zia­le Kontakte zu pflegen und Waren zu tauschen, was in ihrem Fall so ziemlich dasselbe war. Dass das alles so schnell wie möglich zu erledigen sei, war für sie ein abwegiger Gedanke.

Im Zeitalter des industriellen Fortschritts bewegen sich Menschen vor allem aus Gründen der Arbeit, des Konsums und der Erholung, wobei die beiden Letzteren zusammengenommen nichts anderes sind als Tourismus, die postmoderne Variante das Kolonialismus. Die Erschließung ehemaliger Kolonialgebiete für Vergnügungsreisende schafft dort Arbeit für die Einheimischen, die dann ihrerseits, so das Versprechen von Entwicklung und Fortschritt, konsumieren und irgendwohin fahren können, um sich zu erholen. Theoretisch. Praktisch wird der Kellner eines melanesischen Holiday Resorts kaum Urlaub in Europa machen können, aber das ist ein anderes Thema. Was zählt, ist das Versprechen der Mobilität: Fortschritt, das ist die Möglichkeit des schnellen Ortswechsels.

Das trifft nicht nur auf die einstigen Kolonien zu. Im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts war Reisen und Warentransport eine Mühsal, die meisten Menschen gingen zu Fuß. In seinem Buch „Als Deutschland noch nicht Deutschland war“ beschreibt Bruno Preisendörfer sehr anschaulich, wie es hierzulande vor 200 Jahren um die Mobilität bestellt war: schlecht.

Das ehrbare Volk war sesshaft und rührte sich nur von der Stelle, wenn die Not es dazu trieb, oder wenn es um Geschäfte oder Bildung ging, wie die Handwerksburschen auf der Walz. Zum Spaß reiste niemand, weil es kein Spaß war. Selbst Goethes berühmte Italienreise diente vor allem der Bildung – und der Flucht vor den heimatlichen Verhältnissen. Darin, im Eskapismus eines Privilegierten, deutete sich bereits an, was sich später zu einer Massenbewegung auswachsen sollte: der alljährliche Aufbruch in andere Länder und Gegenden auf der Suche nach einem anderen Leben, nach Abwechslung, Sonne und Glück, jedenfalls für ein paar Wochen.

Aber um 1800 liefen die Milchmägde am frühen Morgen mit ihren schweren Kannen noch stundenlang zu Fuß in die Stadt, damit die Bürger am Morgen ihr Frühstück hatten – nicht anders als die schwarzen Träger, die den Weißen in den Kolonien ihre Kisten mit Büchern und Porzellan durch den Urwald schleppten.

Transportfahrzeuge sind humaner und sie sind effizienter. Sie haben unser Leben so viel komfortabler gemacht. Sie haben es auch sehr viel schneller gemacht.

Mein Großvater brauchte einen Motor, weil er vor 100 Jahren die Langsamkeit als kulturellen Tiefstand begriff. Wir Heutigen initiieren jahrelange Bauarbeiten, verändern die Landschaft, bohren Tunnel und schlagen Brücken, um eine Bahnreise von A nach B zwanzig Minuten kürzer zu machen. Geschwindigkeit ist unsere implizite Definition von Fortschritt.

Der Mobilitätstheoretiker Paul Virilio (1932–2018) entwarf Ende der 1970er Jahre das Konzept der Dromologie, auf dessen Grundlage er Machtverhältnisse und Reichtum von Gesellschaften in Korrelation zur Geschwindigkeit analysierte. Er formulierte auch, was wir alle kennen: dass die allgemeine Beschleunigung ihr Paradox in sich trägt. Zigtausende Fahrzeuge mit hohem Geschwindigkeitspotenzial führen zum Stillstand. Wer das schnellste Verkehrsmittel, das Flugzeug, benutzt, verbringt einen großen Teil der Reisezeit zu Fuß in Warteschlangen. Und bei der Bahn führt die mindeste Panne zu Stillstand, weil die eng getakteten Zugbewegungen keine Dysfunktion vorsehen. Das 20. Jahrhundert hat uns den Massentourismus gebracht, das 21. Jahrhundert die Erfahrung, wie zerstörerisch er für ein Gemeinwesen sein kann.

Und dann kam diese neuartige Krankheit über die Welt. Die permanente Bewegung wurde jäh und gewaltsam angehalten. Flugzeuge blieben am Boden, Straßen leer. Stillstand. Es ging nicht mehr voran, es ging nicht aufwärts, es ging gar nicht mehr. Stärker als der Fortschrittsglaube ist nur die Angst. Das Wort der Stunde war: herunterfahren. Industrieproduktion, gleich die ganze Wirtschaft wurde heruntergefahren. Verkehr. Handel: heruntergefahren.

Das Motorboot schaukelte auf einmal in den Wellen. Wie still es plötzlich war. Man hörte das Meer. Die Passagiere des Fortschritts begannen nach vergessenen Paddeln zu kramen, entrollten trockene alte Segel und sangen auf den Balkonen. Niemand wusste, was das jetzt für eine Kulturstufe war. Die allerletzte womöglich, die oberste? Oder ein Absturz, die Treppe jahrhundertelangen Fortschritts hinunter? Es schien auch eine Chance zu sein, manche sprachen von entschleunigen. Es sei wohltuend, so schön ruhig.

Eine der bekanntesten Schriften Paul Virilios ist der Essay „Rasender Stillstand“ von 1990. Darin sagt er voraus, dass die Beschleunigung immer mehr zunehmen werde, bis die Geschwindigkeit den Raum völlig vernichtet. Der Gipfel der Mobilität sei die Virtualität. Während sich äußerlich nichts bewegt, rasen die Daten um den Globus. Noch sind wir nicht ganz in der Echtzeit angekommen, es gibt diese kleine Verzögerung bei Onlinekonferenzen, die wir Latenz zu nennen gelernt haben – letzter Überrest und Echo des Raums.

So wie der Außenbordmotor am Boot meines Großvaters die Muskelkraft und den Gesang beim Paddeln überflüssig machte, machten Videokonferenzen die Rituale physischer Treffen obsolet. Die stetige Vorwärts-Aufwärtsbewegung war damit nicht angehalten, sie verlagerte sich auf eine andere Ebene. Auf eine noch höhere Kulturstufe, hätten mein Großvater und seine Kollegen gesagt. Fortschritt sagen wir.

Dessen Logik wird durch eine Pandemie nicht aufgehoben, so wenig wie durch zwei Weltkriege, im Gegenteil. Fortschritt ist unser Glaube, jedenfalls der meisten von uns. Fortschritt bedeutet, dass alles irgendwie besser wird. Was genau das Bessere ist, erfährt immer wieder Umdeutungen. Weniger Flugverkehr, mehr virtuelle Kontakte. Mehr Klimafreundlichkeit. Aber wir wollen Forschung, Erkenntnis, Effizienz. Ein längeres, leichteres Leben. Wir wollen nicht paddeln. Wir warten auf einen Impfstoff. Es gibt keinen Stillstand.

Katharina Döblers Roman „Dein ist das Reich“ über deutsche Missionare in der Südsee wird im Frühjahr 2021 beim Claassen Verlag, Berlin, erscheinen.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.09.2020, von Katharina Döbler