10.09.2020

Endlich Gleichheit oder das Ende des Sozialstaats?

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Endlich Gleichheit oder das Ende des Sozialstaats?

Über die Probleme des bedingungslosen Grundeinkommens

von Branko Milanovic

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Die Furcht vor Massenarbeitslosigkeit hat dem Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) zu plötzlicher Popularität verholfen. Das BGE weist vier Merkmale auf: Es ist universell, das heißt, es würde jedem Bürger ein Einkommen garantieren; es ist bedingungslos, das heißt, die Bürger müssten keinerlei Voraussetzungen erfüllen, um es beziehen zu können; es ist eine Geldleistung; und es ist eine Einkommensquelle, das heißt ein konstanter Geldfluss statt einer einmaligen Beihilfe.

Das Konzept des BGE findet bei vielen Linken Zustimmung, weil es großzügig scheint und die Armut sowie möglicherweise die Ungleichheit verringern würde, wenn es ausreichend hoch angesetzt würde. Es scheint das Problem der Ungleichheit von unten nach oben zu lösen: Anstatt die höchsten Einkommen zu verringern, werden die niedrigsten angehoben. Und wenn die niedrigsten Einkommen auf ein ausreichend hohes Niveau steigen, geht dies mit relativ hohen Steuern für die Reichen einher, was wiederum die Einkommensungleichheit verringern wird.

Aber das Konzept findet auch auf der Rechten Zustimmung, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Es scheint eine Möglichkeit darzustellen, den endlosen Klagen über extrem hohe Einkommen und den Versuchen zur Begrenzung solcher Einkommen ein Ende zu setzen und die unablässigen Modifikationen des Steuer- und Transfersystems ein für alle Mal zu beenden. Wenn die Reichen einmal zugestimmt haben, alle Menschen ungeachtet ihrer Verdienste mit einem Einkommen zu versorgen, das für ein Leben in Würde genügt, kann die Ungleichheit so groß werden, wie der Markt und der monopolistische Wettbewerb erlauben. Die Rechten betrachten das BGE daher als Instrument, um hohe Einkommen zu maximieren und sie zugleich gesellschaftlich akzeptabel zu machen.

Wenn ein Vorhaben bei zwei Interessengruppen mit gegensätzlichen Zielen Zustimmung findet, so wird es mit Sicherheit mindestens eine der beiden Seiten und möglicherweise beide enttäuschen. Aber während über das BGE debattiert wird, können sich beide Seiten in dem Glauben wiegen, am Ende recht zu behalten, was bedeutet, dass das Konzept für beide Seiten seine politische Attraktivität nicht verlieren wird. Genau in dieser Situation befinden wir uns gegenwärtig.

Aber so verlockend das bedingungslose Grundeinkommen politisch auch sein mag: Es verursacht erhebliche Probleme, die seine Verwirklichung erschweren.

Erstens haben wir fast keine Erfahrung damit. Im World Development Report der Weltbank für das Jahr 2019, der im Wesentlichen der Automation und dem BGE gewidmet ist, werden nur zwei landesweite Experimente mit einem universellen Grundeinkommen genannt. Eines fand in der Mongolei statt, wo allen Bürgern zwei Jahre lang ein BGE von umgerechnet 16,50 Dollar im Monat ausgezahlt wurde, bis die für die Finanzierung verfügbaren Mittel erschöpft waren (die aus dem Verkauf von seltenen Erden stammten). Das andere wurde in Iran durchgeführt, wo Energiesubventionen durch eine Transferzahlung ersetzt wurden, von der 96 Prozent der Bevölkerung profitierten. Der Betrag lag bei 45 Dollar pro Person und Monat, und das Programm dauerte ein Jahr. Das ist alles.

Alle anderen Programme waren lächerlich klein. Finnland führte einen Versuch mit zweitausend Arbeitslosen durch, und das kalifornische Oakland experimentierte mit einem Grundeinkommen für hundert Familien. Da das Grundeinkommen im finnischen Experiment nur Arbeitslosen gewährt wurde, war es weder universell noch bedingungslos. Der US-Bundesstaat Alaska zahlt jedem Bürger jährlich eine Beihilfe, die mit den Erträgen eines Rohstofffonds finanziert wird. Aber diese einmalige Ausschüttung hängt von der Entwicklung des Fonds ab und stellt kein garantiertes monatliches Grundeinkommen dar, das die Lebenshaltungskosten decken soll.

Betrachtet man diese Erfahrungen in ihrer Gesamtheit, so verraten sie uns sehr wenig über Machbarkeit und Wirkung eines Grundeinkommens und haben nichts mit dem zu tun, was ein echtes BGE nach Ansicht seiner Befürworter leisten sollte: Es sollte ein universelles, nachhaltiges, „akzeptables“ Grundeinkommen für alle Bürger sein, das monatlich und (aus Sicht der Gesellschaft) unbegrenzt beziehungsweise (aus Sicht des Individuums) bis zum Tod gezahlt wird.

Nun ließe sich einwenden, die Tatsache, dass etwas nicht ausprobiert worden ist, sei kein Beleg dafür, dass es nicht funktionieren kann. Das ist ein berechtigter Einwand. Allerdings gibt es bisher auch keinen Beleg dafür, dass ein BGE tatsächlich funktionieren wird.

Es fehlt an Erfahrungen

Das zweite Problem sind die Kosten. Hier ist die Situation ein wenig komplexer. Es liegt auf der Hand, dass ein BGE aus finanziellen Gründen nicht neben allen anderen Programmen – von Kinderbeihilfen bis zur Berufsunfähigkeitsversicherung – laufen könnte. Die Frage ist also: Welche anderen Programme müssten in welchem Umfang gekürzt werden, wenn das BGE fiskalisch neutral sein soll? Es ist zweifellos möglich, ein BGE einzuführen, ohne das Steueraufkommen zu erhöhen; dazu müssten nur bestehende Programme aufgegeben oder gekürzt werden, und der ausgezahlte Barbetrag müsste auf einem geeigneten äquivalenten Niveau liegen.

Die Frage ist also, ob dieser Betrag hoch genug sein wird, um den Bürgern einen „angemessenen“ Lebensstandard zu garantieren. Die Linken würden sich von einem zu niedrigen Niveau nicht abschrecken lassen, sondern einfach Steuererhöhungen fordern. Sie zerbrechen sich nicht unbedingt den Kopf über die fiskalische Neutralität. Hingegen ist unklar, ob die Rechten mit einem derart kostspieligen Programm und entsprechend hohen Steuern einverstanden wären.

Das BGE müsste nicht nur über einen eingebauten Mechanismus zur Inflationsanpassung verfügen, sondern seine Höhe müsste auch an das reale BIP-Wachstum gekoppelt werden. Zum Beispiel könnte das Grundeinkommen alle zwei oder drei Jahre um einen dem prozentualen Anstieg des Pro-Kopf-BIPs entsprechenden Betrag erhöht werden.

Das dritte Problem ist philosophischer Art. Der in den reichen Ländern existierende Wohlfahrtsstaat wurde auf der Sozialversicherung aufgebaut. Das Prinzip der Sozialversicherung wurde als Rückgrat der Sozialdemokratie bezeichnet. Es sichert die Bürger (in einigen Fällen nur die Beschäftigten) gegen vorhersehbare Notsituationen ab, die ihnen eine Erwerbstätigkeit unmöglich machen, und erhält ihren Lebensstandard. Es versichert die Menschen gegen Krankheit und Behinderung, gegen Einkommenseinbußen durch Schwangerschaft und Kinderpflege, gegen Armut im Alter und gegen den Verlust des Arbeitsplatzes.

Es muss „sozial“, das heißt universell sein, um jene Art von Selbstselek­tion zu vermeiden, die das System finanziell untragbar machen würde: Wenn diejenigen, die das Risiko der Arbeitslosigkeit für sich selbst als gering einschätzen, selbst entscheiden können, nicht in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen, dann werden schließlich nur noch die Personen Beiträge leisten, die ein hohes Risiko tragen. In der Folge würden die Versicherungsbeiträge um ein Vielfaches steigen. Deshalb sind Universalismus und Umverteilung feste Bestandteile des Systems. Außerdem sieht das System für jene, die trotz der Sozialversicherung noch immer kein ausreichendes Einkommen haben, bedarfsorientierte Sozialhilfeleistungen vor, die anders als die allgemeine Sozialversicherung eindeutig der Armutsvermeidung dienen.

Mit der Einführung eines universellen bedingungslosen Grundeinkommens würde das Prinzip aufgegeben, auf dem der heutige Wohlfahrtsstaat beruht. Das bedingungslose Grundeinkommen versichert die Bürger nicht gegen Risiken, sondern es ignoriert die Risiken vollkommen. Es verteilt das Geld zu gleichen Teilen an alle Menschen, wobei die Wohlhabenden das bezogene Grundeinkommen durch die Steuern wieder zurückgeben.

Eine neue Philosophie des Wohlfahrtssystems

Das ist nicht zwangsläufig ein entscheidendes Argument gegen das BGE. Die Philosophie, auf der ein Wohlfahrtssystem beruht, kann geändert werden, und unter Umständen kann das ratsam sein. Es muss uns jedoch klar sein, dass die Abkehr vom gegenwärtigen Sozialversicherungssystem und der Übergang zum bedingungslosen Grundeinkommen nicht einfach eine technische und finanzielle Veränderung wäre, sondern eine umfassende Neuformulierung der Philosophie erfordern würde, die den Wohlfahrtsstaat seit mehr als einem Jahrhundert prägt.

Das vierte Problem ist ebenfalls philosophischer Natur, betrifft jedoch die übergeordnete Frage, welche gesellschaftliche Entwicklung mit der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in Gang gesetzt würde. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Linke und Rechte offenbar ganz unterschiedliche Vorstellungen von der Gesellschaft haben, die mit einem BGE entstehen würde: Die Linken glauben, es werde den höchsten Einkommen Grenzen setzen und die Ungleichheit verringern; die Rechten sind überzeugt, es werde genau das Gegenteil bewirken.

Außerdem wissen wir nicht, welche Auswirkungen das BGE auf die Bereitschaft der Menschen haben würde, nach Jobs zu suchen und zu arbeiten. Einerseits sollte sich die regelmäßige Zahlung eines feststehenden Geldbetrags nicht auf die Entscheidungen über die Arbeit auswirken. Andererseits könnte das höhere Einkommen, das man verglichen mit überhaupt keinem Einkommen oder Sozialhilfe erhalten wird, den betroffenen Personen einen Anreiz geben, ihre Freizeit zu erhöhen, das heißt, weniger zu arbeiten.

Es ist möglich, dass die Wirkung des BGE auf die Arbeit insgesamt gering wäre, aber es besteht auch die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Polarisierung, wenn sich zum Beispiel 20 Prozent der Erwerbsbevölkerung entschließen, überhaupt nicht zu arbeiten. Zu denen, die sich entscheiden, nicht zu arbeiten, weil ihnen das Grundeinkommen genügt, kommen noch jene hinzu, die nicht arbeiten müssen, weil sie aufgrund eines geerbten Vermögens ein hohes Kapitaleinkommen beziehen.

So entstünde eine dreigeteilte Gesellschaft, in der jene am unteren Ende der Einkommensverteilung und viele derer an der Spitze überhaupt nicht mehr arbeiten würden, während es die Mittelschicht sehr wohl tun würde. Wäre eine solche Gesellschaft, in der die Arbeit nicht als etwas an sich Wertvolles und Wünschenswertes betrachtet würde und in der vielleicht ein Drittel der jungen Menschen nicht erwerbstätig wäre, eine gute Gesellschaft?

Mit diesen Fragen müssen wir uns beschäftigen, bevor wir uns für oder gegen das bedingungslose Grundeinkommen entscheiden. Keiner der zuvor genannten Einwände ist an sich ausreichend, um die Idee zu verwerfen; diese Probleme könnten allesamt gelöst, umgangen oder vielleicht als unwahrscheinlich ausgeschlossen werden. Aber in ihrer Gesamtheit sollten sie uns dazu veranlassen, gründlich darüber nachzudenken, ob es ratsam ist, das bedingungslose Grundeinkommen einzuführen.

Branko Milanović ist ein serbisch-US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler. Der vorliegende Text ist ein Vorabdruck aus seinem neuen Buch, das am 14. September erscheint: „Kapitalismus global. Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht“, aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Berlin (Suhrkamp) 2020. Wir danken dem Verlag für die Abdruckgenehmigung.

Le Monde diplomatique vom 10.09.2020, von Branko Milanovic